Zeitenspiegel Reportagen

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Erschienen in FR7, Magazin der „Frankfurter Rundschau“ am 9./10. Juli 2022

Von Autor Jan Rübel

Es gibt Menschen wie Peter Wimmer. Er hat einen rechtlichen Betreuer. Als sein bürgerliches Fundament bricht, kann er nicht mehr für sich selbst bestimmen. Doch mit der Hilfe vom Staat gerät er in ein Niemandsland, aus dem kein Weg hinausführt. Eine Geschichte von Beistand, der zum Fluch wird.

Wie rasch sich der Mann durch die Welt von gestern klickt. Stark vornübergebeugt, einen Laptop auf den Knien, schickt er seinen Blick schmalen Rechtecken hinterher, wie ein Güterzug auf holprigen Gleisen rattern sie hinauf, 430 mit Worten bepackte Zellen, Excel-Tabelle 1 von 30, „Übersicht Wohnungsausstattung Frühlingstraße 1“, allesamt Accessoires eines früheren Lebens: „3 Barhocker höhenverstellbar, Edelstahl, Sitzfläche und Lehne rot, 240,00 Euro“, „Elektrische Salzmühle rot, 15,00 Euro“ oder „Monopoly, gebraucht, 20,00 Euro“ vor „Trivial Pursuit, gebraucht, 20,00 Euro“.

Peter Wimmer hockt auf dem Bett, sein rechter Zeigefinger hackt im Stakkato auf die Pfeiltaste des Rechners. Ein Heizlüfter im Raum pustet gegen den Winter an, der nicht ziehen will. März ist längst da. Aber noch immer verwandelt Morgenfrost die Felder draußen in ein silbernes Kristallmeer, als rollte es mit Eiswellen heran. „Wellenstein Winterjacke Rescue, schwarz, 400,00 Euro“, „Gartenzwerg ‚Warsteiner‘, Höhe ca. 50 cm, 80,00 Euro“. Mit den Gedanken kommt das verdammte Zittern. Es war doch den ganzen Morgen nicht da. Wimmer zwingt sie aus der rechten Hand heraus, damit sie stillhält, doch nun schlägt sie auf und ab, ein Geigerzähler des Gemüts.

In der Frühlingstraße 1 wohnt Wimmer nicht mehr. Vor drei Jahren, im Februar, kam er ins Krankenhaus, die Nieren versagten. Sein Leben in Schieflage, viel Alkohol, Kontrollverlust – er brauchte Hilfe. Wimmer wurde ein Fall rechtlicher Betreuung, der Staat beschloss, sich um ihn zu kümmern. Doch der ursprüngliche Beistand wandelte sich zu einer Wand. Wimmer ließ man nicht mehr in seine damals fragil gewordene Bürgerlichkeit zurück. Wie ihm ergeht es einigen Menschen in Deutschland, die sich in sozialer Sicherheit wägen und nicht ahnen, von einem Tag auf den anderen in bürokratische Mühlen zu geraten – in ein Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht, in dem Mancher auf der Strecke bleibt. Wie viele es sind, ist unbekannt. Rund 1,3 Millionen Menschen in Deutschland werden betreut. Die Zahlen stagnieren seit 20 Jahren; seit 2017 veröffentlicht das Bundesamt für Justiz keine Daten mehr dazu, einige Bundesländer liefern ihm keine Zahlen; eigentlich ein Verstoß gegen die von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention, die solch eine Überprüfung fordert. Teilweise führen die Gerichte noch handschriftliche Strichlisten, die über die Oberlandesgerichte bei den Landesministerien landen – ein Vorgehen wie vor hundert Jahren und Zeugnis für die chronische Unterfinanzierung der Justiz, der es an Technik und Personal grundsätzlich mangelt. Und es erzählt vom wenigen Interesse des Staates an den Schicksalen, die hinter Betreuungen stehen.

Der Weg vom Bahnhof in Holzkirchen, der wirtschaftlich stärksten Kommune des Landkreises zwischen München und dem Tegernsee, hin zu Wimmer führt entlang lauter Ausstattungen von Achtsamkeit: Neben dem „Unverpackt-Café“ steht ein „Welt-Laden für fairen Handel“; an einer Parfümerie geht es rechts, nach einem Kosmetik-Institut franst der Ort aus, endet auf freiem Feld. Dann irgendwann ein einsames Reihenhaus, alt und arm. Seit 20 Jahren soll es eigentlich abgerissen werden. Menschen in sozialer Randlage sind hier untergebracht, wie Wimmer: ein 15 Quadratmeter großer Raum, kein Schlüsselschloss, keine Heizung. Ein Bett, ein quadratischer Tisch, ein Blechschrank, Gemeinschaftsklo auf dem Flur. Und eine schwarze Tasche auf dem Boden, das ist, was ihm von seiner damaligen 94-Quadratmeter-Wohnung geblieben ist. Die Hand zuckt schneller.

„Nach Informationen der ehemaligen Lebensgefährtin sei die Wohnung sehr vermüllt und müsse grundsaniert werden“, schrieb das Krankenhaus Agatharied am 26. Februar 2019 über den gerade eingelieferten Patienten Wimmer, Peter, ans Miesbacher Amtsgericht, „wegen seiner Alkoholerkrankung habe sich die Lebensgefährtin vor ca. 1 Jahr getrennt“. Man regte die Bestellung eines Betreuers für ihn an, „Eile ist geboten“. Auf Seite 2 steht angekreuzt: „Der/die Betroffene hat sich dazu nicht geäußert“.

Im Krankenhaus vermerkte ein Arzt in seiner handschriftlichen „Stellungnahme zur Betreuungsbedürftigkeit“, „Pat. wurde vom Rettungsdienst in völlig verwahrloster Wohnung vorgefunden“, und dazu näher: „verraucht, leere Alkoholkanister“. Die Diagnose: „Schwere kognitive Störung DD Korsakov-Syndrom“ – eine Gedächtnisstörung, wie sie schwer Alkoholkranke erleiden. Wimmer steht auf, er zieht an seiner Jogginghose, eine weitere hängt im Schrank, zehn Designerjeans habe er besessen, aber das war „vorher“. „Nach zehn Tagen im Krankenhaus ging es wieder einigermaßen.“ Der Arztbericht weiter: „Möchte Krankenhaus selbständig / mit Antrag (!) verlassen trotz Erkr. ? Gefährdung für sich und andere + selbstverletzendes Verhalten“. Das Fazit: „Es ist keine Besserung … abzusehen, da der Schaden irreversibel ist.“ Und auf Frage 13, „Empfehlung zur voraussichtlichen Dauer der gesetzlichen Betreuungsbedürftigkeit“, lautet die Antwort: „lebenslänglich“. Teppich, Matratze und Bettdecke in Wimmers Raum sind im gleichen Braun. Wie seine Augen, der Dreitagebart und die Haare, sorgsam nach hinten gekämmt.

Das Amtsgericht Miesbach ordnete eine Betreuung an. Wimmer wurde vom Krankenhaus zur Kurzzeitpflege an das Pflegeheim St. Elisabeth in Schliersee überwiesen. In der Regel dauert sowas ein paar Wochen. Bei Wimmer wurden es 26 Monate. Noch am selben Tag kündigte der bestellte Betreuer Wimmers Wohnung und ließ sie räumen. Im „Vermögensverzeichnis zum Stichtag“ notierte er Aktiva auf diversen Konten in Höhe von 6045,31 Euro. Bei Punkt „1.8 Einrichtungsgegenstände“ schrieb er: „ohne Verkaufswert“. Und unter Punkt 1.9: „Miniatur Autosammlung befindet sich in Kartons im Heim ca 500,00 Euro“. Wimmer sagt, manchmal frage er sich, ob er dies alles träume.

Für die Zeit vor seiner Einweisung verweist er auf die 30 Exceltabellen, aus der Erinnerung heraus gefüllt, wie er sagt, sie erzählen von einem bürgerlichen Leben, 40 Jahre in Arbeit als Schlosser, Kaufmann und Techniker einer Hausverwaltung, dann die Kündigung. Die letzten Monate bezog er Arbeitslosengeld I. Sein Leben geriet in Schieflage, inmitten einer Sammlung von Allem, das den Mercedesstern trägt: von bedruckten Gläsern über Schilder bis zu Modellautos, das meiste seltene Sammlerstücke, wie er erzählt. Wimmer beziffert ihren Wert auf: 80.000 Euro; genau überprüfen lässt sich dies nicht. Seinen Betreuer habe er in 26 Monaten dreimal gesehen.

Im Pflegeheim St. Elisabeth lebte Wimmer, 57, zwei Jahre lang mit Patienten zwischen 80 und 100 Jahren, viele von ihnen dement. Seit seiner Einweisung trank er keinen Alkohol, er bekam keine Therapie, keine Entgiftung, er hörte schlicht auf mit dem Zeug. Sein Geist kehrte zurück. Wimmer gesundete, ohne besondere medizinische Pflege. Und er wollte raus. Fünf Briefe schrieb er insgesamt an die zuständige Richterin. Sie antwortete ihm nicht. Im Februar 2020 besuchte ihn eine Mitarbeiterin des Landratsamts, in einem Schreiben berichtete sie auch über ein Gespräch mit der Einrichtungsleitung: Prinzipiell und an allem würde Wimmer „herumnörgeln“. Weder bei Personal noch bei Mitbewohnern sei er beliebt. „Die Leute vegetierten da vor sich hin, und ich mittendrin“, sagt Wimmer. „Fragte mich, was ich dort soll. Es war ein Sterbehaus.“ Er beschwerte sich weiterhin, schließlich untersuchte ihn im Mai 2020 eine weitere Ärztin fertigte ein neues Gutachten an, „die untersuchte mich lange, sprach viel mit mir“, sagt Wimmer, „sie machte Tests“.

Bei einem Demenzscreeningverfahren erzielte Wimmer 28 von 28 möglichen Punkten, keine Auffälligkeiten. Die Ärztin notierte: „Das … vordiagnostizierte beginnende amnestische Syndrom hat sich inzwischen durch die durchgängige Alkoholkarenz erfreulicher Weise zurück gebildet.“ Weiter: „Er ist in der Lage, sich in Wort und Schrift adäquat zu artikulieren und ist demnach als geschäftsfähig zu bezeichnen, entsprechend wäre die Fortführung der Betreuung gegen den erklärten Willen des Herrn W. aus psychiatrischer Sicht nicht rechtfertigbar.“ Nach Kenntnis der erhobenen Befunde und Untersuchungen bestünde eine chronische Alkoholabhängigkeit, daher empfahl die Ärztin die Fortführung einer Betreuung, aber einen Wechsel von Betreuer und Einrichtung. Der Bericht endet: „Herr Wimmer ist durchaus in der Lage, einer Ladung zur Anhörung beim Amtsgericht Miesbach Folge zu leisten.“

Im August schickte die Ärztin den Bericht ans Gericht. Dort blieb er liegen bis November. Dann erst ging er auch an Wimmer selbst. Der schrieb prompt eine Stellungnahme und forderte eine Entlassung aus der Betreuung; eine neue Richterin kam, ein erneutes Gutachten auch. Am 17. Mai dann war er frei. Doch wohin? Wimmer wollte ins Krankenhaus, seine Muskeln waren im Pflegeheim zurückgebildet, eine Reha wollte er nun, doch der Krankenwagen hielt vor einer Arztpraxis. Der Sanitäter stieg aus, ging hinein, „und kam mit einer Einweisung in die geschlossene Psychiatrie von Agatharied heraus“, erzählt Wimmer. Er nimmt sich eine Zigarette, raucht sie in drei Zügen zur Hälfte und macht sie wieder aus. „Ich muss sparen.“ Es war Pfingsten, die Chefärztin nicht da, so blieb er in der Psychiatrie, bis sie ihn nach einer Woche, wieder zurückgekehrt, gefragt habe: „‘Was machen Sie hier eigentlich?‘“ Ein Freund habe ihn dann abgeholt, zuerst in ein Hotel, dann in die Wohnung eines anderen Freundes.

Er schaut auf die Zigarette im Aschenbecher auf den Boden. Nimmt sie wieder hoch und steckt sie an. Das Fazit seiner Betreuung lautet Mittellosigkeit. Neustart von Null. Wimmer war verrentet worden, er lebt von 930 Euro im Monat, die Zimmermiete kostet 150 Euro. Es gibt einen Satz, den sagt Wimmer in einem Gespräch immer wieder: „Ich will mein Leben zurück.“

Warum wurde seine Wohnung in der Frühlingsstraße 1 noch am selben Tag aufgelöst, wohin kamen all die Sachen? Wer dazu fragt, stößt auf Schweigen. Sein Betreuer äußert sich auf Anfrage der „Frankfurter Rundschau“ nicht. „Das nenne ich legalisierte Vermögensvernichtung“, sagt Volker Thieler am Telefon. Der Professor ist Wimmers Anwalt. Um die 1000 Fälle habe er in den vergangenen Jahrzehnten zusammengesammelt, deren Strickmuster: Betreuerinnen und Betreuer unterlägen keiner ausreichenden Kontrolle. Eine spezielle Ausbildung zu diesem Beruf gibt es auch nicht. Die Betreuer werden von Richtern ohne öffentliche Ausschreibung ernannt und nach einer Fallpauschale bezahlt, im Schnitt um die 300 Euro im Monat; um davon leben zu können, müssen schon eine Menge Klienten her. Ziel der Betreuung ist, dass sie die Bedürftigkeit des Betreuten mindert, die Selbstbestimmung stärkt. Das aber verlangt Zeit. Betreuer sind nur rechtliche Stellvertreter, zu Besuchen sind sie nicht verpflichtet. Und dann ist da noch die Sache mit dem Eigentum.

Artikel 14 des Grundgesetzes regelt zwar das Recht auf Eigentum. „Es gibt keine gesetzliche Grundlage dafür, dass Betreuer den Leuten das Eigentum wegnehmen“, regt sich Thieler auf. Der Anwalt hat sich auf Missbrauchsfälle im Betreuungsrecht spezialisiert, ist Gründer des Instituts Betreuungsrecht. 65 Jahre ist er alt, ans Aufhören denkt er nicht. Irgendwie hängengeblieben scheint er in diesem Komplex. „Ich erlebe oft, dass Betreuer ohne Rücksprache mit den Betreuten Gegenstände aus der Wohnung verkaufen oder einem Entsorger übergeben.“ Nicht selten würden sie dazu auch von den Sozialbehörden gezwungen, damit diese nicht für Mietkosten aufkommen müssten. Thieler sieht ein schwarzes Loch, in das viele Menschen fallen, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt. „Seit vielen Jahren wird am Betreuungsrecht dies und das verändert“, sagt er, „und es gibt im Trend eine stetige Verbesserung für die Betreuten, aber nach wie vor Lücken und vor allem keine echte Kontrolle bei der Umsetzung“. Müde fühle er sich nach all den Jahren, verstehe auch nicht, warum dies so wenige interessiere, obwohl es jeden treffen könne. „Jede Woche werden mir zwei, drei Fälle zugespielt.“

Um die 13.000 berufliche Betreuer gibt es in Deutschland, genaue Zahlen werden nicht erhoben. Doch ihr Anteil an den Betreuungen ist stetig gestiegen, mittlerweile beträgt er 50 Prozent, die anderen sind ehrenamtlicher Natur. Berufliche Betreuer bilden ein wichtiges Scharnier zwischen dem Staat und Bürgern in Not. Viele von ihnen arbeiten engagiert und mit hohem Zeitaufwand, der nicht entsprechend vergütet wird. Und sie sind mit Elend konfrontiert, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Harte Entscheidungen müssen sie zuweilen treffen; nicht selten sehen sie sich ungerechten Vorwürfen ausgesetzt, Undankbarkeit. Letztlich ist die Beziehung zwischen Betreuern und Betreuten machtbasiert und damit anfällig für Konflikte. Missbrauch bleibt nicht aus. Auch diese Zahlen werden bundeseinheitlich nicht erhoben, aber allein in Berlin gab es 2021 insgesamt 30 Ermittlungsverfahren der Polizei gegen amtliche Betreuer wegen des Verdachts auf Untreue; andere Strafdelikte wie Körperverletzung oder Diebstahl werden nicht beruflich vermerkt. 2020 waren es 52 Ermittlungsverfahren, 2019 46 und davor 48. Manchmal offenbaren sich Eisbergspitzen, wie gerade am Heidelberger Amtsgericht. Die Staatsanwaltschaft hat gegen einen Berufsbetreuer Anklage erhoben, der 35-Jährige soll von mehreren Klienten mehr als eine halbe Million Euro auf ein Privatkonto überwiesen haben. Anwalt Thieler erzählt von einer verkauften Wohnung, die der Sohn eines Betreuers erwarb, oder von Angehörigen, die das Haus kaufen wollten – dieses aber unter Wert von der Betreuerin über eine Bank veräußert wurde, weil kein Vorkaufsrecht besteht.

Bleibt die Frage, ob vor der richterlichen Bestellung einer Betreuung andere soziale Hilfen wie Betreutes Wohnen ausgeschöpft werden, welche weniger in die Persönlichkeit eingreifen; im internationalen Vergleich sind die Betreuungszahlen in Deutschland recht hoch, Österreich hat nur die Hälfte, in skandinavischen Ländern sind es noch weniger. Eine schon beschlossene Reform des Betreuungsrechts tritt 2023 in Kraft und baut freiwillige Unterstützungsmaßnahmen aus; die Frage zum Schutz von Eigentum aber bleibt zum Beispiel ungelöst. Den Angehörigen darf aus einer zu räumenden Wohnung nichts überlassen werden, auch nichts Wertloses. Dann aber kommt es weg. Thieler: „Mir hat etwa das Kölner Gericht gesagt: ‚Wir haben kein Geld, um das Zeug zu lagern.‘“

Oft mag beim Vorgehen der Betreuer der Gedanke vorherrschen: Einmal im Krankenhaus oder Heim, kommen die Klienten eh nicht mehr wieder. So wird es vielleicht auch bei Heide Gering* gewesen sein. Als Wimmer im Mai 2020 aus seiner Betreuung entlassen wurde, rutschte sie zeitgleich 620 Kilometer nördlich in Berlin-Pankow in eine hinein, wegen eines doppelten Oberschenkelhalsbruchs. „es war kurz vor meinem 85. Geburtstag“, erinnert sie sich, als sie in ihre Wohnung bittet, „immer nur rin, hab ja selten Männerbesuch“. Sie lächelt verschmitzt.

Gerings Haare schimmern silbern, sie wirft sie über die Schulter nach hinten. „Hier, die Gardinen sind neu, das Bett auch, und der Teppich“, lässt sie ihren Arm durchs Zimmer wandern. „Als ich nach dem Bruch wieder nachhause kam, dachte ich: Was ist denn hier passiert? Ich fühlte mich wie in einem falschen Film.“

Im Krankenhaus hatte ihr der Sozialdienst eine amtliche Betreuung empfohlen. Gering, verwitwet und ohne Verwandte, fand das gut. „Das klang nach Hilfe, so als ob man mir unter Arme greift“, erinnert sie sich. Im Juli dann, in der Reha-Klinik, stellte sich ihre Betreuerin ihr vor. „Die war nett, hatte immer einen Hund dabei, an dem hatte ich sofort einen Narren gefressen.“ Was sie denn tun könne, habe sie gefragt. „Ich fragte sie, ob sie die Kleider meines Mannes zur Kleiderspende bringen könne, und auch der Schrank im Flur könne weg.“ Von tausend Euro in der Wohnzimmerschublade habe sie ihr erzählt, die solle sie nehmen, für diese Arbeit. Ein paar Wochen später bot sich ihr bei der Rückkehr ein anderer Anblick: Die Teppiche standen aufgerollt in der Ecke, die Gardinen fehlten, das Schlafzimmer komplett leer. Das sei der erste Schock gewesen. Der zweite kam, als Gering merkte, was noch alles fehlte: die neuen Zähne, die Brille, sämtliche Unterlagen „und das japanische Teeservice und Sammeltassen, das war alles nicht billig“. Die neue Nähmaschine. Das alte Werkzeug ihres Mannes. In dem Moment sei ihr der Gedanke gekommen, „das war’s. Du darfst einfach nicht krank werden und ins Krankenhaus kommen, dann ist es vorbei.“ Was tun? Allein hätte sie nichts unternommen, sagt sie, „in meinem Alter“. Doch sie hatte Glück, in Form eines Ladens, wenige hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt.

Der Inhaber des „Mäx Baumarkt Discount“ erinnert sich noch an den Juli 2020, als Gering bei ihm vor der Kasse stand. „‘Sie kennen mich doch als Kundin‘“, habe sie gesagt. Jens Winkelmann, 64, drahtig, wacher bis misstrauischer Blick, steht in seinem Laden für Alltagsbedarf in Buch, dem nördlichsten Teil Pankows. In der Nachbarschaft ist er bekannt für sein soziales Engagement. Im Schaufenster informiert eine Wandzeitung über den Krieg in der Ukraine, ein Plakat ruft zu Spenden für Wohnungslose auf, ein anderes zum Boykott von Amazon, „dabei nehme ich selbst deren Pakete an“, sagt er, „Nachbarschaft halt“. Winkelmanns Laden bietet über die Dinge des täglichen Bedarfs auch einen Kieztreffpunkt, in ihm verweilen die Leute für ein Gespräch. Was Gering ihm damals erzählte, habe bei ihm einige Fragezeichen ausgelöst, sagt er.

„Ich begann im Internet übers Betreuungsrecht zu lesen, dort stand: Ohne Einwilligung der Betreuten darf man keine Schraube aus einer Wohnung drehen“, sagt er. Während Winkelmann recherchierte, wurde die Betreuerin bei Gering zuhause vorstellig, sie habe 10.000 Euro für die Beräumung gewollt. „Zweifellos, die Wohnung war in keinem schönen Zustand“, sagt Winkelmann. Gering sei ein wenig immobil geworden, habe nicht alles aufgeräumt. „Ich organisiere aber selbst hin und wieder Wohnungsauflösungen oder Beräumungen. 1000 bis maximal 2000 Euro sind bei der Größe realistisch, aber für 10.000 Euro organisiere ich Ihnen und Ihrer Familie einen Umzug nach Kanada.“ Als er bei der Betreuerin nachfragte, habe sie gesagt: „‘So sind meine Preise.‘“ Gering gab ihr das Geld nicht.

Zurück in Gerings Wohnung, draußen verscheuchen zwei Krähen ein Taubenpaar vom Balkon. Ein paar Tage später sei die Betreuerin wiedergekommen, erzählt Gering. „Sie weinte und meinte, es würde ihr leidtun, wie das alles gelaufen ist. Und dann fragte sie: ‚Können sie mir wenigstens 3000 Euro zahlen?‘“ Gering gab ihr das Geld nicht. Zehn Tage später merkte sie, dass von ihrem Konto 6100 Euro abgehoben waren, von ihrer Betreuerin. Die Vollmacht hatte sie ja noch.

„Die Rechnung der Beräumung kam übrigens erst eineinhalb Jahre später“ sagt Winkelmann, er ist bei Gering zu Besuch. „Nun in Höhe von 7100 Euro.“ Das fuchse ihn. „Wenn das Finanzamt ein Unternehmen prüft, dann hat es die IT-Mittel zur Prüfung jeder Stimmigkeit bei allen veranschlagten Kosten“, sagt er. „Aber die 7100 Euro hat die Betreuungsbehörde einfach abgenickt. Wenn das Formular richtig ausgefüllt sei, habe man ihm bedeutet, sei man zufrieden. Und das Betreuungsgericht erklärte sich für nicht zuständig. Bei vermuteten Unregelmäßigkeiten solle man selbst den Gerichtsweg suchen. Die Betreuerin sprach mit der „Frankfurter Rundschau“. Aber zitiert werden möchte sie nicht.

Gerechtigkeit ist Winkelmann keine Nebensache. Er studierte Politik, stammt aus einer DDR-Diplomatenfamilie, wuchs in Moskau und Pjöngjang auf. In seiner Wohnung hängt einen Partisanenplakat. Für Gering übernahm er die Vollmacht und später, als das amtliche Betreuungsverhältnis Ende 2020 endete, auch selbst die ehrenamtliche Betreuung. „Ich schickte der Betreuerin eine Mahnung über 5000 Euro“, sagt er, „für die entnommenen Geldbeträge minus realistisch berechneter Kosten für die Beräumung“. Geschehen ist seitdem nichts. Aber das Honorar in Höhe von 1500 Euro, das der Betreuerin noch zustehen würde, stehe noch aus. Das Geld fordere sie bisher nicht ein. „Und die soll sie auch nicht kriegen. Das sehe ich gar nicht ein, nicht wahr?“ Gering schmunzelt wieder. „Ach, das ist mir wurscht. Ich will nur noch gesund werden. Es ist doch eh alles weg.“ Winkelmann hat um Gering ein Netzwerk von Helfern aufgebaut, sie schauen nach ihr. Etwas, das Wimmer in Bayern auch bräuchte. Aber er bleibt allein.

Fehlende Erhebungen, ein kaputtgespartes Justizwesen, wenig Kontrolle, Gelegenheiten, die Diebe machen – und eine Menge Engagement voller Herzblut kennzeichnen das Betreuungswesen in Deutschland. Einer, der sich in diesem Dickicht auskennt, ist Horst Deinert. Der ehemalige Behördenbetreuer ist seit vielen Jahren In der Fortbildung tätig. Die hohen deutschen Betreuungszahlen im internationalen Vergleich erklärt er mit ungeordneten Strukturen und einer hohen Bürokratie im Sozialbereich: „Es fallen bei uns mehr Leute durch den Rost, die sozial aufgefangen werden könnten“, sagt er per Skype. „In anderen Ländern greifen womöglich soziale Stützungsmaßnahmen schneller.“ Die Betreuung schließlich ist der Status jener, die ganz unten angekommen sind. Deinert erzählt von den Zahlen in den vorigen Neunzigern, die nach oben schossen, parallel mit dem forcierten Abbau des Sozialstaats, bis sie sich Anfang der Nullerjahre auf hohem Niveau einpendelten. „Der freigelassene Kapitalismus forderte seinen Tribut, den schaffte Mancher nicht mehr.“ An der neuen Gesetzesreform hat er als Sachverständiger mitgewirkt. „Es ist nicht alles so geworden, wie man es sich gewünscht hätte, aber deutlich übersichtlicher“, resümiert er. Mehr Geld im Betreuungswesen, Wertschätzung für die Betreuungsarbeit, aber auch mehr Kontrolle wünscht er sich für den Komplex, „aber gleich zu Beginn der Gesetzesreformarbeit hieß es von Seiten der Länder: ‚Es darf nicht teurer werden.‘“ Deinert markiert Verbesserungen: Auch Ehrenamtliche müssen ab 2023 Führungszeugnisse vor- und ihre Vermögensverhältnisse belegen, „bisher kann jeder ohne fachliche und persönliche Eignung zum ehrenamtlichen Betreuer bestellt werden“. Berufliche Betreuer müssen dies dann alle drei Jahre, nicht nur zu Beginn – und für die Zulassung haben sie einen 360-Stunden-Lehrgang zur Sachkunde zu absolvieren. „Es sollte eine höhere Hürde geben, aber das ist ein Anfang für die Fachlichkeit.“ Den gab es schon mal. 1989 wurde das damalige rigide Vormundschaftsrecht stark im Sinne der Betreuten überarbeitet. „Doch damals drängte die Zeit, man musste vor der Wiedervereinigung fertigwerden und schaffte nur eine halbe Reform, die 1992 in Kraft trat“, erinnert sich Deinert. „Der Rest sollte später kommen.“ Es wurde später. Und auch nicht ganz.

Im bayerischen Holzkirchen, am Ortsrand, trifft eine plötzliche Nachricht Wimmer unvermittelt. Eine ZDF-Journalistin recherchiert in seinem Fall, sie erhält vom Amtsgericht Miesbach die Information: Eine Genehmigung für Mietkündigung und Räumung lag nie vor. Sie wurde wohl nie beantragt. Dies ist aber Bedingung dafür. Anwalt Thieler ist begeistert, er sieht eine Handhabe für Entschädigung. Wimmer dagegen zeigt sich am Telefon fassungslos. „Die haben sich um gar nichts geschert. Wer bin ich denn?“ Thieler schickt der Berufshaftpflichtversicherung des Betreuers eine Schadensmeldung samt Forderung: Verschwundene Wohnungseinrichtung in Höhe von 150.000 Euro, Schmerzensgeld 20.000 Euro und ein Mietzuschuss für eine zu erwartende höhere Miete bei einem Umzug in eine „normale“ Wohnung; in der Frühlingstraße hatte Wimmer 670 Euro im Monat gezahlt.

Wochen ziehen vorüber. Es wird wärmer, der Morgenfrost hat sich verabschiedet. Dann endlich meldet sich die Versicherung, sie erklärt sich für nicht zuständig. Der Betreuer solle sie beauftragen, den Schaden zu regulieren. Was der nicht tut. Das Pingpong geht weiter. Die Gespräche mit Wimmer am Telefon geraten verzweifelter. Statt „Ich will mein Leben zurück“ sagt er nun: „Ich kann nicht mehr.“ Weitere Wochen vergehen. Thieler schreibt dem Betreuer, fordert ihn nochmals auf, sich bei der Versicherung zu melden. Eine Antwort erhält er nicht. Dann ist der Mai da. Heizt ein wie im Sommer, die Luft ist schwül, erste Gewitter ziehen auf. „Ich habe gestern Strafanzeige gestellt“, sagt Thieler ins Handy, wegen der Wohnungsräumung ohne richterliche Genehmigung. Aber ändern würde sich für Wimmer erstmal nicht viel. „Die Auseinandersetzung mit der Versicherung ist Privatrecht.“ Ein Anruf bei Wimmer. Er fragt: „Und was bringt mir das jetzt?“ Alles neu macht dieser Mai nicht.