Zeitenspiegel Reportagen

”Wir müssen gut darin werden, menschlich zu sein.“

Erschienen im MUT-Magazin #6, Oktober 2021

Von Autor Tilman Wörtz

Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz (KI) ist es wichtiger denn je, auf Kreativität, Einfühlungsvermögen und Gemeinschaftssinn zu setzen. Darin sind wir den Robotern überlegen.?

Computer erledigen viele Aufgaben heute schon schneller und besser als der Mensch. Denn während Nervenzellen maximal 500 Signale pro Sekunde abfeuern, senden Mikroprozessoren eine Milliarde Signale, also zwei Millionen Mal mehr. Nervenzellen leiten diese Signale mit 100 Metern pro Sekunde weiter, in Computern reisen Daten mit Lichtgeschwindigkeit auf der Platine.

Angefangen hatte es bescheiden: Zuerst übertrafen Computer den Menschen beim Speichern großer Datenmengen oder beim Multiplizieren und Wurzelziehen. Mittlerweise lösen sie so komplexe Aufgaben, dass von „künstlicher Intelligenz“ (KI) gesprochen wird. Künstliche neuronale Netze imitieren menschliche Gehirne, sie vernetzen digitale Knoten in vielen Schichten und erlauben dem System selbständiges Lernen.

Wenn die Intelligenz von Computern der menschlichen in immer mehr Bereichen überlegen wird, was bedeutet das für unser Bildungssystem? Welche Fähigkeiten müssen Kinder noch lernen und vertiefen? Die Schlussfolgerung dürfte viele freuen – und wichtig sein bei der Berufswahl.

Der Nutzen und die Konkurrenz durch Maschinen sind bereits gewaltig: Künstliche Intelligenz analysiert Röntgenbilder fehlerfreier als Radiologen. Sie kauft und verkauft täglich Wertpapiere in Milliardenhöhe an den Börsen. Sie erkennt Gesichter besser als die meisten Polizeibeamten. Sie steuert Autos ohne Fahrer. Künstliche Intelligenz verwendet in Sozialen Medien wie Facebook Algorithmen und leitet Vorlieben und Träume ab – die KI scheint uns besser zu kennen als viele Freunde.

Die Anwendungen sind unterschiedlich, die KI-Programme lernen aber nach demselben Prinzip: Sie bekommen ein Ziel und werden mit sehr vielen Daten gefüttert und trainiert, etwa mit Tausenden Spielen von Schachgroßmeistern. Die KI identifiziert die Muster: Welche Züge sind auf dem Brett wann genau erfolgreich? Dann wendet sie diese Züge in ähnlichen Konstellationen an. Das Programm AlphaZero braucht nicht mal mehr alte Schachpartien als Vorlage. Es lernt, in dem es immer wieder gegen sich selbst spielt.

Auch im Krankenhaus ist KI nützlich. Bei Röntgenbildern gleicht sie Farbmuster mit Tausenden bereits analysierten Aufnahmen ab und „lernt“ krankes Gewebe zu erkennen. Ein Medizinstudent trainiert diese Fähigkeit jahrelang im Studium. Die Software liest Millionen Röntgenbilder in wenigen Stunden. Der nächste Radiologe muss dafür erst an einer Universität ausgebildet werden - die Software kann ihr Wissen beliebig oft und an beliebig vielen Kliniken der Welt anwenden. Dieser Vorteil ist unschlagbar.

KI ist oft billiger im Einsatz und das verändert radikal wie wir arbeiten und leben. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OECD) besteht für gut jeden zweiten Arbeitsplatz das Risiko, dass er verschwinden wird oder dass sich die Anforderungen radikal verändern. Bankangestellte und Finanzanalysten, Anwalts- und Steuergehilfen, Taxi- und Lkw-Fahrer, Call-Center-Mitarbeiter und Supermarkt-Kassiererinnen erledigen Arbeit, die Künstliche Intelligenz bald günstiger und fehlerfreier leisten wird. Sie haben eine Frage zu ihrer neuen Waschmaschine oder der Flugreise? Der Service-Bot beantwortet sie Ihnen ohne Warteschleife. Sie hätten gerne ein Kreditangebot für Ihr Eigenheim? Dafür müssen Sie nicht mehr zur Bank. Nachdem Roboter bereits Menschen in Fabriken ersetzt haben, revolutioniert KI nun die Büros.

Die Welt wandelt sich schnell - doch die Lehrpläne unserer Schulen ähneln denen unserer Kindheit vor Jahrzehnten. Das kann nicht funktionieren.

Wir müssen Schule neu denken! Wir müssen mutiger sein und das Kleinklein vergangener Bildungsreformen überwinden. „Mehr und bessere Bildung ist keine Antwort auf den Wettlauf mit der KI“, sagt der australische Datenwissenschaftler Jeremy Howard. Es geht um einen grundsätzlicheren Wandel.

Denn unser Bildungssystem ist im Industriezeitalter entstanden. Es bereitet Menschen darauf vor, standardisierte Waren in Fabriken herzustellen. Die Menschen sollten Fehler vermeiden und ein bestimmtes Wissen beherrschen, dass sie im Arbeitsleben dann bis zum Ende anwendeten. Wer heute in die Schule kommt, wird erst im Jahr 2080 in Rente gehen. Wir können nur vermuten, dass sich unsere Kinder ständig neu auf den digitalen Wandel einstellen müssen – und dafür müssen wir sie befähigen.

Der kürzlich verstorbene britische Bildungsforscher Ken Robinson sagte: „Kinder haben außergewöhnliche Fähigkeiten, neue Wege zu gehen. Sie haben keine Angst, etwas falsch zu machen. Aber wir vergeuden dieses Talent. Wir unterrichten es weg. Ich denke, dass Kreativität heute genauso wichtig ist wie Lesen und Schreiben und wir sollten sie gleichwertig behandeln.“ Robinson forderte, die weltweite Fächerhierarchie in den Schulen abzuschaffen: Oben stehen Mathematik und Sprachen, unten verkümmern die musischen Fächer - also genau die, bei denen Kreativität erprobt und erlebt wird.

Diese Neubewertung würde Entscheidendes ändern. Mathematik und Sprachen können über standardisierte Tests abgefragt und benotet werden, Kreativität nicht. Denn sie unterbricht Muster oft willentlich. Anders als Künstliche Intelligenz, die über das Erkennen und Anwenden von Mustern funktioniert. Deshalb ist Kreativität künstlicher Intelligenz so oft voraus. Weil sie gegen den Strich bürstet, neue Wege findet und vermeintlich irrationale Ziele setzt und damit innovativ ist.

Das kann nur das menschliche Gehirn. Denn es ist mit Bewusstsein ausgestattet. Es kann empfinden und sich was wünschen. Kognitionswissenschaftler haben bis heute keine Erklärung dafür, wie dieses Bewusstsein entsteht. Es befähigt uns, Werte zu definieren. Dazu brauchen wir eine Gemeinschaft um uns herum, wie Familie, Freunde oder Schulklassen. Dort trainieren Kinder, sich in andere hineinzufühlen und bilden gemeinsame Werte. Bildung kann in diesem Sinn als die Entwicklung unseres Wertegerüsts verstanden werden. Solche Bildung brauchen wir, um künstlicher Intelligenz sinnstiftende und menschliche Ziele vorzugeben.

Seit 15 Jahren wird der Deutsche Schulpreis an Schulen verliehen, in denen „heute gelernt wird, was morgen Schule macht“. Die Jury kürt regelmäßig Schulen, in denen kreative Projektarbeit und Gemeinschaftsaktivitäten einen besonderen Stellenwert haben. Dort werden Stundenpläne und Fächergitter durchbrochen. Es werden Theaterstücke geprobt, Boote und Hütten gebaut, Reisen gemacht. An vielen der ausgezeichneten Schulen glauben die Lehrer, dass Lernen in Gemeinschaft eng verknüpft ist mit individuellem Lernerfolg und dass auch sozial schwache oder behinderte Menschen dadurch gefördert werden.

Schulen mit dem Mut zu so einem Unterricht vermitteln Kindern und Jugendlichen heute schon die Werte und Ziele, die sie auf das Zeitalter der KI vorbereiten. Sie fördern Eigenschaften, in denen Menschen besser sein werden als Roboter. Dazu gehören kreative Tätigkeiten wie Musik, Architektur oder Kunst. Oder einfühlsame Fähigkeiten wie Pflege, Lehren oder Coachen. Oder komplexe Anforderungen wie Informatik, Wissenschaft oder Chirurgie. Bei letzterem sind logisches Denken, die Suche nach Lösungen und filigrane Handarbeit oft eng verknüpft.

Kreativität, Einfühlungsvermögen und, Gemeinschaftssinn sind zutiefst menschlich - und darin sind wir Menschen den Maschinen weit überlegen. Wenn wir es schaffen, diesen Eigenschaften in den Bildungsplänen mehr Platz einzuräumen, bereiten wir eine lebenswerte Gesellschaft vor und entwickeln die richtige Haltung gegenüber Künstlicher Intelligenz. Oder wie es der KI-Forscher der University of California, Stuart Russell, ausdrückte: „Wir müssen gut darin werden, menschlich zu sein.“ Für Schule ist das besonders wichtig.