Zeitenspiegel Reportagen

Widerstand im Wald

Erschienen in "natur", Nr. 1/21

Von Fotograf Frank Schultze und Autorin Jelca Kollatsch

Durch den Dannenröder Forst soll eine Schneise geschlagen werden, ausgerechnet für eine Autobahn. Klimaaktivisten wollen das verhindern. Für sie geht es auch um die Frage, wer im Angesicht des Klimawandels Gesetze brechen darf: sie oder der Staat.

Im Schein ihrer Stirnlampen stapfen Anni und Monkey durch die Nacht. Es regnet. Matsch schmatzt unter ihren Stiefeln, Atem wölkt in der Kälte und verschleiert die Sicht auf Eichen, Fichten und Buchen am Rand der Schneise. Es dauert eine Stunde, eh sie das Dickicht erreichen, in dem vermummte Gestalten auf Bäume klettern. Auch Anni und Monkey suchen sich einen aus, den sie verteidigen werden. Bald wird der Morgen dämmern. Flutlicht am Waldrand signalisiert, dass die Staatsmacht naht, Zeit für den Einsatz des Räumungskommandos.

Ein Aufgebot von zweitausend Polizisten soll dafür sorgen, dass eine Trasse durch Dannenröder Forst, Herrenwald und Maulbacher Forst geschlagen wird, Platz für die vierspurige A 49 zwischen Kassel und Gießen. So haben es Bundestag, Bundesrat und die hessische Landesregierung beschlossen. Doch inzwischen ist das Waldgebiet zu einem Symbol des deutschen Klimaprotestes geworden. Über Soziale Medien haben hunderte von Umweltschützern aus allen Teilen Deutschlands und einigen Nachbarländern eine ausgeklügelte Infrastruktur des Widerstands geschaffen, die in den Anfängen der Umweltbewegung vor fünfzig Jahren so nicht möglich gewesen war. Für sie geht es nicht allein um ein Stück Wald, sondern um die Zukunft des Planeten. Aber auch um die Frage, wer im Angesicht des Klimawandels Gesetze brechen darf: sie oder der Staat.

Anni und Monkey sind „Waldnamen“, mit denen sich die Aktivisten vor Spitzeln in ihren Reihen tarnen. Monkey sitzt bereits in einer Buche, neben ihm wippt Tony auf einer Schaukel. „Bin ich hoch genug?“ fragt er und hängt sich wie ein Faultier in eine Astgabel. Sitzt er oberhalb von zweieinhalb Metern muss die Polizei mit Spezialisten für Höhenrettung und einer Hebebühne anrücken, um ihn unversehrt vom Baum zu pflücken. Ähnliche Schwierigkeiten werden Red, Smiley, Fisch, Panda, Fuchsi, Waldo und noch ein Dutzend anderer bereiten, die sich wie alle Glitzerstaub auf die Fingerkuppen geklebt haben, um nach der Festnahme nicht durch Fingerabdrücke identifiziert zu werden. Manche haben schwarze Streifen und Kreise auf Wangen und Stirn gemalt, was die Software für Gesichtserkennungen austricksen soll.

Zivilen Ungehorsam nennen sie das. Der Staat reagiert mit Bußen ab fünfhundert Euro, droht bei „Widerstand gegen Voll¬streckungs¬beamte“ mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren und prüft zudem ob die Einsatzkosten „den Verantwortlichen der jeweiligen Aktionen in Rechnung zu stellen“ sind.

Die Zeit vergeht langsam, wenn es nasskalt ist und der Ast, auf dem man sitzt, in den Hintern drückt. Tony hat sich mit einem Buch gegen Langeweile gewappnet: „Stadt der Engel“ von Christa Wolf, doch sie kommt kaum zum Lesen, denn in einer Fichte neben ihr stimmt eine Sängerin mit rauchiger Stimme Protestlieder an, in die alle einfallen: „Power to the People“ von John Lennon schallt durch den Wald und danach der Kanon „Hejo, spann den Wagen an“ mit einem revolutionär umfunktionierten Refrain: “Auf die Barrikaden!“.

Wie aufs Stichwort erscheint die staatliche Ordnungsmacht: Gesicht hinter Visier und schwarzer Maske, breitschultrig in blauer Montur und schwerem Helm, Schlagstock griffbereit, Pistole im Holster, Handschellen im Gürtel. „Bäu-me-schütz-en-ist-kein-Ver-brech-en!“ skandiert die Sängerin aus der Fichte.

„Du. Bist. Nicht. Allein.“ stimmen alle mit ein, als vier Polizisten einen Aktivisten abschleppen, der nicht schnell genug in den Baum gestiegen war. Stumm und steif, jede Regung vermeidend, die als Widerstand gelten könnte, lässt er sich wegtragen. In Rufweite hockt Fuchsi, der sich in einer Buche eingerichtet hat, unter ihm ein paar Polizisten, denen er zu erklären versucht, dass Abholzen von Wäldern für Dürren und Unwetter sorgt, Straßenbau den Boden versiegelt und damit den Grundwasserspiegel senkt. „Wir befinden uns mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte“, ruft er. „Diesmal ausgelöst durch den Menschen,“.

Fast sieht’s so aus, als hätten die Beamten ein Einsehen, denn sie ziehen ab. Wahrer Grund ist, dass Abseilaktionen an Autobahnen zu viele Einsatzkräfte binden. Halbherzig sprechen sie Platzverweise aus. Die Aktivisten lachen sie aus. Nach sechs Stunden bricht das Paar ihre Baumbesetzung im aktuellen Rodungsbereich Herrenwald ab: Anni schlottert, ihre Jogginghose ist klatschnass. „Bei gutem Wetter ist das ´ne andere Nummer“ sagt sie: „Aber nächste Woche kommen wir besser ausgestattet wieder.“

Dannenrod, ein Dörfchen aus Fachwerkhäusern, ist ihr Rückzugsort, wo ein perfekt organisiertes Feldlager aus mehr als hundert Zelten aller Größe, Farbe und Funktion entstanden ist. Sie bieten Raum für Seminare und Filme, Bannergestaltung und erste Hilfe, Kleiderkammer, Kompostklos und Waschstation – und im Awareness-Zelt findet man einen Menschen, der zuhört, falls mal alles zu viel ist.

Herzstück des Camps ist der Danni-Ticker, eine Plattform des Nachrichtendienstes Telegram. Er warnt, an welchen Bahnhöfen Polizei kontrolliert, wo sie Straßen sperrt oder durch den Wald streift, informiert außerdem, wie viele Aktivisten in Sammelstellen eingesperrt wurden und wann sie Haftrichtern vorgeführt werden. Zentrale Anlaufstelle im Basiscamp ist das Info-Zelt, wo kundige Aktivisten Wege weisen, Nachrichten weiterleiten, Soli-Zelte für Neuankömmlinge vergeben und im Auge behalten, wer in Haft sitzt. Die ausgeklügelte Infrastruktur trägt die Handschrift erfahrener Gruppen der Klimabewegung. Im Aktionsbündnis „Wald statt Asphalt“, beteiligen sich Fridays for Future, die Bürgerinitiative keine A 49, Organisationen wie Robin Wood, Ende Gelände und Attac. Auch Greenpeace, NABU, Campact und BUND beteiligen sich mit Expertisen wie Rechtsgutachten, Klagen, Finanzen, Netzwerken.

Motivierend für die Umweltschützer ist, dass sich nach den Anwohnern aus Dörfern und Städtchen des Vogelbergkreises immer mehr Menschen des größeren Umkreises mit den Waldschützern solidarisieren. An diesem Samstag winken fünfhundert Alte und Junge mit Fähnchen, auf denen „Wald statt Asphalt“ steht, während Luca auf der Bühne des Sportplatzes zu ihnen spricht. Die zierliche, mit rotem Schlauchschal maskierte Frau gehört zu den Aktivisten der ersten Stunde. Aufgeweckt hatte sie das Buch über Grenzen des Wachstums: Dass die fast fünfzig Jahre alte Warnung vor der Ausbeutung unseres Planeten immer noch gilt. Sie sah sich damals noch selbst im Verbund „klassischer Grünenwähler, die denken, sie würden umweltfreundlich handeln, wenn sie Bionade und Ökostrom nutzen, aber trotzdem zu irgendwelchen Konferenzen fliegen. Ich war genau in so ‘ner Blase drin.“

Das änderte sich, als sie in den Hambacher Forst fuhr und mit Gleichgesinnten im Herbst 2019 die Besetzung des Dannenröder Forst startete. „Das hat mir das Gefühl gegeben, etwas für die Umwelt machen zu können und Bäume und Lebewesen zu schützen.“

Immer wieder unterbricht Applaus ihre Rede, auch als sie sagt: „Es tut weh, Bäume fallen zu sehen, die älter sind, als die ersten Automobile und Asphaltstraßen. Es tut weh, zu sehen, wie Menschen kaputt gehen im Angesicht der Zerstörung und unter dem Druck der Polizeigewalt“.

Sie kann ein Lied davon singen, nachdem sie vorige Woche aus dreißig Meter Höhe geräumt wurde. „Es gibt Beamte, die sich korrekt verhalten, aber auch andere, wie der Polizist, der mit der Hebebühne zu mir rauf kam. Der sagte, entweder ich sicher mich jetzt oder ich fall runter. Hätte ich auch als Morddrohung verstehen können.“ Ein Moment des Nachdenkens, dann fügt sie an: „Kann ja sein, dass die Beamten ihren Job gerade nicht mögen, aber sie haben ihn sich ausgesucht“.

Auf Video hat sie an diesem Tag im Herrenwald festgehalten, wie der Wald immer lichter wurde, wie die Harvester-Maschine in Sekunden Bäume fällte, als seien es Mikadostäbchen. Die Kiefer, auf der sie sitzt, vibriert. Fällen sie den Baum schon? Dabei ist sie sicher, dass man sie gesehen hatte. Ihr wird übel, der Puls rast. Äste versperren die Sicht auf den Buchenhain dreißig Meter unter ihr, der Stamm für Stamm fällt. Die Vibration der Motorsägen spürt sie bis hinauf zu dem Ast, auf dem sie sitzt.

Polizisten schweben auf der Hebebühne zu ihr herauf. Ihre Motorsägen fräsen den Weg durch die Äste frei. Einer droht, den Rucksack von ihrem Rücken zu schneiden. Sie gibt in her, weil sie fürchtet, dass „die sonst mit einem Messer an meinem Körper rumhantieren“.

Doch die Forderung, auf die Hebebühne zu kommen, verweigert sie, die Reaktion der Staatsmacht folgt auf dem Fuß: „Mit einer Hand hat er mir ins Gesicht gepackt, meinen Kopf verdreht und mich kopfüber auf die Hebebühne gezerrt.“ Sie schlingt ihre Arme schützend um den Kopf. In Embryonal-Stellung liegt sie schließlich auf der Plattform, den Fuß des Polizisten auf ihrer Hüfte, der andere steht auf dem Geländer der Hebebühne. „Beim Runtersteigen hat er sein Gewicht komplett auf meine Hüfte verlagert“ erinnert sie sich. „Ich hab‘ aus tiefster Lunge ´Es reicht´ geschrien!“

Zurück am Boden schafft man sie in einen Transporter, in dem jeder Gefangene in einer engen, Zelle von knapp einem Quadratmeter isoliert ist. „Obwohl wir keine Straftat begangen haben und nicht gewalttätig sind, müssen wir uns komplett ausziehen, wissen nicht wo man uns hinschafft, dürfen nicht aufs Klo.“ Unterkühlt, ausgehungert, dehydriert bricht sie zusammen, liegt zitternd am Boden, ruft um Hilfe. Keiner kommt.

All das spielt sich immer in einem anonymen Raum ab, ohne Zeugen, ohne Presse. Das erleichtert es Verantwortlichen, die Augen vor Übergriffen zu schließen – darunter Beamte und Politiker, die den Spagat zwischen staatstragender Strenge und demokratischer Toleranz üben. Sprecher der Polizei Mittelhessen erklärten Anfang November auf einer Pressekonferenz, dass es durchaus Aufgabe der Polizei sei, friedlichen Protest zu ermöglichen, gleichzeitig müsse sie allerdings auch die Rodungsarbeiten ermöglichen. Hessens grüner Verkehrsminister Tarek Al-Wazir stößt ins gleiche Horn, lobt friedlichen Protest als Teil demokratischer Auseinandersetzung und verurteilt gleichzeitig „Gewalt und gefährliche Aktionen, die niemals Teil der politischen Diskussion sein können”.

Die Frage stellt sich, ob Sitzblockaden auf Bäumen und Abseilaktionen den Tatbestand Gewalt erfüllen. In Reihen der Umweltschützer gelten eher politische Entscheidungsträger wie Tarek Al-Wazir als Gesetzesbrecher. Luisa Neubauer von Fridays for Future und Carola Rackete, ehemalige Kapitänin der „Sea-Watch-3“ werfen ihm und seinesgleichen Vertragsbruch vor, „weil einige die Macht haben zu entscheiden, dass es in Ordnung ist, das Pariser Abkommen zu brechen, nicht aber einen Straßenbauvertrag. Weil es für Entscheider okay ist, die Einhaltung von Biodiversitätsabkommen zu gefährden, nicht aber einen Koalitionsbeschluss.“

Doch wenn sich sogar ein Grüner wie Al-Wazir sogenannten Sachzwängen beugt, scheint es kaum noch zu verhindern, dass weiterhin abertausend Bäume der Trasse zum Opfer fallen. Die Stiftung „Grüne Stadt“ hat berechnet, welchen Nutzen nur einer von ihnen hat. Demnach deckt eine Buche von zwanzig Metern Höhe mit ihren rund sechshunderttausend Blättern an einem Sonnentag den Sauerstoffbedarf von zehn Menschen. Zweitausend Bäumchen müssten gepflanzt werden, um diese Buche zu ersetzen. Kostenpunkt 15.000 Euro.

Noch lässt es sich in den urwüchsigen Mischwäldern des Dannenröder Forstes und Herrenwalds durchatmen, in deren Wipfeln sich Demonstranten buchstäblich eingenistet haben. Dreizehn Baumhausdörfer mit mehr als hundert Häusern gibt es inzwischen entlang der zukünftigen Trasse. Darunter im Norden des Dannenröder Forsts eines mit dem bezeichnenden Namen „Nirgendwo“. Da die Rodung des Herrenwald bald abgeschlossen sein wird, wächst die Sorge, geräumt zu werden. „Das ist, als wenn die Polizei in dein Wohnzimmer stürmt.“ beschreibt Lotta, ein schlaksiger junger Mensch, die blonden Haare zum Knoten hochgebunden, die Angst, die alle hier teilen.

Als Gegenwehr wappnen sie sich mit einer komplizierten Konstruktion namens Sky-Pod, die Räumkommandos der Polizei auf eine sehr lange Geduldsprobe stellen soll. Auf Feldbetten, die durch Seile miteinander verbunden sind, sollen sich Menschen in den Wipfeln verschanzen. Die Seile werden durch unüberschaubare Verknüpfungen an Barrikaden befestigt, darunter Schilder mit der Warnung: „Wird dieses Seil zerschnitten, fällt ein Mensch herunter“.

Anhand einer Bauzeichnung erläutert Lotta den listigen Effekt der Konstruktion: „Drei Hebebühnen werden die brauchen, um diesen Sky-Pod sicher zu räumen“. Auch an anderen Stellen des Waldes bereiten sich Aktivisten auf den Ernstfall vor. Ast nennt sich die Aktivistin, die Anni und Monkey in die hohe Kunst des Seilkletterns einführt, ihnen geduldig zeigt, wie die Fußschlaufe mit einem Raupenknoten befestigt wird und vor der Gefahr eines Schlaganfalls warnt, wenn man zu lange im Klettergeschirr hängt.

So eingeführt und gerüstet wird sich das Pärchen auch in den kommenden Wochen in trickreiche und kreative Protestformen einbringen. Hunderte Barrikaden blockieren bereits die Rodungen, hunderte werden folgen. Banner überall im Danneröder Forst künden, was die Umweltbewegung seit je fordert: „Wo Unrecht zu Recht wird – wird Widerstand zur Pflicht“.