Zeitenspiegel Reportagen

Wettlauf gegen die Kälte

Erschienen in "Menschen", 16. Dezember 2013

Von Fotograf Sascha Montag und Autor Jan Rübel

Der Winter ist für Obdachlose die härteste Jahreszeit. Damit Minusgrade keine Leben kosten, ist das Team der Berliner Stadtmission jede Nacht mit seinem Kältebus unterwegs.

Als es im Unterholz plötzlich raschelt, horcht Dieter auf. „Da kommt mein Haustier“, flüstert er und greift zu einer Plastiktüte. In der Dunkelheit schleicht ein Fuchs. Dieter wirft Kekse auf den Boden. „Für den sorgen wir.“ Und für Dieter und Sabine, die Bewohner der einzigen Parkbank mit Wellblechdach an der Turmstraße in Berlin-Moabit, sorgt die Stadt. „Vom Bäcker kriegen wir täglich Brötchen und Kaffee“, sagt Dieter, 57. Das Paar ist bekannt im Kiez, „man steckt uns genug zu“, sagt Sabine, 47. Wenn nur die Kälte nicht wäre.

Ihre Hände umklammern den heißen Tee, den Susannah Krügener ihnen eingeschenkt hat. Auch die beiden neuen Schlafsäcke können sie gut gebrauchen, es sind vier Grad Celsius unter Null. Genug, um den Frost langsam in die Glieder ziehen zu lassen. „Dann bis morgen“, verabschiedet sich Susannah Krügener und eilt mit ihrer Helferin Maja Schulze zum Mercedes Vitro. Der Kleinbus verschwindet in den Straßen von Berlin.

Es ist 22 Uhr. Susanna Krügener, 43, evangelische Theologin, früher auch mal Fitnesstrainerin und Journalistin, steuert den nächtlichen Kältebus der Stadtmission. Von Anfang November bis Ende März fährt er durch die Hauptstadt, um Obdachlosen einen Transfer in eine Notunterkunft anzubieten. Oder, wer draußen bleiben will, Warmes zu bringen. Kälte kann töten. „Sabine und Dieter braucht man eigentlich nicht mehr fragen“, sagt Susannah Krügener, „die leben seit vielen Jahren auf der Straße und wollen da nicht weg.“ Dieter hatte versucht zu erklären, wie es zum Leben im Freien gekommen war, die Sätze gewrungen wie einen nassen Lappen. Hatte von ihren ehemaligen Partnern gesprochen, die sich von ihnen getrennt hätten, und aus den Wohnungen hätte man raus gemusst. Wir verstanden ihn nicht. „Außerdem“, hatte Dieter zum Abschied gesagt, „hat Sabine früher schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht, in so eine Notunterkunft geht sie nicht hinein. Ich bleibe bei ihr.“

Wie viele Obdachlose in Berlin leben, weiß man nicht. Statistiken erfassen sie nicht. Immer wieder kommt es vor, dass Obdachlose ein Krankenhaus mit einer verschleppten Erkältung aufsuchen – und dort dann binnen wenigen Tagen sterben. Als „Kältetote“ vermerken die Akten sie nicht. Als 1994 ein Mann in einer Berliner Winternacht erfror, weil er es nicht zur Notunterkunft schaffte, waren die Mitarbeiter der Stadtmission entsetzt. Man müsse selbst raus, meinten sie, nicht nur Herberge sein, sondern reinholen. Schon in der nächsten Nacht fuhr ein VW-Bus los. Doch das mit dem Reinholen ist oft nicht leicht.

Vor einem Supermarkt hockt ein Mann, vielleicht Mitte 20. Sein Gesicht, wie von Schmerz verzerrt, macht ihn alt. In einen Schlafsack hat er sich gezwängt und darüber eine Decke gewickelt. Der Supermarkt hat noch bis Mitternacht geöffnet, er hält den Passanten die rechte Handfläche hin. Susannah Krügener hockt sich zu ihm, drückt die Hand – ein Schnellcheck der Körpertemperatur.

„Willst du mitkommen? Wir können Dich zu einer Unterkunft fahren?“

Der Mann schaut sie an. Denkt nach. Schüttelt den Kopf. Susannah Krügener wartet eine Minute, hofft, dass er sich anders entscheidet. Und reicht schließlich drei Schokoriegel. „Die sind gut in der Hand zu halten, besser als Kekse“, erklärt sie auf dem Weg zurück zum Bus.

61 Kilometer wird der Wagen in dieser Nacht quer durch Berlin zurücklegen, dirigiert durch zwölf Anrufe, meist von besorgten Passanten, die auf dem Weg Nachhaus auf Obdachlose in Eingängen stoßen. Und die oft nicht verstehen, dass der Kältebus nicht sofort um die Ecke gebogen kommt; neben dem Mercedes Vitro der Stadtmission liest noch ein zweiter, der „Wärmebus“ des Deutschen Roten Kreuzes, Obdachlose auf der Straße auf. Über 14.000 Straßen verlaufen durch Berlin. „Ist der Mann ansprechbar?“, fragt Helferin Maja Schulze, 40, eine Anruferin aus Kreuzberg, als der Vitro durch Charlottenburg fährt. „Möchte er denn mitkommen?“ Das Duo will nicht umsonst die Route ändern. Viele Obdachlose meiden die Notunterkunft, weil sie zu viel Gepäck haben, aus Angst vor Gewalt, Diebstahl oder Ansteckung; auch manche Restriktion der Unterkünfte schreckt ab. „Und man ist stolz aufs Durchhalten“, sagt Susannah Krügener. „Der Gang in eine Notunterkunft erscheint Manchen wie eine Kapitulation, der letzte Rest Selbstständigkeit weicht dann.“ Manche sterben aus Stolz.

In der vergangenen Saison hat der Kältebus 700 Kunden aufgelesen, wie Susannah Krügener die Obdachlosen nennt. Ihr schmales Gesicht mit den dunklen Augen flackert im Gegenlicht eines Autos auf. „Wir können zumeist nur begleiten. So ist das.“ Die zierliche gebürtige Berlinerin absolvierte bei der Stadtmission ein Praktikum, als man ihr vor wenigen Wochen den Fahrerjob anbot. Es scheint Jahre her zu sein, schnell taucht man in dieses andere Berlin ein, in seine dunkle Seite. „Das Gehalt kann unsere Familie gut gebrauchen. Und im Job treffe ich auf Menschen, die eine echte Herausforderung sind. So erfahre ich mehr über mich.“

Der Bus hält an einem Bürgeramt irgendwo in Berlin. Tagsüber wird hier das öffentliche Leben geregelt. Nachts ziehen sich in dessen Schatten Jene zurück, die aus diesen Regeln heraus gefallen sind. „Das ist ein Treffpunkt für Heroinkranke“, sagt Susannah Krügener und leuchtet mit einer Taschenlampe in den schwarzen Tunnel. Gemurmel. Die Zuflucht aber verlässt niemand.

Wieder ein Anruf. Auf nach Friedrichshain. Es ist ein Uhr, nur mit Sweatshirt und Lederjacke bekleidet liegt ein Mittfünfziger auf der Straße; ein Krankenwagen ist auch schon da. „Was is det denn für’n Uffstand“, lallt der Mann. Er hat ein Zuhause. Weiß aber nicht, wo er ist. „Können Sie laufen?“, fragt der Sanitäter. Der Mann schafft fünf Meter, dann torkelt er gegen eine Straßenlaterne. Ins Krankenhaus muss er aber nicht. Susannah Krügener schaltet die Navi ein, als der Mann mit Totenkopfmustern auf der Jacke seine Adresse nennt, wie auswendig gelernt. Er wohnt in der Nebenstraße, der Kältebus nimmt ihn die 200 Meter mit. „Nicht auf die Klingeln drücken“, ruft ihm Maja Schulze am Hauseingang nach.

Dann füllt sich der Vitro doch noch. Kurz vor drei meldet sich eine Funkstreife der Polizei. Kurt, ein alter Kunde der Stadtmission, wurde im Automatenvorraum einer Bankfiliale aufgelesen. „Wir haben eigentlich gar kein Problem damit, dass er sich dort aufwärmt“, sagt der junge Beamte. Aber der private Wachschutz hatte die Polizei verständigt – nun ist der Kältebus an der Reihe, Kurt will in die Notunterkunft der Stadtmission am Berliner Hauptbahnhof. Seit 20 Jahren lebt er ohne eigenes Dach überm Kopf. Wie alt er ist? Er schüttelt den Vollbart, das fällt ihm gerade nicht ein. Im Rückraum verbreitet sich süßer Duft von Kartonwein. Alkohol darf nicht mit in die Herberge, Kurt nimmt noch einen tiefen Schluck. „Nicht so schnell, junge Frau“, sagt er zu Susannah Krügener, „ich kleckere noch mit dem feinen Zeug“. Sie dreht Musik auf. „Take me home, West Virginia“, singt John Denver.

Langsam rollt der Wagen die Auffahrt der Stadtmission hoch. Der Eingang zur Notunterkunft liegt ein Dutzend Treppenstufen hinab. Eine Metalltür kräht, stickige Wärme steigt entgegen. Der sich anschließende Saal ist voller Menschen, auf Matratzen oder Bänken. 66 Plätze hier sind finanziert, weit über hundert sind es heute. „Besser als draußen allemal“, brummt Kurt und verzieht sich in eine Ecke. Susannah Krügener gähnt. Es ist halbvier, sie wischt mit Desinfektionstüchern die Rückbank. Schließlich lässt sie die Seitentür mit einem satten Schnapp einrasten. Die Arbeitsschicht liegt hinter ihr. Morgen Abend geht es weiter, wieder zu Sabine und Dieter und den vielen anderen Stationen ihrer nächtlichen Route durch Berlin.