Zeitenspiegel Reportagen

Zauberberge

Erschienen in "natur" 12/2020

Von Fotograf Rainer Kwiotek und Autor Markus Wanzeck

Unser Autor fährt mit viel Anlauf nach Berchtesgaden. Und findet sich in einer märchenhaften Alpenwelt wieder, in der Hexen schlummern, wunderliche Dinge geschehen und über allem ein steinerner König thront.

Der Ausflug in die Alpen nimmt seinen Anfang in Altona. Hier, im Hamburger Start- und Endbahnhof, beginnt täglich der IC 2083, bekannt als „IC Königssee“, seine Reise. Ihre Dauer? Könnte einem indischen Fahrplan entsprungen sein: rund zehn Stunden, ohne Umstieg. 29 Stationen. Die finale davon: das Städtchen Berchtesgaden, am Fuße zweier der letzten Ruhestätten des „ewigen Eises“ auf deutschem Boden. Watzmanngletscher. Blaueisgletscher. Einmal längs durchs Land, vom Gestade der Elbe, jenem verlängerten Arm der Nordsee mit Ebbe und Flut, bis in den allertiefsten Südostzipfel der Republik, der wie eine Halbinsel nach Österreich hineinragt.

Im Frühtau zu Berge! Um 7:10 Uhr rollt der IC Königssee an, zuckelt durch eine dämmrige Klinkerlandschaft. Am Häuserhorizont ein paar Kräne – der Hafen. Die Geschwindigkeit erinnert an eine S-Bahn-Fahrt, ebenso die ersten Halte: Hamburg-Dammtor, Hamburg-Hauptbahnhof, Hamburg-Harburg. Der Zug füllt sich. Hinter Harburg wird die S-Bahn- zur Eisenbahnreise. Lüneburg, Göttingen, Fulda …

Mehr als neun Stunden nach dem Start im hohen, flachen Norden, nimmt der IC Königssee Anlauf für einen 7,4 Kilometer langen Abschnitt, der zu den steilsten Bahnstrecken Europas zählt: 7,4 Kilometer, mehr als 230 Höhenmeter, bis zu 40 Promille Steigung. Bergbahngefühl stellt sich ein. Der Zug schnauft, nun wieder im S-Bahn-Tempo, durch Wälder, an Weiden vorbei, zwischen Felsenwänden hindurch, hinan, hinauf, immer höher, in eine Bergwelt, die beseelt und belebt erscheint, in der Hexen schlummern, ein Zauberwald wächst und über allem ein steinerner König wacht.

„König“, so nennen sie hier den Watzmann, dessen Gipfel 2713 Meter aufragt – übertroffen hierzulande nur noch von der Zugspitze. Kurz vor dem Ziel der Eisenbahntagesreise thront er am Himmel über Bischofswiesen in der Spätnachmittagssonne. König Watzmann blickt auf eine Landschaft wie gemalt, eine Welt wie im Märchen. Es war einmal: ein Reich aus majestätisch emporragenden Felswänden und idyllischen Almen, verwunschenen Winkeln und tiefen Tälern, in dem Fabelgeschichten die Jahrhunderte überdauerten und sich gar wunderliche Naturphänomene zutragen bis zum heutigen Tag.

In dem mancherorts binnen weniger Meter die Temperatur fällt wie von Zauberhand – zehn Grad, 20 Grad.

Wo Bäche versiegen, ehe sie den See erreichen – und doch in ihn münden.

Wo Schneefelder, als seien sie dem Lauf der Jahreszeiten entrückt, den Sommer überdauern – 2000 Meter unterhalb der Schneegrenze.

Was, wenn es wirklich eine Märchenwelt wäre? Wenn der Steinadler, der an einem spätsommerlichen Oktobermorgen hoch droben über den Gipfeln von Halskopf und Teufelskopf kreist, sprechen könnte? Würde er uns freudig berichten von dem strahlenden Sonnenschein und der tollen Thermik, die ihn nach zwei grauen Regentagen zur Jagd luden? Oder würde er klagen über das miserable Jahr, in dem die 15 vom Nationalpark Berchtesgaden beobachteten Adlerpaare nur einen einzigen Jungvogel durchbringen konnten?

Würde er sich wundern über die Gruppe Wanderer unten im Klausbachtal, die ein ums andere Mal aufgeregt die Arme himmelwärts recken, wann immer er sich über den Grat gleiten lässt und die Menschlein da unten seine Silhouette erspähen?

Und wieder. Er: segelt hinüber ins Tal. Sie: reißen die Arme hoch. „I kann so ned arbeiten“, grantelt ein Mann aus der Gruppe mit schulterlangem Haar und Zehntagebart, „wenn i bei meinem Vortrag immer unterbrochen werd’ von diesem Vieh!“ Natürlich meint Klaus Melde, Ranger im Nationalpark, das nicht ernst. Er freut sich, wenn der Gegenstand seines Vortrags sich den Teilnehmern der Adlerwanderung tatsächlich zeigt. Passiert keineswegs immer, aber heute hatte Melde sich berechtigte Hoffnung gemacht. Wegen der zwei verregneten Tage zuvor. „Da ist der Adler wahrscheinlich nur rumgesessen. Der is ja ned bled.“ Heute hat der Hunger ihn in den Himmel getrieben.

Ranger Melde ist einer von gut 100 Angestellten des Nationalparks Berchtesgaden, 1978 gegründet, 210 Quadratkilometer groß, zweitältester und einziger alpiner Nationalpark Deutschlands. Geprägt von drei Tälern, die sich, nord-südwärts gestreckt, aneinanderschmiegen: das Klausbachtal, über dem der Adler kreist, im Westen. In der Mitte das Wimbachtal, flankiert von Hochkalter und Watzmann, deren Gipfel Anfang Oktober schon Winterweiß tragen. Und der Watzmann-Ostwand zu Füßen das Tal, das der Königssee geflutet hat – steil, eng, wie ein Alpenfjord.

Dass 2020 ein mieses Adlerjahr war, so mies wie noch nie in über 25 Jahren Monitoring, liegt am kältesten, nassesten Juni seit Jahrzehnten, erklärt Melde: „Nässe oder ein Kälteeinbruch können einen jungen Adler umbringen.“ Alles in allem aber ist der Bestand stabil. Die Bedingungen im Nationalpark sind wie für den seltenen Steinadler gemacht. Der Aufwind. Die Steilwände, fein für Felsenhorste. Der reich gedeckte Tisch. „Hier kannst du deine Krallen nach Herzenslust auf Hasen, Murmeltiere und junge Gämslein niederschnellen lassen“, würde der Adler am Himmel, könnte er sprechen, zufrieden raunen.

Womöglich würde er, wenn er schon mal dabei ist, auch sein Erstaunen kundtun über jenen imposanten, noch selteneren Gelegenheitsgast, der ab und an in das Klausbachtal schwebt und mit seiner Spannweite von gut zweieinhalb Metern sogar ihn, den König der Lüfte, überflügelt. Seit einiger Zeit nämlich wird der Bartgeier im Alpenraum wiederangesiedelt, mit Erfolg. Ab 2021 wird der Nationalpark sich daran beteiligen, sagt Klaus Melde. Er zeigt hoch in eine Steilwand. „Dort wollen wir im Frühjahr zwei bis drei junge Vögel auswildern.“ Den angestammten Steinadlern werden sie, als passionierte, hochspezialisierte Aasfresser, nicht in die Quere kommen. Erwachsene Bartgeier ernähren sich vor allem von Knochen, die sie dank ihrer extrem sauren Magensäure verdauen können.

Ein weiteres Mal zeigt Melde hoch, diesmal an den gegenüberliegenden Berg. Im gleißenden Sonnenlicht, das über den Hochkalter in das Tal flutet, erkennt man die Stelle kaum, auf die es dem Ranger ankommt. „Da oben“, sagt er, „ist 1999 eine Lawine runtergegangen.“ 20 Hektar Fichtenwald – umgeknickt in Augenblicken. Inzwischen wachsen dort mehr als ein Dutzend verschiedene Baumarten. „Und so würde es hier ohne den Menschen überall aussehen.“ Die schnell wachsenden Fichten wurden einst aufgeforstet, nachdem das Klausbachtal gerodet worden war, um die Saline des Salzbergwerks Berchtesgaden zu befeuern.

Unten, am Ausgang des Klausbachtals, sind die Folgen einer weitaus größeren, älteren Lawine sichtbar: der Hintersee, aufgestaut durch einen gigantischen Bergsturz vor mehr als 3000 Jahren – und der Zauberwald, wo die Wurzeln bemooster Bäume sich knorrig um die stattlichen Überbleibsel jener Felslawine ranken. Noch so ein märchenhafter Flecken.

Folgt man der Ramsauer Ache aus dem Zauberwald, allweil stromabwärts, ostwärts, gelangt man nach ein paar Kilometern zu einer Stelle, an der ein trüb-grauer Bach in die Ache mündet. Hier, bei der Wimbachbrücke, ist ein beliebter Ausgangs- und Endpunkt für die Watzmannüberschreitung, eine der schönsten, schwierigsten Gratwanderungen der Alpen, die einem Schwindelfreiheit und Trittsicherheit abverlangt – und Kondition für 14 Stunden, 23 Kilometer und 2400 Höhenmeter rauf und wieder runter.

Dreieinhalb Stunden nach dem Start, auf 1930 Metern gelegen, wartet das Watzmannhaus, eine Alpenvereinshütte mit Gaststube und 200 Schlafplätzen. „Die meisten, die den Watzmann überqueren, übernachten hier“, sagt Herbert Wendlinger, Wanderführer und Inhaber einer Skischule. „Und des is a des Vernünftigste.“

Vernunft wird bei Wendlinger großgeschrieben. Im Tal verteilt er stets Wanderstöcke an die Teilnehmer seiner Touren. Und wenn ihm beim Aufstieg ein Absteiger entgegenkommt, der wegen Neuschnee vor dem Gipfel kehrtgemacht hat, gibt er ihm einen Trost mit auf den Weg: „I sag immer: Es gibt mutige Bergsteiger. Und alte Bergsteiger. Aber keine alten, mutigen Bergsteiger.“

Für vernünftige Wanderer mit nicht gar so viel Zeit oder Kondition bietet sich das Watzmannhaus als Wende- und Höhepunkt einer Tagestour mit 1200 mal mehr, mal weniger steilen, doch durchweg kraxelfreien Höhenmetern an. Immer wieder leitet Wendlinger „Puls-Fitnesstouren“ rauf zum Haus. Vor 28 Jahren vom Herzspezialisten einer ortsansässigen Klinik als „Herz-Kreislauf-Wanderung“ für Kurgäste ersonnen, sorgt eine solche Tour dafür, dass der Wandersmann oder die Wandersfrau im optimalen Pulsbereich bergwärts strebt. „Faustregel: 180 minus Alter plus zehn Prozent“, sagt Wendlinger. „Oder einfacher: Solange man am Berg noch reden kann, ist alles in Ordnung.“

Jahrzehntelang hat Wendlinger seine 60.000 Höhenmeter im Jahr gemacht – „mindestens“, sagt er. Inzwischen, mit 65, tritt er etwas kürzer, ist aber immer noch sehr gut zu Fuß. Das wird auf der letzten Watzmann-Pulswanderung vor der Winterpause schon in der ersten steileren Passage klar. Wendlinger redet einfach weiter.

Nach all den Jahren am Berg liegen für ihn die Geschichten und Anekdoten am Wegesrand wie Silberdisteln und Enziane. Zeigt sich zwischen den Wipfeln das Wimbachtal, erklärt Wendlinger das Grau des Wimbachwassers: „Das ist das Gries, das weggeschwemmt wird.“ Das „Gries“ wiederum ist ein Geröllstrom, der sich, teils Hunderte Meter mächtig, talwärts schiebt; um die 4500 Tonnen, hat man errechnet, werden pro Jahr aus dem Tal gespült. Eröffnet sich ein Weitblick gen Norden, hebt Wendlinger zur anatomischen Beschreibung einer Bergsilhouette an: „Zehen, Nase, dazwischen der Busen.“ Und tatsächlich, so angeleitet, sieht man sie rücklings am Horizont liegen, die sagenumwobene „schlafende Hexe“.

Oben am Watzmannhaus: Verschnaufen. Puls messen. Das verschwitzte Hemd wechseln. Kaum sind die Rucksäcke der Wanderer geöffnet, erspäht Wendlinger eine zweite Geierart des Nationalparks, die als solche in keinem Vogelkundebuch zu finden ist: „Ah, der Brotzeitgeier!“, ruft er. Schon ist eine rabenschwarze Alpendohle im Landeanflug, furchtlos und frech, den Proviant der Berggänger im Blick.

Nach einer Brotzeit und einem Gipfelschnaps folgt der Abstieg. Er führt über die Kührointalm, wo eine Bergsteiger-Gedenkkapelle daran erinnert, wie unvermittelt ein Leben enden kann. Allein in der Watzmann-Ostwand, mit 1800 Metern dritthöchste Felswand der Alpen, kamen schon mehr als 100 zu mutige Bergsteiger um. Sie gilt als nicht übermenschlich steil, aber elendig lang und unübersichtlich. Der letzte Helikopter-Rettungsflug war nicht einmal eine Woche vor Wendlingers Wanderung. „Nutzet die Zeit“, steht auf der Kapelle geschrieben, „denn die Tage sind kurz.“

Um an diesem kurzen Oktobertag noch vor Sonnenuntergang zurück im Tal zu sein, legt Herbert Wendlinger mit seiner Wandergruppe einen flotten Almabtrieb hin. Der Soundtrack der Wanderung, vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung, ist ein vielstimmiges „Servus!“ und „Grias di!“, zeitweise fast im Minutenrhythmus, wann immer sich Grüppchen begegnen oder überholen. Schwer was los am Berg – und das mitten im Nationalpark.

Leidet das Naturschutzgebiet womöglich unter „Overtourism“? Dazu hat hier ein jeder eine Meinung.

Eher ja, findet Ranger Klaus Melde. „Die nennen mich nur noch Bademeister!“, stöhnt er. Einen solchen Andrang auf den Königssee wie 2020 hat er in seinen 17 Nationalparkjahren noch nicht erlebt. „Ich hoffe inständig, dass Corona bald vorüber ist. Dann können die, die eigentlich am Ballermann Urlaub machen wollen, das auch wieder tun.“

„Naa“, sagt hingegen Brigitte Berreiter. Sie gibt Führungen am „Haus der Berge“, dem Umweltbildungs- und Informationszentrum des Nationalparks. „Wir brauchen noch mehr interessierte Touristen. Denn durch die Distanz zur Natur entstehen Probleme.“ Für die Natur. Weil man auf das, was man nicht lieben gelernt hat, weniger Rücksicht nimmt. Aber auch für die Menschen: „Schon zehn Minuten auf einer Bank im Grünen zu sitzen, tut gut. Hormone werden ausgeschüttet.“

Und Herbert Wendlinger weiß, dass der Massentourismus im Grunde ein Geburtshelfer des Nationalparks war. So sei die „Wahnsinnsidee einer Seilbahn auf den Watzmann“ über Jahrzehnte hinweg nicht totzukriegen gewesen. „Mit dem Nationalpark konnte man das dann endgültig verhindern.“

Roland Baier, der Leiter des Nationalparks, hat an seinem Dienstsitz am Doktorberg, einer Anhöhe in der Berchtesgadener Altstadt, nicht nur den Watzmann, sondern auch die Besucherzahlen im Blick: „Die letzte offizielle Zahl ist von 2015. 1,6 Millionen. Gegenüber 2005 war das eine Steigerung um 40 Prozent.“ Im Corona-Jahr 2020, sagt er, waren es „gefühlt nochmal mehr“.

Ein Overtourism-Problem sieht Baier dennoch nicht, „solange der Besucher sich auf dem Wanderweg bewegt“. Mit gut ausgebauten Pfaden, 260 Kilometer alles in allem, und einer akkuraten Beschilderung versucht der Nationalpark, die Touristenströme zu lenken. Das klappt in den allermeisten Fällen. Aber nicht in allen. „Wenn mehr Menschen kommen, nimmt auch der Anteil derjenigen zu, die sich danebenbenehmen“, sagt Baier. „Das ist wie eine Gauß-Verteilung.“ Und das wird dann doch zum Problem. Müll, Lärm, Wildcamper.

Aktuell größte Problemzone im Park ist der Königsbach-Wasserfall. Von seinen oberen Gumpen, ehe das Wasser in die Tiefe stürzt, hat man einen Bilderbuchblick auf den Königssee. Prädestiniert für Social-Media-Selbstinszenierungsfotos. Folgerichtig ging der Wasserfall in den vergangenen Jahren viral, wurde zur coolen Kulisse für immer mehr Facebook- und Instagram-Selfies. Auch der Tod zweier Männer, die 2019 von dem weiß sprudelnden, auftriebsarmen Wasser des Bachs verschluckt wurden, änderte daran wenig.

„Um den Wasserfall herum sind drei Kilometer Trampelpfade entstanden“, sagt Baier. Vegetationsschäden, Erosionsschäden. Im kommenden Frühjahr werde der Bereich weiträumig abgesperrt sein, kündigt Baier an. „Es werden Schilder aufgestellt und Barrieren. Und dann müssen wir kontrollieren.“

Watzmann und Königssee als gehypte, touristenträchtige Naturklischees – das mag manchem auf die Nerven gehen, ist aber keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Schon zwei Jahrhunderte zuvor gab es einen Hype, entfacht von den Influencern jener Zeit: „Der Caspar David Friedrich und die anderen Landschaftsmaler“, findet Brigitte Berreiter vom Haus der Berge, „waren genau so bled wie die Instagrammer heute.“

Andrerseits, Hand aufs Herzerl: Wem wollte man vorwerfen, dass er sich von dieser Alpenkulisse verzaubern lässt? Wieder und wieder, Tag um Tag, kann man Touristen dabei zusehen, wie ihnen die Münder offen stehen.

Wenn sie die Wimbachklamm durchwandern, zwischen moosgepolsterten Felsenwänden, berauscht vom donnernden Grollen des Baches, vom friedvollen Glitzern des Wasserstaubs im Gegenlicht.

Wenn sie über den Königssee schippern und der Bootsführer stoppt, um mit dem Flügelhorn eine Melodie zu spielen – im Duett mit der Brentenwand, die ein glockenklares Echo zurückspielt.

Wenn das Boot sie schließlich auf der Halbinsel Hirschau abgesetzt hat, neben der Wallfahrtskapelle St. Bartholomä mit ihren roten Zwiebeltürmchen, und sie den Blick hinauf in die Watzmann-Ostwand richten.

Wenn im Winter Lawinen die Wand runtergehen, muss auch Nationalpark-Rangerin Monika Lenz, die regelmäßig Besuchergruppen auf der Halbinsel empfängt, immer wieder staunen. „Das hallt dann zwischen den Wänden und man hört es kilometerweit – als wär’s direkt nebenan.“

Die ganze Halbinsel Hirschau ist genau genommen Lawinenland, entstanden aus dem Geröll der Ostwand. Eine gute Wanderstunde vom Ufer des Königssees steht – Mund auf! – die Eiskapelle, ein kurioses Bauwerk der Natur. Eine Art Mini-Gletscher. Auf nur 930 Metern Höhe dürfte es den eigentlich nicht geben. Aber der Watzmann lädt derart viel Schnee auf ihm ab, dass auch ein langer, warmer Sommer sich daran die Zähne ausbeißt.

Aus dem eisenbahntunnelgroßen Gewölbetor des Schneefeldes, das der Eiskapelle ihren Namen gab, sprudelt der Eisbach. Bei Starkregen oder Schneeschmelze spült er Geröll von der Wand bis ans Ufer des Sees. An den anderen Tagen versiegt er in seinem Bachbett – und erreicht den Königssee unterirdisch. „Manchmal“, sagt Rangerin Monika Lenz, „blüht am Bach sogar ein Edelweiß.“ Auch diese Blume dürfte es hier unten eigentlich nicht geben. Wie die Eiskapelle wurde sie von König Watzmann aus ihrer hochalpinen Klimakomfortzone hinabbefohlen.

Wer die raueste hochalpine Klimazone sucht, die die Berchtesgadener Bergwelt zu bieten hat, findet sie vier (teils steile) Stunden auf- und südwärts von St. Bartholomä, droben am Funtensee. Dort, auf 1601 Metern, ist es im Winter mitunter 20 Grad kälter als am Kärlingerhaus, das nur rund 30 Meter höher liegt. Klingt unwahrscheinlich. Hat mit der außergewöhnlichen Topografie zu tun. Der See liegt in einem Talkessel, in den Kaltluft von den umliegenden Berghängen fließt. An Weihnachten 2001 wurde hier die deutsche Tiefsttemperatur gemessen: minus 45,9 Grad Celsius.

Am Funtensee liegt auch eine kleine Brennhütte. Etwa alle sieben Jahre kommen Wurzelgraber der Enzianbrennerei Grassl rauf, um in den umliegenden Hängen die Wurzeln des Gelben Enzians und des violetten Pannonischen Enzians aus dem Boden zu hacken, bis zu 30 Kilogramm pro Mann und Tag. In der Hütte werden sie vom Bergbrenner gehackt, eingemaischt und zweimal gebrannt. „Wenn man sich wundert, dass der Grassl dort rumwurschtelt …“, sagt Nationalpark-Rangerin Lenz: „Der darf des.“

Warum der Grassl das darf? Die Enzianbrennerei verfügt über ein Wanderbrennrecht. „Das“, erklärt Karsten Brust, seit 32 Jahren in Diensten von Grassl, „hat uns die Fürstpropstei Berchtesgaden 1692 verliehen. So lange gibt’s die Enzianbrennerei schon. Den Nationalpark gibt’s gerade mal rund 40 Jahre.“ Drei Grassl-Brennhütten liegen innerhalb der Nationalparkgrenzen. Man hat sich arrangiert, auch weil die Enziane jahrelang Zeit haben, sich zu erholen.

Wirtschaftet man in solchen Zeithorizonten wie die Enzianbrennerei, bleibt einem nicht verborgen, wenn sich innerhalb nur einer Dekade etwas wandelt in den Bergen. „Um 2010 herum waren unsere Enziane noch auf 1000 Metern unten“, sagt Brust. „Heute müssen wir in einer Höhe von 1200 bis 2000 Metern graben.“

Die Zeit der Berchtesgadener Märchenbergwelt, wie sie sich uns heute zeigt, läuft ab. Das weiß auch Roland Baier. „Der Temperaturanstieg durch den Klimawandel ist in den Alpen doppelt so hoch wie im Flachland“, erklärt der Nationalparkleiter. „Die Artengemeinschaften verschieben sich. Und unsere Gletscher, Watzmanngletscher, Blaueisgletscher …“ Baier führt den Satz nicht zu Ende.

Das lässt Raum für einen Schlusssatz, der einer Märchenwelt würdig ist: Wenn sie nicht geschmolzen sind, dann leben sie noch heute.