Die Vögel im Blick
Die Begegnung mit drei Enten war für Tormod Amundsen der Grund, sein Leben in Zentralnorwegen hinter sich zu lassen und an den nordöstlichsten Zipfel des Landes, nach Vardø, vier Grad nördlich des Polarkreises, zu ziehen. Bei seinem ersten Besuch der Kleinstadt erspähte er sie. Ganz friedlich schaukelten sie auf der Wasseroberfläche im Hafenbecken. Amundsen hingegen versetzte dieser Anblick in Aufregung: Weißer Kopf, schwarzer Augenring, gelbbraune Brust – zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Scheckenten zu Gesicht bekommen, eine weltweit gefährdete Art, die er zuvor nur aus seinen Bestimmungsbüchern kannte. Einige Tausend dieser Enten überwintern jedes Jahr auf den eisfreien Fjorden und Gewässern der Varanger-Halbinsel, an dessen Ostküste Vardø liegt. Der Golfstrom sorgt dafür, dass das Meer hier nie zufriert und die Scheckente darin Krebse und Muscheln findet. „Als ich überlegte, wo ich mich selbständig machen sollte, erinnerte ich mich an diese besondere Begegnung“, sagt Amundsen. „Ich war mir sicher, hier ist der richtige Ort.“ Der 42-Jährige, der mit seiner tief ins Gesicht gezogenen Wollmütze, dem dicken Anorak und seinem um den Hals baumelnden Fernglas an seinen Namensvetter, Norwegens erfolgreichsten Polarforscher Roald Amundsen, erinnert, ist Architekt. Und bekennender Vogelliebhaber. 2009 eröffnete er in Vardø sein Architekturbüro und verband damit seine zwei Leidenschaften: Fortan entwirft er Schutzhütten, Unterstände und Aussichtsplattformen für Vogelbeobachter, Ornithologen und Naturbegeisterte. In Amundsens Häuschen können sie, geschützt vor dem ständig peitschenden eisigen Wind, statt weniger Minuten mehrere Stunden im Freien ausharren, durch ihre Fernrohre und Kamerasucher in den Himmel, aufs Meer und die rauen Felsen starren, dem Gekreische und Gepiepe lauschen. Denn nicht nur Scheckenten, auch Seeadler, Graugänse, Gerfalken, Eissturmvögel, Schmarotzerraubmöwen, Krähenscharben, Tordalken und viele andere seltene Seevögel tummeln sich für mehrere Monate im Jahr rund um die arktische Kleinstadt. Die unentdeckte Vogelvielfalt „Die spektakulärsten Vögel fliegen dir hier einfach vors Spektiv“, sagt Amundsen. Obwohl die Region Varanger, zu der auch die gleichnamige Halbinsel und Vardø gehören, im Winter für fast zwei Monate in kompletter Dunkelheit versinkt, war er von Anfang an begeistert. „Hier findet man gleich drei Vegetationszonen und ihre spezielle Vogelwelt: die Taiga, die Tundra und die arktische Küste.“ Sich als Architekt im hohen Norden auf Windschutzhütten zu spezialisieren und damit aus der abgeschiedenen Region ein international bekanntes Vogelbeobachtungsziel zu machen, diese Idee hielten alle – Amundsens ehemalige Kommilitonen und Professoren, seine Freunde, seine Familie – für verrückt. Und selbst die Bewohner Vardøs verstanden nicht recht, was er an ihrer Heimat so besonders fand. Die einst prosperierende Fischerstadt steckte damals in einer schweren Krise. Von den etwa 4000 Einwohnern, die zum Großteil auf den Booten oder in den Fischfabriken gearbeitet hatten, war nur die Hälfte übriggeblieben. Die Umstrukturierung der norwegischen Fischfangquoten und die modernen Riesentrawler, die Kabeljau und Schellfisch aus der Barentssee direkt an Bord verarbeiteten, ließen der lokalen Fischerei keine Chance. 2009, in dem Jahr als Tormod Amundsen nach Vardø zog, galt die Kommune als der Ort mit den schlechtesten Erfolgschancen für Unternehmen in ganz Norwegen. Noch heute scheinen einige der bunt gestrichenen Häuser unbewohnt, Fabrikhallen am Hafen stehen leer. An Gebäudewänden prangen große, kunstvolle Graffitis. Ein künstlerisches Aufbäumen gegen die Tristesse. Auf einem alten Kran am Hafen flattert eine Graffito-Scheckente. Amundsen hat sie dorthin gesprayt. Mit ihr und anderen Vogelkunstwerken wollte er die Menschen in der Stadt auf die einmalige Tierwelt vor der Haustür aufmerksam machen. „Ihnen war überhaupt nicht bewusst, welch eine spektakuläre Vogelvielfalt wir um uns haben“, sagt Amundsen. Damals hätten die Dorfbewohner die Vögel in zwei Kategorien eingeteilt: Alle größeren waren „mås“, kleinere nannten sie „titting“ – Möwe und Spatz. Die Einwohner Vardøs waren ihr ganzes Leben von den Vögeln umgeben, doch interessiert hatte sich kaum einer für sie. Und dass ihre gefiederten Nachbarn gar Vogelenthusiasten anziehen und Arbeitsplätze im Ökotourismus schaffen könnten, das konnten sie sich schon gar nicht vorstellen, sagt Amundsen. „Ich erntete viel Gelächter.“ Im Birdwatcher-Paradies Doch der Architekt ließ sich nicht beirren. Er organisierte ein Vogelfestival, gab Workshops an Schulen und baute – zunächst ohne Bezahlung – seine ersten Schutzhütten. Eine davon steht auf Hornøya. Die Insel im Eismeer vor Vardø, nicht einmal einen halben Quadratkilometer groß, ist seit Anfang der 80er Jahre Naturschutzgebiet. 100 verschiedene Vogelarten leben auf der Insel, einige permanent, andere nur für einige Monate. Überfahrt zu diesem Birdwatcher-Paradies. „Schau, da, die Prachteiderenten!“, ruft der Skipper und übertönt damit das Rattern des Schiffsmotors. Er verlangsamt die Fahrt. Tormod Amundsen und der Skipper blicken auf die dichtgedrängte Entengruppe vor dem Boot. Nur zehn Minuten Fahrt sind es bis zur Insel. Amundsen ist zum ersten Mal in diesem Winter auf Hornøya. Vom gefährlich schwankenden Boot klettert er über eine kleine Leiter an Land. Sofort beginnen seine blauen Augen die Umgebung zu scannen. Das Meer, die Felsen im Wasser, die Luft. „Es ist noch etwas früh im Jahr und der Wind steht schlecht, viele Vögel werden wir wahrscheinlich nicht sehen“, sagt er und stapft, in der Hoffnung sich zu irren, den steilen Weg zum Leuchtturm hoch. Bis zu den Waden versinken er und seine zwei Bürokollegen im Schnee. Immerhin: Rechts von ihnen kreisen schon mal drei Kormorane über der Bucht. Oben angekommen peitscht dem Architekten noch stärkerer Wind ins Gesicht. Sekundenschnell sind seine hellen Wimpern und der rote Schnurrbart von feinem Schneestaub bedeckt. Obwohl er die Insel wohl so gut kennt wie kein anderer, scheint es in diesem Moment, als sei er zum ersten Mal hier. „Die ganzen Farben und Schatten“, ruft er seinen Begleitern aufgeregt zu. „Fantastisch!“ Aus dem Osten, wo man bei klarer Sicht das nur wenige Kilometer entfernte Russland erkennen kann, türmen sich dunkle Wolken. Etwas verloren steht Amundsens Beobachtungshütte an der Westküste der Insel, am Fuße einer Steilklippe. Von hier aus haben die Birder, wie sich die Vogelbeobachter selbst auch nennen, den besten Blick auf das Naturschauspiel, das ab spätestens Mitte März aufgeführt wird. Unter Getöse wird dann die Steilklippe von bis zu 100?000 Seevögeln bevölkert. Kämpfen, brüten, springen Dreizehenmöwen und Wellenläufer brüten hier. Heerscharen von Papageientauchern beziehen die Oberkanten und die steilen, noch von Schnee bedeckten Hänge der Klippe. In teils blutigen Raufe?reien streiten sich die sonst so putzig anmutenden Seevögel um die beste Bruthöhle, hacken mit ihren bunten Schnäbeln aufeinander ein. Einmal erkämpft, legen die Papageientaucher, die in monogamer Ehe leben, ihre Höhlen mit Stöcken, Federn und Seetang aus, bauen Nester, um zusammen mit ihrem Partner den Nachwuchs auszubrüten und ihn mit ihrem Fang aus dem Meer zu füttern. Den größten Teil der Seevogelkolonie auf Hornøya machen aber die etwa 15?000 Trottellummen und ihre seltenen Verwandten, die Dickschnabellummen, aus. An Land bewegen sich die Trottellummen etwas unbeholfen, watscheln auf ihren Fußwurzeln. Doch im Wasser verwandeln sie sich in hervorragende Taucher, rasend schnell schießen sie durch die eiskalten Fluten, jagen in weit über 100 Metern Tiefe nach Hering und jungem Kabeljau. Doch bevor die Trottellummenküken, die im späteren Frühling auf der Steilklippe schlüpfen, in ihrem Element ankommen, müssen sie den wohl gefährlichsten Sprung ihres Lebens wagen. Noch unfähig zu fliegen, stürzen sie sich unter den lauten Schreien ihrer Eltern von der steilen Klippe in die Tiefe. Diese erste Flugstunde, bei denen die Youngster nicht selten unsanft auf einem der hervorstehenden Felsvorsprünge landen, live mitzuerleben, ist ein weiteres Highlight der Hornøya-Vogelvorstellung. Doch noch ist die Steilklippe leer. Nur eine Vorhut von etwa 1000 Lummen fliegt an der Klippe vorbei. Als Amundsen nach zwei Stunden wieder auf das Boot steigt, ist er trotzdem glücklich. Schon bald wird er wiederkommen und stundenlang für die besten Fotomotive in seiner Hütte warten. Die Jahre des Lernens Tormod Amundsens Vogelfaszination begann früh: „Als Jugendlicher war ich ein ziemlicher Freak“, sagt er. Während sich seine Mitschüler in Trondheim ihre Freizeit mit wilden Partys und durchzechten Nächten vertrieben, zog es ihn am Wochenende ins Umland, ans Flussdelta, in die Wälder und auf den Fjord. Zum Angeln. Oder, noch lieber, zum Vogelbeobachten. Mit 16 kannte er die lateinischen Namen aller europäischen Vögel. Umso erstaunlicher, dass er nach dem Abitur zunächst als Saisonarbeiter auf einer norwegischen Ölplattform in der Nordsee anheuerte. „Es war eine post-apokalyptische Welt, voller Metall, Gas und Öl, Flammen“, sagt Amundsen. Weiter entfernt von der Natur konnte er kaum sein. Doch nach den Arbeitseinsätzen auf der Plattform hatte er ausreichend Geld verdient, um auf Vogeltouren in Skandinavien, Jamaika und den USA zu gehen. Er las unzählige Bücher über Vögel, studierte ihr Aussehen, ihr Verhalten, er informierte sich über Naturschutz, über Ökologie, begann zu fotografieren, zeichnete viel, vor allem Vögel. Nach sechs Jahren – an dem Tag, als die Ölfirma ihm einen dauerhaften Job anbot – kündigte er. Wenig später begann er, in Bergen Architektur zu studieren. Schnell fiel ihm auf, wie wenig sich seine Profession, abseits von den CO2-Emissionen und dem Energieverbrauch von Neubauten, mit Nachhaltigkeit, mit Natur und Ökologie beschäftigte. Die meisten seiner Seminare konzentrierten sich auf Prachtbauten und Wolkenkratzer, auf die großen urbanen Bauprojekte wichtiger Stararchitekten. „Es ist lächerlich, wie wenig Architekten über die Ökosysteme lernen, in denen sie bauen sollen“, sagt Amundsen. „Sie bekommen nicht beigebracht, sie zu verstehen und einzuschätzen.“ So entferne die Architektur sich und den Menschen immer weiter von der Natur. Das sei besonders angesichts des Klimawandels und des großen Artenschwundes bedenklich. Er selbst habe über die ganzen Jahre als Birder miterlebt, wie die Zahl der Vögel abnahm, Arten einfach von der Bildfläche verschwanden. Amundsen sagt: „Architektur muss Teil der Lösung und nicht Teil der Probleme sein.“ Die Architektur als Werkzeug Mit seiner Firma „Biotope“ verfolgt der vogelverrückte Designer daher einen anderen Ansatz. Er sieht seine Architektur als Werkzeug, um Mensch und Natur wieder näher zusammenzubringen. „Die Menschen lieben es, in der Natur zu sein. Man muss sie nur daran erinnern und es ihnen leicht machen, den Fernseher auszuschalten und sich vom Sofa aufzuraffen“, erklärt Amundsen. Seine Hoffnung: Beobachten sie erst einmal draußen, bei garstigem Wetter durch seine Häuschen behütet, das Naturspektakel, sehen sie auch die Sensibilität des Ökosystems und erkennen, wie wichtig es ist, dieses zu schützen. 17 seiner Beobachtungshütten stehen heute allein auf der Varanger-Halbinsel und Hornøya. Alle bieten Sitzmöglichkeiten, viele sind aus Holz, einige aus Beton, die meisten sind mindestens zu einer Seite offen. Doch am Ende ähnelt keine der anderen. Thront eine hoch oben am Rand einer Klippe, schwimmt eine andere auf einem Wellenbrecher in einem Hafenbecken. Besucher begeben sich so auf Schnabelhöhe mit den arktischen Enten. „Der Ort bestimmt das Design“, erklärt Amundsen. Woher kommt der Wind? Die Sonne? Auf welchem Fundament kann der Unterstand stehen? Welche Vögel lassen sich beobachten und wie nah kann der Menschen ihnen kommen, ohne sie in ihrem natürlichen Verhalten zu stören? All diese Parameter spielen bei seinen Entwürfen eine Rolle. Während es bei vielen Architekturprojekten darum geht, wie sehr ein Gebäude heraussticht, überlegen Amundsen und seine Kollegen, wie sie die Hütten möglichst unauffällig in ihre Umgebung integrieren können. Von Vardø in die Welt Das Konzept kommt an. Privatpersonen, Gemeinden, Nationalparks- und Umweltbehörden bezahlen bis zu 25?000 Euro für die Schutzhütten. Und auch Amundsens Plan, die ganze Region unter Birdern und Naturfotografen als arktische Vogeldestination bekannter zu machen, funktioniert. Kamen vor seinem Engagement jährlich zwischen 2000 und 3000 Vogelbeobachter auf die Halbinsel, sind es heute mindestens viermal so viele. Betreiber von Unterkünften und die Gastronomie profitieren von den naturbegeisterten Touristen. In das größte Hotel der Stadt reisen zwischen März und Juni fast alle Gäste wegen der Seevögel an. Zusammen mit seinen Kollegen hat Amundsen inzwischen Naturbeobachtungshütten für Standorte in ganz Skandinavien, in Island, auf den Falklandinseln, in Großbritannien, Alaska, Russland und China entworfen. Anfang letzten Jahres eröffnete er ein zweites Büro im englischen York. Ein weiteres in Kopenhagen ist in Planung. Immer öfter muss Tormod Amundsen daher nun auf Geschäftsreise, ist manchmal nur wenige Tage am Stück in Vardø. Doch solange seine Tochter noch die Schule besucht, wird er bleiben. Und hier, wo ihn einst alle für verrückt hielten, hat er mit seiner Arbeit vieles bewirkt. Die Kinder der Stadt wachsen heute ganz selbstverständlich mit mehr Naturwissen auf. Eine Malerei der belebten Vogelklippe Hornøyas ziert, als eine Art übergroßes Lernposter, eine Wand des örtlichen Kindergartens. Und mindestens einmal im Jahr organisiert die Schule für alle Schüler einen ?Besuch der Insel. So können schon die kleinsten Bewohner Vardøs heute mehr zu den Stars der Region sagen als nur „mås“ und „titting“.