Zeitenspiegel Reportagen

Wildes Küstenland

Erschienen in "natur" 07/19

Von Fotograf Rainer Kwiotek und Autorin Rike Uhlenkamp

Wo einst Soldaten patrouillierten, melden sich heute Neuntöter, Wasserbüffel und Seeadler zum Dienst. Sie bevölkern die wildschönen Naturparadiese entlang der Küste Mecklenburg- Vorpommerns – am besten besucht man sie per Kutsche oder Kajak.

Wildes Küstenland Wo einst Soldaten patrouillierten, melden sich heute Neuntöter, Wasserbüffel und Seeadler zum Dienst. Sie bevölkern die wildschönen Naturparadiese entlang der Küste Mecklenburg-Vorpommerns – am besten besucht man sie per Kutsche oder Kajak

Seine schönsten Kindheitserinnerungen hat Herbert Bannow an die Tage, an denen er mit seinen Schulkameraden und den Lehrern ein Stück Land betreten durften, das für sie sonst Sperrgebiet war: die Halbinsel Wustrow. Umspült von der Ostsee auf der einen, vom flachen Wasser des Salzhaffs auf der anderen Seite und nur über eine schmale Landzunge mit dem kleinen Ostseebad Rerik verbunden, war Wustrow ab 1949 Stützpunkt der Roten Armee. Etwa 3000 Soldaten und ihre Familien lebten hier. Nur selten, zu russischen Feiertagen, luden sie die Nachbarn vom Festland zu sich ein. „Wir sangen russische Lieder und bekamen Kakao und Bonbons geschenkt. Die gab es ja sonst nicht“, erinnert sich Bannow, mittlerweile 54 Jahre alt. Mit seinem Planwagen kutschiert er inzwischen mehrmals die Woche Besucher wie uns über die rund 1000 Hektar große Insel – vorbei an den Ruinen einer Wohnsiedlung, durch das Landschafts- und Naturschutzgebiet, zum baufälligen Flughafen-Tower, zum verlassenen Strand an der Ostsee. Wegen ihr, der Ostsee, wegen der weißen Sandstrände und der zahlreichen Seebäder entlang ihrer Küste strömten schon zu DDR-Zeiten Jahr für Jahr Millionen Touristen ans Meer und auf die Ostseeinseln. Doch wie Wustrow, gelegen zwischen Wismar und Rostock, waren damals große Teile der Küstenlinie Mecklenburg-Vorpommerns Sperrgebiet. Die Ostsee markierte die nördliche Staatsgrenze der DDR. Nur an ausgewiesenen Strandabschnitten durften Einheimische und Besucher baden. Sich mit der Luftmatratze auf das Meer hinaustreiben zu lassen oder gar eine Bootstour zu unternehmen, war undenkbar. Zu kurz ist der Weg nach Schleswig-Holstein im Westen oder Dänemark im Norden. Ist man an der ostdeutschen Küste unterwegs, zeigt sich, auch 30 Jahre nach dem Mauerfall, immer wieder ihre bewegte Vergangenheit. In grünen Naturoasen, die auf ehemals abgesperrten Gebieten entstanden sind, in den Gesprächen mit den Menschen und auf dem Schild, das an einem Tor am Ende der Zufahrtsstraße von Rerik nach Wustrow hängt. Doch die blecherne Tafel, auf der „Lebensgefahr – Betreten strengstens verboten“ prangt, ist kein Relikt aus vergangener Zeit, die Worte gelten den heutigen Besuchern. Auch Jahrzehnte nach dem Abzug des russischen Militärs bleibt die „verbotene Insel“ gesperrt. Nur weil wir auf Bannows Wagen sitzen, lässt uns der Wachmann passieren. Der Kutscher hat die Erlaubnis vom Eigentümer der Halbinsel. 1998 kaufte der Immobilienunternehmer Anno August Jagdfeld die Insel von der Treuhand. Ein Drittel der Fläche wurde von Munition befreit. Ein Hotel, Ferien- und Eigentumswohnungen, ein Golfplatz, ein Reiterhof und eine Marina sollten in bester Seelage entstehen. Das 750 Hektar große Naturschutzgebiet im hinteren Teil der Insel wäre davon unberührt geblieben. Doch in Rerik regte sich Widerstand gegen diese Pläne. Jeglicher Verkehr nach Wustrow muss durch das kleine Örtchen. Die Bewohner befürchteten, dass Touristen- und Autoströme ihren Ort lahmlegen würden. 2003 sperrte die Stadt die Zufahrtsstraße zur Halbinsel. Als Reaktion darauf verbot Jagdfeld wenig später allen den Zutritt. Bannow schnalzt laut, zieht an der Leine. Vincent und Siggi, zwei Süddeutsche Kaltblüter, reagieren und ziehen den Planwagen weiter nach rechts. Seine Touren sind beliebt. „Wustrow durfte so lange nicht betreten werden, jetzt wollen viele wissen, wie es hier aussieht“, sagt Bannow. Neben ihm, vom Kutschbock, habe ich den besten Blick auf die Häuser einer ehemaligen Wohnsiedlung. Errichtet von den Nazis, die vor der russischen Besetzung auf Wustrow Deutschlands größte Flakartillerieschule betrieben, verteilen sich die etwa 90 Gebäude auf dem vorderen Teil der Insel. Die Natur erobert Ruinen Gab es hier einst Geschäfte, eine Grundschule und ein Kino, ist in die verlassenen Gemäuer über die Jahre die Natur eingezogen. Bäume sind auf die Häuser gestürzt, aus zerborstenen Fenstern rankt Gestrüpp, Ziegel wurden von den Dächern gefegt. Nahezu ungestört vom Menschen ist die gesamte Halbinsel ein Eldorado für Pflanzen und Tiere. An einigen Stellen gedeiht die in Deutschland stark gefährdete Stranddistel, Rotwild stapft durch die dichten Büsche, Neuntöter, Sperbergrasmücken und etwa 90 weitere Brutvogelarten leben im Naturschutzgebiet. Nach zweieinhalb Stunden ist unsere Reise in die Vergangenheit beendet; Bannow ruckelt mit dem Planwagen zurück gen Rerik. Auf dem Weg durch den Ort zeugen Schilder in Vorgärten vom anhaltenden Protest der Bewohner gegen den Ausbau der Insel. „Wir haben unsere Pläne geändert. Auf Marina und Golfplatz verzichten wir, das Hotel wird mit 60 Zimmern deutlich kleiner und auch die Zahl der Wohneinheiten haben wir reduziert. Es wird eine kleinteilige, nachhaltige und behutsame Entwicklung sein“, beteuert Christian Plöger, Sprecher der Jagdfeld-Gruppe. Das sei auch eine Reaktion auf die Kritik. Wie es mit Wustrow weitergeht? Ungewiss. Eines ist sicher, die Touristen werden auch ohne die Ferienanlage kommen. Mit etwa 1700 Kilometer Ostseeküste, Seenlandschaften und den historischen Hansestädten war Mecklenburg-Vorpommern 2018 das beliebteste Reiseziel der Deutschen. Den größten Zuwachs an Übernachtungsgästen in dem Bundesland gab es dabei auf der zweiten Halbinsel unserer Reise: Fischland-Darß-Zingst. Etwa 100 Kilometer östlich von Rerik ist die Halbinsel eine der sonnenreichsten Regionen Deutschlands. Doch nicht nur das Wetter lockt die Besucher, sondern vor allem die wilde Natur, die sich hier dank des letzten Beschlusses der DDR-Regierung ausbreiten kann. Am 12. September 1990 wurde die Errichtung von fünf Nationalparks, drei Naturparks und sechs Biosphärenreservaten auf dem Gebiet der entstehenden neuen Bundesländer besiegelt. Darunter auch der Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Auf über 800 Quadratkilometern breitet er sich auf der Halbinsel, über die Ostsee, die Boddengewässer, die Insel Hiddensee bis zur Westküste Rügens aus. Wind und Welle bauen neues Land Auch der Darßwald im Westen der Insel ist Teil des Nationalparks. Als wir durch die grüne Welt aus Buchen, Kiefern und Adlerfarn spazieren, können wir uns kaum vorstellen, dass nur wenige hundert Meter weiter die Wellen der Ostsee auf einen der schönsten Strände Deutschlands treffen: den 14 Kilometer langen wilden Weststrand. An ihm erkennt man die Kraft der Natur. Tag für Tag entreißt ihm das Meer Sand, trägt ihn mit der Strömung entlang der Küstenlinie gen Norden, um ihn an ihrer Spitze, dem Darßer Ort und östlich davon, wieder abzulegen. Aus Sandbänken und Dünen entsteht neues Land. Selbst große Teile des Darßwaldes sind durch diese Naturgewalt geboren. Nachdem der Wald in der DDR als Staatsjagdgebiet diente und lange Zeit schnellwachsende Bäume aufgeforstet wurden, wird er heute komplett sich selbst überlassen. An anderen Stellen der Halbinsel und des Nationalparks wird hingegen bewusst in die Natur eingegriffen. Schafe weiden auf Deichen, treten sie fest und schützen so vor Deichbruch und Hochwasser. Rinder grasen auf Grünflächen. Für viele dieser tierischen Landschaftspfleger ist Thomas Möhring zuständig. Der 49-Jährige ist Tierproduktionschef von Gut Darß, einem Ökolandwirtschaftsbetrieb, der insgesamt 4500 Hektar auf der Halbinsel bewirtschaftet. Knapp die Hälfte davon liegt im Bereich des Nationalparks. Bei der Pflege der Flächen ist der Betrieb eingeschränkt: von den strengen Auflagen des Nationalparks und – auch außerhalb der Naturschutzgrenze – vom feuchten Gelände. Neben den 4500 Rindern und 2000 Schafen setzt das Gut deshalb auf Wasserbüffel. „Komm auf keine blöden Ideen!“, zischt Möhring einen der dunklen Kolosse an, der wenige Zentimeter vor dem Kotflügel seines nagelneuen Geländewagens steht. „Wasserbüffel haben ihren eigenen Kopf und sind stur.“ Mit der Gewissheit, dass er im Zweifel keine Chance gegen das neugierige Tier hätte, erhebt er mahnend den Zeigefinger. Der Büffel rückt vom Auto ab. Von 17 Tieren im Jahr 2007 ist der Bestand inzwischen auf über 300 Tiere angewachsen. „Die Beweidungsfläche für Wasserbüffel nimmt zu, da auf dem Darß viele Renaturierungs- und Rückdeichungsprojekte geplant sind“, erklärt Möhring. Die Tiere gehen dorthin, wo normale Rinder freiwillig keine Klaue hinsetzen würden: „Die Büffel suchen förmlich nach den besonders feuchten Stellen und gehen richtig ins Wasser rein.“ Auf immer wieder überfluteten Flächen fressen sie am liebsten das frische Jungschilf. Nach und nach befreien sie so ganze Areale von dem Röhricht und schaffen die Grundlage für die an der Küste typischen Salzgraswiesen: ein Paradies für viele Bodenbrüter wie Seeschwalben und Alpenstrandläufer. Einzigartige Kaltwasserlagunen Das Gut Darß hat sich auch auf die zunehmende Anzahl der Touristen eingestellt. Es gibt einen Kletterwald, ein Hofcafé, im Hofladen wird Rind-, Lamm- und Büffelfleisch verkauft und Besucher können in der Saison täglich an einer Hofführung teilnehmen. „Viele Menschen, vor allem die aus der Stadt, wissen gar nicht mehr, wie Landwirtschaft überhaupt funktioniert. Das wollen wir ändern“, sagt Möhring. Früher hütete der gelernte Schäfer seine Tiere oft nahe der deutsch-deutschen Grenze. Doch „Rübermachen“ wollte er nie. „Ich war zwar nicht in der Partei, aber schon überzeugter Sozialist“, sagt Möhring. Obwohl er, als die Mauer fiel, im brandenburgischen Landkreis Prignitz direkt an der Grenze lebte, wartete er mehr als ein halbes Jahr, bis er in den Westen fuhr. Sein „Begrüßungsgeld“ holte er nie ab. Schließlich schloss er Frieden mit dem Ende der DDR, arbeitete – dank der neuen Reisefreiheit – als Schäfer in Neuseeland und als Gaucho in Uruguay. Seit 2009 ist er beim Gut Darß. Möhrings wasserliebende Büffel passen perfekt in die Region. Der Nationalpark hat auch abseits der Ostseeküste viele wasserreiche Gebiete. Alleine 300 Kilometer entfallen auf die Ufer der Boddenkette. Das sind flachere Küstengewässer, die sich zwischen das Festland und die langgezogene Halbinsel quetschen. Am Bodstedter Bodden, unweit von Gut Darß, herrscht eine mystische Stille, als wir in unsere Kajaks steigen. Zusammen mit Henrik Schmidtbauer, der seit über zehn Jahren Touren auf dem Wasser anbietet, wollen wir die Landschaft erkunden. „Die Bezeichnung Bodden kommt von Boden“, erklärt er. „Als die Bodden noch stärker von dem frischen Wasser aus der Ostsee durchströmt wurden, konnte man den Grund noch besser sehen.“ Einst war Fischland-Darß-Zingst keine Halbinsel, sondern bestand aus drei voneinander getrennten Inseln. Durch Seegatts, schmale Zugänge, mischte sich das Wasser aus Ostsee und Bodden. Stetig angespülter Sand und Sturmfluten schlossen die Durchlässe. Nur noch ganz im Osten der Halbinsel gibt es heute eine kleine Verbindung zur Ostsee. Aus den Bodden wurden so die weltweit einzigen Kaltwasserlagunen. Der geringe Austausch mit dem ohnehin salzärmeren Brackwasser der Ostsee ließ sie versüßen: Heimat für eine einzigartige Tier- und Pflanzenwelt. Außer unseren Paddelschlägen auf dem Wasser gibt es im Lagunenparadies nur eine andere Art der „Ruhestörung“: das Schreien und Singen der Vögel. Schrille, laute Rufe eines Kiebitzes hallen über den Bodden, einige Weißwangengänse, arktische Gäste, eine Rohrweihe und Kraniche überfliegen uns. Die Kraniche sind die heimlichen Stars der Region. Natur- und Vogelinteressierte strömen im Herbst vor allem ihretwegen in den Nationalpark. Zusätzlich zu den wenigen dauerhaft hier lebenden Exemplaren kommen dann Zehntausende der gefiederten Tiere und rasten auf dem Weg in ihre Winterquartiere auf den flachen Boddengewässern. „Mein Liebling ist aber der Seeadler“, sagt Schmidtbauer. Mehrmals erspähen wir den riesigen Greifvogel bei unserer Tour. „Mit ihm und mit den Kegelrobben leben Deutschlands größte Raubtiere in der Luft und im Wasser bei uns“, sagt der 56-Jährige ein wenig stolz. Die geschützten Gewässer der Bodden gelten auch als Kinderstube vieler Fische. In ihnen leben Brasse und Barsch, Aal und Zander. Mitte der 80er Jahre verliebte Schmidtbauer sich bei einem Fahrradurlaub in die Gegend und in seine Frau, zog aus der Nähe von Rostock zu ihr auf die Halbinsel. Viele Gäste, die bei ihm einen Ausflug buchen, sind nicht zum ersten Mal hier und einige kennen ihn noch von früher. Er arbeitet schon lange im Tourismus. Direkt nach der Wende fing er bei der Kurverwaltung des Ostseebades Prerow an, war später ihr Co-Direktor. Nach einem schweren Fallschirm-Unfall gründete er 2008 sein Einmann-Outdoorunternehmen „Ich weiß, was es bedeutet, am Leben zu sein, und genieße umso mehr Momente wie diesen“, sagt Schmidtbauer. „Im Kajak bist du mit deinem Hintern im Element und bekommst alles mit, was das Wasser mit dir machen will.“ Da der starke Südwest-Wind das Wasser in den vergangenen Tagen aus der Lagune gedrückt hat und sie dadurch an einigen Stellen für uns und die Kajaks zu flach ist, müssen wir auf dem Weg zum benachbarten Bodden einen kleinen Umweg paddeln. Doch Henrik Schmidtbauer und wir haben keine Eile. „Ich freue mich, wenn wir eine Strecke schaffen, aber genauso gerne sitze ich mit meinen Gästen mitten auf dem Wasser. Sie sollen sich der Weite auf dem Bodden öffnen, hinhören, die Augen schließen.“ Noch gut erinnert sich Schmidtbauer, wie große Teile der Halbinsel zum Nationalpark wurden. Waren die Zäune der Grenzgebiete und Sperrzonen gerade gefallen, gab es bald neue Regeln für das Betreten der Kernzone des Nationalparks und das Befahren der Gewässer. „Das war und ist für die Natur natürlich toll, aber nach den 40 Jahren, in denen die Menschen eingesperrt waren, kamen die Verbote nicht gut an.“ Statt mit dem erhobenen Zeigefinger zu mahnen, will er seine Gäste die Natur fühlen lassen, ihnen ihre Schönheit zeigen. „Wir schützen nur, was wir lieben.“ Ich nehme das Paddel aus dem Wasser, lege es quer vor mich auf das Kajak. Das Boot schaukelt auf und ab. Als ich meine Augen wenige Momente später wieder öffne, hat die Sonne den Himmel in ein violettes Farbenmeer verwandelt. Schmidtbauer hat seine Mission erfüllt.