Zeitenspiegel Reportagen

Der Papst der Muslime

Erschienen in "Cicero", Mai 2011

Von Autor Jan Rübel

Vor 32 Jahren verschwand Musa as-Sadr in Libyen. Hat ihn Gaddafi töten lassen, oder lebt er doch noch in einem seiner Geheimgefängnisse? Der berühmte Schiitenführer könnte die neue politische Landkarte des Nahen Ostens entscheidend verändern.

Seine letzten überlieferten Worte sprach er zu einem Portier: „Ich bin auf dem Weg zu Gaddafi.“ Dann bestieg Musa as-Sadr einen Regierungswagen, fuhr die mit Palmen gesäumte Auffahrt des Strandho-tels „Ash-Shathi“ in Tripoli hoch zum leeren Meeresboulevard und verschwand. Seit diesem 31. Au-gust 1978 verliert sich die Spur jenes Mannes auf Staatsbesuch, den Zeitungsschlagzeilen als „Papst der Muslime“ feierten, Anhänger als Imam huldigten und der damals zu den bekanntesten und einflussreichsten schiitischen Persönlichkeiten weltweit gehörte.

Sein Konterfei schmückt noch heute die Straßen Beiruts. Und das melancholische Lächeln Musa as-Sadrs haben auch die Rebellen in Libyen vor Augen, während sie gerade in den befreiten Gebieten die zahlreichen Geheimgefängnisse öffnen. Libyens selbst ernannter Revolutionsführer Muammar Gaddafi ließ die Zellen im ganzen Land anlegen, zumeist unterirdisch, gänzlich abgeschirmt. „Wir haben Informationen, nach denen er noch lebt“, sagte as-Sadrs Tochter Houra der libanesischen Tageszei-tung „Daily Star“.

Der Nahe Osten wappnet sich für eine mögliche Sensation. Beirut sieht dem ersten Prozesstag am 20. Mai im Verfahren gegen Gaddafi entgegen – der Oberst ist in Abwesenheit wegen des Verschwindens as-Sadrs angeklagt. In Teheran haben Anfang März iranische Abgeordnete einen Untersuchungs-ausschuss beschlossen, der den Verbleib as-Sadrs klären soll. Und Großajatollah Ali as-Sistani, religiöses Oberhaupt der Schiiten im Irak, hat im März zum Gebet „für die Befreiung“ as-Sadrs auf-gerufen. Heute wäre er 83 Jahre alt.

Schon immer wirkte as-Sadr über Grenzen hinweg: ein Iraner, im Irak bei den höchsten schiitischen Gelehrten theologisch ausgebildet, der 1958 in den Libanon gezogen war. Zügig avancierte as-Sadr zum Führer der sozial und politisch marginalisierten Schiiten; 1,90 Meter groß, mit leuchtend grünen, tief liegenden Augen und einem fein gestutzten Bart – ein Popstar im Kleriker-Gewand, der in Moscheen und Kirchen für religiöse Toleranz und Demokratie predigte. Mit Beginn des libanesischen Bürgerkriegs schwand sein Einfluss. Viele Potentaten der Region mischten mit ihren Söldnern mit, Gaddafi fehlte natürlich nicht. Der träumte davon, aus dem Süden Libanons, dem Stammland der Schiiten, „eine gigantische Militärbasis zur Zerstörung Israels“ zu machen und sponserte palästinensische Milizen. As-Sadr ent-gegnete, die Linken im Libanon seien bereit, die herrschenden Christen bis zum letzten Schiiten zu bekämpfen. Was folgte, liest sich wie ein schlechter Kriminalroman. Am 25. August 1978 fliegt as-Sadr zusammen mit zwei Begleitern auf Einladung Gaddafis nach Tripoli. Nach den medialen Wortgefechten in den Wochen zuvor möchte man sich aussprechen, heißt es. Doch im Hotel „ash-Shathi“ angekommen, sehen die drei dabei zu, wie der „Führer“ das Treffen von Tag zu Tag verschiebt. Dann kommt der 31. August. Am nächsten Tag soll das Treffen stattfinden. Bei einem Mittagessen mit einem Diplomaten der libanesischen Botschaft meint as-Sadr: „Es kann stürmisch werden.“ Wenige Minuten später steigt er in den Regierungswagen.

Gaddafi lässt Anfang September verlautbaren, as-Sadr habe mit seinen Begleitern den Flug AZ 881 der Alitalia nach Rom genommen. Zeitgleich checkt ein „Musa as-Sadr“ im Holiday Inn am Parco dei Medici ein. Allerdings trägt er einen riesigen Vollbart, ist kleiner Statur und verwechselt in der lateinischen Handschrift Klein- mit Großbuchstaben. As-Sadr indes spricht Englisch und Französisch. Der Gast zahlt im Voraus und verschwindet. Die italienische Polizei zweifelte nie an einer Aktion des libyschen Ge-heimdienstes. Doch Gaddafi schweigt.

Heute berufen sich viele auf as-Sadr – und müssten ihn dennoch fürchten. Das Regime in Iran feiert as-Sadr als Opfer des Obersts. Doch as-Sadr stand immer für einen reformtheologischen Kurs und wäre damit heute Parteigänger der Opposition; schließlich nahm der Iran unter Revolutionsführer Ruhullah Khomeini recht schnell nach as-Sadrs Verschwinden diplomatische Beziehungen zu Libyen auf. Khomeini dürfte in seinem Schwager as-Sadr nicht nur einen inhaltlichen Rivalen gesehen haben. Auch die libanesische Hizbullah sieht sich in as-Sadrs Nachfolge, ist die islamistische Partei doch eine Abspaltung der von ihm begründeten Amal-Gruppe. Doch die strikte Dominanz des Militärapparats in-nerhalb der Partei dürfte bei as-Sadr kaum auf Gegenliebe stoßen. Und schließlich müsste sich die Elite Libanons die Frage gefallen lassen, warum die Probleme, welche der Bürgerkrieg damals aufge-worfen hatte, niemals angegangen wurden und warum sich die sozialen Unterschiede im Land sogar noch verstärken. As-Sadr wäre ein unbequemer Kritiker und Volkstribun.

Ob er tatsächlich noch lebt, darüber kursieren unterschiedliche Meldungen. Im Interview mit der panarabischen Tageszeitung „al-Hayat“ sagte Libyens ehemaliger Botschafter bei der Arabischen Liga, Abd al-Munem al-Houni, as-Sadr sei auf Gaddafis Befehl hin erschossen worden. Die Tageszeitung „ash-Sharq al-Awsat“ dagegen vermeldete, er lebe immer noch in einem Gefängnis in Sabha, rund 650 Kilometer südlich von Tripoli. Die Wahrheit wird wohl erst herauskommen, sollte Sabha, eine Hochburg des Regimes, von den Rebellen eingenommen werden. Letztlich aber stolpert Gaddafi schon jetzt über as-Sadr, ob tot oder lebendig: Libanon, wegen der Causa as-Sadr gegenüber Gaddafi dau-erverstimmt, hatte sich als aktuelles Mitglied im UN-Sicherheitsrat Mitte März vehement für die Flugverbotszone über Libyen eingesetzt. Es ist die späte Rache des Imams.