Zeitenspiegel Reportagen

World Wide Wunder

Erschienen in "annabelle", 17.12.2012

Von Fotograf Sascha Montag und Autor Jan Rübel

Wenn aus Wolken Granaten fallen, ist Überleben Glückssache. Aber nicht nur. Ein Märchen 2.0.

Wie rasch er die Augen wieder öffnet. Wie er sich in einem Ruck aus dem Bett reißt, zum Fenster hüpft und seinen Blick sich im wolkenverhangenen Himmel verlieren lässt. Ahmad kann kein Nickerchen halten, wie so oft. Schließt er die Augen, kommen die Gespenster. Die ihn fragen, wo er sei. Und er die Antwort darauf nur ungefähr kennt. Mit einem Lächeln wischt Ahmad, 17, die Rätsel in seinem Kopf weg. „Alles kommt mir vor wie in einem Traum“, sagt er und schlurft zurück zum Bett. „Langsam wache ich auf.“

Vor drei Monaten, im Mai, holten sie ihn aus dem künstlichen Dauerschlaf. Acht Wochen lag er im Koma, wegen der Schmerzen. Als Ahmad wieder den Mund öffnete, war sein erster Gedanke: Furcht. Der zweite: Was ist Deutschland? Seitdem sortiert er sein Leben neu, wie die Buchstaben A und B im Deutsch-Lernheft, das er sich nun aus der Schublade neben dem Bett greift. Er kreist die Buchstaben mit einem Bleistift in ihm fremden Worten ein, hier in der Schön-Reha-Klinik im oberbayerischen Vogtareuth. Einen Meter rechts liegt Hanadi. Seine vier Jahre jüngere Schwester atmet schwer, den Kopf zur Seite. „Warum ich hier bin?“ Ahmad lacht, er kratzt sich am verknorpelten Ohr. „Das frage ich mich nicht mehr. Die Antwort kennt nur Allah.“ Und schaut weg.

Eigentlich war es mit den beiden schon vorbei. Am 13. März stehen Hanadi und Ahmad in der Küche ihres Elternhauses in al-Qusair, einer 40.000-Einwohnerstadt südwestlich von Homs in Syrien, als eine Granate einschlägt. Der Gaskocher neben ihnen explodiert, beide stehen in Flammen. Rund 85 Prozent von Hanadis gesamter Haut verbrennen, bei Ahmad sind es 75 Prozent. Rebellen der „Freien Syrischen Armee“ laden beide auf einen Pickup und rasen auf Schleichwegen an die 30 Kilometer entfernte Grenze zum Nordlibanon – in ihrer im Bürgerkrieg versinkenden Heimat kann kein Krankenhaus sie aufnehmen; die Eltern bleiben zurück, sie vermissen zwei weitere Kinder. An der Grenze bringt ein Rettungswagen des Roten Halbmonds Hanadi und Ahmad in das Krankenhaus „Hôpital de la Paix“ nach Trablous.

Aus anderer Richtung macht sich Carsten Stormer auf den Weg in den Libanon. Der Reporter ist Partner bei Zeitenspiegel, einer Reportage-Agentur in Weinstadt. Er bereist weltweit Krisengebiete und will im Libanon über die Lage syrischer Flüchtlinge recherchieren. Im „Hôpital de la Paix“ in Trablous hört er am 18. März von Hanadi und Ahmad, die Ärzte können nichts für die beiden tun – sie benötigen dringend gezüchtete Haut, die es im Libanon nicht gibt. Als Carsten Stormer den behandelnden Arzt um eine Fotoerlaubnis bittet, lehnt er ab. „Ich kenne euch Journalisten“, sagt er, „ihr versprecht Hilfe, macht eure Fotos und verschwindet für immer. So war es auch vor 25 Jahren, bei unserem Bürgerkrieg hier“. Aber der Arzt resigniert, lässt Carsten Stormer für zehn Sekunden zu Hanadi, für zwanzig zu Ahmad. Wie ein Geier fühlt sich der Reporter. Betäubt vom Anblick der von Wundsekret durchgesickerten Verbände fährt Carsten Stormer zu einem Internet-Café, öffnet seine Facebook-Seite und „postet“ die Aufnahmen von den beiden. Damit beginnt ein kleines Wunder.

„Hanadi und Ahmad sind schwer verwundet, die Kinder werden ohne Hilfe nicht überleben.“

Dieser Satz wandert ins Internet. „Facebook“ ist ein Unternehmen, welches von Informationen lebt, aber mit eigenen knausert. Die Presseabteilung verrät nicht, wie viele Server wo den Eintrag von Carsten Stormer aufnehmen und weltweit weiterleiten. Jedenfalls landen Satz und Fotos binnen Sekunden bei seinen mehr als 1300 „Freunden“, die er bei „Facebook“ hat; das kommerzielle soziale Netzwerk hat sich längst zu einer neuen Informationsplattform entwickelt, dort stehen Vermisstenanzeigen von Kindern und Haustieren, Jobgesuche und Stammbaumrecherchen – und Antworten darauf, alles im „Real Time Web“: wie bei einem Würfelspiel, bei dem alle gleichzeitig würfeln.

Im 3245 Autokilometer entfernten München zappt sich an jenem Sonntagabend des 18. März eine junge Frau durchs Fernsehprogramm, ist nebenbei online. Als Veronika Faltenbacher, 35, auf dem Sofa Carsten Stormers Nachricht liest, denkt sie nicht lange nach. Gerade war ihr Plan geplatzt, einen Brotzeitladen zu eröffnen. „Ich hatte Zeit. Und mir kam nicht die Frage, ob, sondern wie ich helfe. Das lief automatisch ab.“

Veronika Faltenbacher schickt eine SMS an einen Bekannten, Hanns-Georg Klein, er ist Labormediziner und Humangenetiker. Der informiert am nächsten Morgen einen Kollegen, der auf der gleichen Etage im Münchener Zentrum für Humangenetik bei München arbeitet: Prof. Hubertus von Voss, ehemaliger Leiter des Münchener Kinderzentrums und erfahren in Kindernothilfseinsätzen in Afghanistan. Der 69-Jährige denkt sich: Ein Land, dass Waffen verkaufe, müsse Verletzten kompromisslos helfen. Er schickt eine Email an Veronika Faltenbacher mit Fragen über den Grad der Verletzungen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

Am 20. März kursiert der erste Spendenaufruf im Internet. Während Veronika Faltenbacher sich um einen ADAC-Hilfsflug bemüht, sucht Hubertus von Voss eine Klinik, welche die beiden aufnimmt. Eine sagt mit ihren Leitenden Ärzten zu, die Verwaltung aber lehnt wenig später ab, eine weitere – von Haunersches Kinderspital der Universität München - springt ein. Binnen sechs Tagen haben sich sechsstellige Eurobeträge auf dem Konto angesammelt, vor allem große Einzelspenden, aber auch viele kleine Beträge. Grünes Licht. Der nun finanzierte ADAC-Rettungsflieger hebt von München aus ab gen Naher Osten.

Doch in Beirut gibt es Probleme. Hanadi und Ahmad haben keine Papiere, wie sollen sie ausreisen? Hubertus von Voss kontaktiert den Ehemann seiner Nichte, Peter Wittig. Der ist Deutschlands UN-Botschafter in New York, er setzt sich mit der Deutschen Botschaft in Beirut und dem Präsidentenpalast in Verbindung. Am Ende erhalten die Syrer Hanadi und Ahmad, libanesische Pässe ohne Fotos, der Flieger darf starten. Mit multiplem Organversagen landen die beiden Jugendlichen in der Nacht zum 31. März in München. 15 Ärzte operieren rund um die Uhr ehrenamtlich bis in die Ostertage hinein, dann stellen sie fest: ihr Leben, das schon an einem seidenen Faden hing, werden Hanadi und Ahmad behalten. Beide bleiben in künstlichem Dauerschlaf.

Nicht von ihrer Seite weicht Amin. Ihr Cousin, 30, schon vor einem Jahr vor dem Militärdienst aus Syrien in den Libanon geflohen, war ins Krankenhaus von Trablous geeilt, sobald er von ihrem Schicksal erfuhr. Damit die beiden wenigstens eine Vertrauensperson auf ihrer Reise ins Unbekannte haben, packte Amin seine Plastiktüte mit Kleidung und flog ihnen nach – mit einem handschriftlichen Vermerk der deutschen Botschaft in Beirut, er werde als Begleitpersonal gebraucht; im ADAC-Flugzeug war für ihn wegen der notwendig gewordenen Beatmungsmaschinen kurzfristig kein Platz mehr.

Während die beiden im Koma verharren, regt sich immer mehr Hilfe. Schulkinder sammeln in München Spenden, andere verkaufen selbst gebastelte Postkarten. Und der Staat reagiert. Ein Anwalt beantragt für die drei eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aus humanitären Gründen – mit Erfolg: Nun kümmert sich das Münchener Sozialamt um die Kosten, und das Amtsgericht bestellt einen Vormund.

Jetzt, in der Reha in Vogtareuth, müssen Hanadi und Ahmad sich auf ein Leben außerhalb der Krankenhauswände vorbereiten, in einem ihnen fremden Land. Doch die Gedanken hängen der Heimat nach. Ahmad kratzt sich am Oberschenkel. Es juckt. Die neue Haut ist zu kurz, sie zieht sich zusammen wie ein Gummiband. „Ich weiß nicht, ob ich zurück will oder nicht“, sagt Ahmad. Als Autowäscher arbeitete er in al-Qusair, hatte gerade mit kleinen Autoreparaturen begonnen und wollte Kfz-Mechaniker werden; von Facebook hatte er einmal gehört. Hanadi ging noch zur Schule, an den Angriff erinnert sie sich kaum. Bald ist Mittagessen. Während Amin mit der linken Hand zu einer Cremetube greift, um Ahmads Oberschenkel einzureiben, hält er in der rechten die TV-Fernbedienung. Den Sender al-Dschazira, der direkt und schonungslos vom Krieg in Syrien berichtet, will er unbedingt überspringen; Hanadi und Ahmad sollten nicht aufgewühlt werden, raunt er.

Gerade hat Amin eine SMS an den Vater der beiden geschickt. Der wechselt jeden Tag in Syrien den Aufenthaltsort. Hält er sich in der Nähe zum Libanon auf, kann er über ein libanesisches Handy Anrufe erhalten. Heute aber bleibt Amins Handy, das er von Veronika Faltenbacher geschenkt bekam, still. Zur Mutter und den Geschwistern gibt es keinen Kontakt, sie sollen irgendwo im Libanon sein. Aber das sagt Amin Hanadi nicht.

Der Aufenthalt in der Reha ist wie ein großes Luftholen. Eine Suche nach Leichtigkeit. Als eine Physiotherapeutin mit Hanadi Dehnübungen macht, lachen beide auf. Hanadis rechter kleiner Finger ist versteift, er spreizt sich und dient hervorragend zum Spiel. Beide karikieren nun feine Damen beim Tee. Ahmad schleicht sich heran und legt eine Kompression auf Hanadis Kopf. „Das ist dein Hut“, grinst er. Eine Gelegenheit zum Slapstick lassen sie kaum ungenutzt.

Was sollen auch Fragen, auf die es keine Antwort gibt? Wie es dazu kam, dass man sie aus dem Feuer zog? Dass sich ein Top-Diplomat für einen Autowäscher und seine kleine Schwester einsetzt, dass Tausende von Euro für ihre Rettung aufgebracht werden, mehr als die Familie jemals verdient hat? Dass sie leben, und so viele nicht mehr. Amin zuckt. Ein deutscher Fernsehsender berichtet gerade von syrischen Flüchtlingen, die an der türkischen Küste ertrunken sind. Amin zappt weiter. Später, wenn die beiden schlafen, wird er auf einem geschenkten i-Pad Filme auf YouTube schauen, in denen Freunde von ihm sterben. Von den Szenen nicht loskommen.

Hanadi bemüht sich um andere Bilder. Mit einem Wachsstift malt sie am Nachmittag ein Mädchen, und Schmetterlinge und Bäume, eine heile Welt. In den Händen hält das Mädchen eine Blume. Annette Leßmann ist zu Besuch, die Kunsttherapeutin versteht kein Arabisch, aber Bilder kommen ohne Worte aus. Hanadi nimmt Klebeband und hängt ihr Mädchenporträt an die Zimmerwand – verkehrt herum, wie zum Schutz. Ahmad dagegen malt die Fahne der FSA-Rebellen in Grün, Weiß und Schwarz auf ein Blatt. Darunter schreibt er „Freiheit für immer“. Seine Augen füllen sich mit Tränen, er lacht. Annette Leßmann zupft ein Taschentuch hervor, Ahmad nimmt es – er wischt damit den Tisch.

Das Malen ist ein erster Schritt, das Grauen in sich zu erfassen. Sich den Traumata zu nähern, die sie erlitten haben. Bald soll eine Therapie beginnen, wenn sie aus dem Krankenhaus heraus sind und irgendwo wohnen, Alltag spüren. Das Leben.

Es wird Abend. Hanadi zieht den Pyjama glatt, sie mustert dabei einen daumengroßen Flecken auf ihrem rechten Arm. Es ist die alte, unbeschädigte Haut. Sie stemmt sich im Bett aufrecht, streift mit der Hand kurz durchs Haar, steht auf. Krankenschwester Heidi, die sie wegen ihrer schönen Augen besonders mag, begrüßt sie mit High Five. Und fragt nach Tabletten gegen den Schmerz.