Berlin ist auch nur ein Dorf
Vor ein paar Jahren verirrte ich mich nach Berlin. Plötzlich stand ich am Potsdamer Platz und wunderte mich, was das „KaDeWe“ gleich linkerseits macht – hatte ich das Luxuskaufhaus doch ein paar Kilometer westlich an einem ganz anderen Platz in Erinnerung. Auch die Auslage erstaunte: Am teuersten war ein „Jubiläums-Akvavit“ für 15,59 Euro neben Klopapier und Dosenmilch. Jenes Berlin war ein Dorf, und zwar eines mit 500 Einwohnern, Gemeinde Seedorf, Kreis Segeberg. Und der Ort teilte mit seinem Pendant an der Spree einen gemeinsamen Anfang, nämlich durch Slawen, die dem Sumpfgebiet einst Siedlungen abgetrotzt hatten; in ihrer Sprache hieß das „Berlin“. 22 Jahre vor der heutigen Hauptstadt wurde das Berlin Schleswig-Holsteins 1215 erstmals urkundlich erwähnt. Trotz dieses Vorsprungs schienen sich die Segeberger Berliner an der Geschwisterstadt im Osten zu orientieren: Entlehnten sie doch Straßennamen wie „Unter den Linden“ oder „Heerstraße“ von ihr, nachdem einige Einwohner vor über hundert Jahren in Berliner Regimentern gedient hatten. Da schien sich jemand abzuarbeiten. „Wollen Sie die Unterschiede zu Stadt-Berlin erfahren?“, fragte mich der Bürgermeister, er hatte mit seinem Wagen am Rand des Kurfürstendamms geparkt. „Dann schließen Sie mal die Augen.“ Vogelgezwitscher, Wind und das ferne Röhren eines Traktors. „Das haben Sie in Ihrem Berlin nicht, oder?“
Ich verschwieg dem Bürgermeister, dass ich aus einem Haus nebenan auch das Piffpaff von einer Spielkonsole hörte. Überhaupt regte sich in mir leichter Zweifel. Gibt es das nicht, im anderen Berlin? Mir kam die Hauptstadt immer vertraut vor, nie wirklich an sich städtisch. Nie unheimlich urban. Unruhige und ruhige Momente hatte ich in ihr erlebt. Und ich versprach mir, auch die Metropole einer Hörprobe zu unterziehen.
Berlin an der Spree gilt in Deutschland als das große Ganze schlechthin. Mit seinen 3,87 Millionen Einwohnern hat es die zweithöchste Bevölkerungsdichte im Land, es ist seit Jahrhunderten Einwanderungsmagnet, auch die Hauptstadt der Straßenkinder und Glücksritter; neuerdings hat nicht nur quasi jedes deutsche Dorf einen Delegierten zum Wohnen nach Berlin entsandt, sondern ebenfalls für Betuchte aus den G7-Staaten entwickelte sich die Stadt zum Hotspot. Und dennoch stellte sich dieses Bewusstsein in mir nie ein: Dass ich darin städtisch lebe.
Also stellte ich mich, wieder zurück in der Hauptstadt, im Osten auf einen Platz und schloss die Augen. Ich hörte: Vogelgezwitscher, Wind und das ferne Röhren eines Traktors. Keine Playstation; wie es sich für ein Bilderbuchdorf gehört, und Kaulsdorf war gewiss eines: Traufständige, gedrungene Häuser aus vergangenen Jahrhunderten umringten den Anger in einem Dreieck – wie man früher in germanischen Zeiten Dörfer rund um einen Gemeinbesitz wachsen ließ. Wie aus der Zeit gefallen wirkte der Ort in Berlin, älter als die 1250 gebaute Jesus-Kirche, vor der ich stand. Mal durchbrach ein Auto auf dem dicken Kopfsteinpflaster das Konzert der Krähen aus den Buchen und Kastanien. Oder die Glocke vom Kirchturm, die zur vollen Stunde schlug.
Okay, vielleicht war dieser Berliner Ort ein Ausnahmebeispiel, ohne Aussagekraft. Also beschloss ich das Experiment ein paar Steinwürfe nördlich zu wiederholen. Keinen Kilometer entfernt erstreckten sich die Hochhaussiedlungen Marzahn-Hellersdorfs – himmelstürmende Monumente urbaner Stadtplanung. Doch wieder sickerte kein Geräuschbrei in meine Ohren, kein Großstadtsound. Stattdessen fand ich mich im Schatten der Massivbauten in einem grünen Labyrinth wieder. Würde man die Fußpfade dieser Siedlung in eine Karte zeichnen, sie sähe aus wie der menschliche Blutkreislauf. Manche Wege führten zu kleinen Parks, auch die breiten Häuserzeilen ließen sich durch begrünte Zwischenhöfe durchqueren und die Autostraßen ignorieren. In diesem Reich hingen Eltern ihre frisch gewaschenen Klamotten auf Wäscheleinen zwischen Masten, wie man es aus früheren Filmen kennt. Sie kamen zusammen auf einen Schwatz an Picknicktischen – oder breiteten gleich eine Decke auf dem Grün aus. Diese verwunschene Welt mit ihren verschlungenen Pfaden kannte Kreuzungen mitten im Grün, von der fünf Wege abgingen. Überall standen vielstöckige Häuser, aber es war, als existierten sie nicht. Auf jeden Meter schauten dutzende Fenster auf einen herab, aber sie waren weit weg. Die Leute grüßten sich, riefen einander Spötteleien zu, wie man es in Berlin pflegt. Kinder überall, in Spiel vertieft.
Dass Berlin vielleicht doch eher ländlich durchwirkt ist, könnte an seinen Einwohnern liegen. Viele sind in Dörfern aufgewachsen, bevor sie an die Spree zogen, so auch ich. Diese Prägungen leben in Berlin fort – und neu sind sie nicht. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Berliner nur zu 40 Prozent in Berlin geboren. Schon 1505 bemerkte Abt Trittenheim zu Spannheim, „und die Einzöglinge aus Franken und Schwaben, wie ich oft bemerket, sind mehr dem Suff ergeben als die Landeseinwohner“. Hinzu kommt Topografisches: „Berlin liegt an einer Sandwüste, die ein wenig nordöstlich von Leipzig beginnt“, schrieb Stendhal 1806. „Die Plätze sind alle nicht gepflastert, so dass man bis an die Knöchel einsinkt.“ In einem Dorf kennt man sich, Unterschiede verschwimmen zuweilen rasch. Und Berlin hat sich stets Egalitäres bewahrt. Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen Vereine wie nirgends sonst. Soziale Abstände hatten weniger Gewicht. „Die Kritik, das Negieren jeder Autorität, ist, wenn irgend etwas, ein Charakterzug Berlin“, meinte damals der Schriftsteller Ernst Dronke. Sie gefiel nicht jedem. „Aber mein Gott, was für eine langweilige, entsetzliche Stadt ist Berlin!“, beschwerte sich Fjodor M. Dostojewski in einem Brief an seine Frau.
Eine Vorstellung von Berlin ist, dass man sich in der Anonymität verliere. Aber wer länger als ein paar Tage bleibt, versteht rasch das Kiezprinzip, welches den Großraum regiert. Wie eine Agglomeration verschiedener Dörfer wirkt er. An seinem unmittelbaren Wohnort kauft der Berliner immer in denselben Läden ein, kennt die Lokale und Kneipen seines Vergnügens; ein Arzt ist in der Nähe, und die Kinder haben ihre Kita und ihre Schule vor der Haustür (theoretisch, würde sozialdemokratische Bildungspolitik keinen Strich durch diese Rechnung machen). Die Laufwege sind kurz – wie in einem Dorf. Oder gar kürzer: Die Berliner aus dem Dorf in Schleswig-Holstein erzählten mir, wie sie zur Arbeit nach Hamburg oder Kiel führen. „Wir wissen nicht mehr viel voneinander“, sagte einer an der Ortstankstelle. „Hier ist alles auseinandergelaufen. Ich weiß auch nicht warum.“ Ein Schlafort war sein Berlin geworden. Tagsüber sah man kaum jemanden auf den Bürgersteigen. Und ein anderer Bewohner am einzigen Imbiss: „Unsere Kinder spielen kaum noch draußen, bleiben vorm Rechner. Die dürfen ja auch nicht mal angeln. Irgendeiner zeigt die immer an.“ An der Hauptstadtspree dagegen sieht man immer wieder Hobbyfischer ihre Haken auswerfen, jung und alt; wie essbar der Fisch dann ist, bleibt eine andere Frage. Ein Moloch sieht jedenfalls anders aus – der Raum zeigt sich entspannt. Lebten im Jahr 1910 in den Innenstadtbezirken noch 312 Einwohner auf einem Hektar, waren es 2021 nur 119.
Auch entstehen Orte nachbarschaftlicher Zusammenkunft im großen Berlin immer wieder neu. Vor zwei Jahren wurde etwa allein solch eine Art Dorfbrunnen in meinem Kiez gebaut, drei Tischbänke werden dafür jeden Abend mit je zwei Schachbrettern belegt. „Stranger Chess“ lädt jeden Passanten ein zum freien Spiel. Längst trifft sich die Nachbarschaft, kalauert und kommentiert vorm „Späti“, einer der vielen kleinen Läden Berlins mit Öffnungszeiten in die Nacht hinein, Spielzüge und neuesten Tratsch. An einem Abend Mitte dieses Novembers hinderten auch nicht feuchte drei Grad Celsius als Vorboten des Winters das gemeinsame Stelldichein. „Frag nicht nach mein‘ Tag“, sagte ein Mittzwanziger und zog den Bauer forsch nach vorn. Seit Monaten traf sich der Student mit seinem Gegenüber, einem Assistenten an der Uni, hier zum Spiel. Dieser blockte mit dem linken Läufer, erzählte während der folgenden Züge minutenlang von seinem Job, es ging um die friesischen Sprachen und ihren Einfluss aufs Englische, da hatte er plötzlich den gegnerischen König mattgestellt. „Totgelabert“, deutete eine Frau in Wintermantel und Kunstpelzmütze den Sieg. Sie hatte die Partie mit einem Pappbecher Kaffee in der Hand verfolgt und nebenbei mit einem Kleiderverkäufer, er im bloßen Anzug samt Schal, geplauscht. Wir drei kannten uns vom Spielplatz unserer Kinder ums Eck. Eine Gruppe Teenager schlenderte vorbei, einer blieb stehen. „Komm weiter, du spielst scheiße“, rief ihm einer der Kumpel zu. „Du bist scheiße“, entgegnete er und lief ihm nach.
Direkt und wenig vornehm kann der Berliner schon sein. „Von früh bis spät rennt ein überarbeitetes Kolonistenvolk durch die Gassen, das von Würde nichts weiß“, lästerte Karl Scheffler 1910. Und konkreter zum Berliner: „Er will durchaus Großstädter scheinen und ist im wesentlichen doch Provinzler. Nein, weniger; formloser, ungebildeter ist er als der Provinzler!“ Das Ländliche wirkte mit Macht, „…eine gewisse Schusterhaftigkeit bleibt“, schrieb Theodor Fontane, „die sich vor allem in dem Glauben ausspricht: ‚Mutters Kloß sei der beste.‘“ Oder steckte dahinter doch urbanes Kalkül? „Außerdem duldet sie noch in sich die deutsche Provinz“, bemaß Joseph Roth 1927 Berlin, „freilich, um sie eines Tages aufzufressen“. So weit ist es, dachte ich auf dem Weg nachhause, noch lange nicht. Landeier wie ich fühlen sich darin pudelwohl vertraut. Berlin, angeblich seit über hundert Jahren im Werden, bleibt mir solang ein Dorf.