Zeitenspiegel Reportagen

Die Kinder vom Lerchenberg

Erschienen in "stern" 14/06/2018

Von Autor Frank Brunner

Susanna F. gehörte zu einer Gruppe Mädchen, die gern durch Flüchtlingsheime streifte, auf der Suche nach Abenteuern und dem Reiz des Erwachsenseins.

Eine halbe Stunde bevor der Trauermarsch vergangenen Samstag durch Wiesbaden-Erbenheim zieht, hockt Sophia* auf dem Gehweg vor einem Kiosk und zeichnet. Vor ihr liegt ein Bettlaken, auf das sie mit sorgfältigen Strichen einen Engel mit struppigen Haaren und weit aufgerissenen Augen malt. Der Engel ist ein Geschenk an Susanna, ihre Freundin. Susanna ist tot. Mutmaßlich ermordet von dem 20-jährigen Ali B., der vor drei Jahren mit seiner Familie aus dem Irak nach Deutschland gekommen war.

Während Sophia zeichnet, versammeln sich um sie herum immer mehr Menschen, vor allem Nachbarn aus den umliegenden Häusern. Eine Abordnung der Mainzer Rockergruppe „Black Devils“ röhrt mit schweren Motorrädern heran. Sophia scheint nichts davon zu bemerken, so versunken ist sie in ihre Malerei.

Sophia ist 14, so wie Susanna. Ein schmales, blasses Mädchen, die Haare hochgesteckt, schwarzes Shirt, schwarze Jeans, schwarze Schuhe, die Lippen fest zusammengepresst, die Augenlider gerötet. Sie spricht leise, fast tonlos. Kurz nach 20 Uhr zieht der Trauerzug los. Sophia klammert sich an eine gelbe Rose. „Hier haben wir uns immer getroffen“, sagt sie und zeigt auf den Abzweig zum Flüchtlingsheim am Kreuzberger Ring.

Sophia lernte Susanna vor einem Jahr in jener Unterkunft im Stadtteil Erbenheim kennen, in dem auch Ali B. und seine Familie wohnten. Sie war neugierig auf die Flüchtlinge, spazierte ins Heim. „Hier ist gerade auch ein anderes deutsches Mädchen“, sagte einer der Asylbewerber und führte Sophia in ein Zimmer. Dort saß Susanna.

Die Schülerin lebte im gut 15 Kilometer entfernten Mainzer Stadtteil Lerchenberg. Die Kinder vom Lerchenberg kamen regelmäßig über den Rhein nach Wiesbaden-Erbenheim. „Die kannten sich alle“, bestätigt eine Erbenheimerin. Sophia wohnt mit ihrer Mutter in Wiesbaden. Es war Abenteuerlust, die sie ins Heim führte. „Susanna war mir gleich sympathisch“, erzählt Sophia.  Sie bezeichnet sich als „Emo“. In dieser Szene trägt man schwarze Klamotten, hört melancholische Musik, spricht über die eigene Verletzlichkeit. Die jungen Flüchtlinge, viele aus Krisenregionen, freuten sich über die Besuche der jungen Mädchen.

Nach ihrem ersten zufälligen Treffen im Sommer 2017 chatten Sophia und Susanna über Instagram und verabreden sich regelmäßig. Susannas Freundinnen sind auch oft dabei, zusammen sind sie vier, fünf Mädchen, die im Luisenforum abhängen, einem Einkaufszentrum in Wiesbaden.

Meist aber stromern sie durch die Flüchtlingsheime, allein im kleinen Stadtviertel Erbenheim gibt es sechs davon. Die Mädchen kommen auch zu Tageszeiten, in denen sie eigentlich in der Schule sein sollten. Sie sitzen, so erzählt es Sophia, auf den Bänken vor den Häusern, trinken Bier, rauchen, kiffen, proben das Erwachsensein. Hier sind sie unbeobachtet von Lehrern oder Eltern. Den Stoff bekommen sie offenbar von den Flüchtlingen. Sophia erzählt, dass Ali B. immer Gras bei sich gehabt habe und einige andere der jungen Männer wohl auch.

„Wir fanden den Ali beide komisch“

Susanna ist in einen gleichaltrigen Iraker aus dem Heim verliebt. Doch der Junge erwidert ihre Gefühle offenbar nicht. Stattdessen interessiert sich sein großer Bruder für Susanna. Es ist Ali B. „Wir fanden den beide komisch“, sagt Sophia. Ali sei aggressiv gewesen, habe herumgebrüllt. „Susanna und mir hat er aber nichts getan.“ Trotzdem beschließen die Mädchen nach einigen Besuchen, die Unterkunft am Kreuzberger Ring zu meiden. Warum sie dennoch fast jede Woche dort auftauchten? „Weiß nicht“, sagt Sophia, „vielleicht weil die anderen Mädchen auch dort waren.“

Sie habe ihrer Tochter die Besuche in den Heimen untersagt, erzählt Sophias Mutter. Sie sitzt in einem Café in der Nähe ihrer Wohnung. Bis heute hat sie Angst um ihre Tochter. „Doch Sophia hat die Verbote ignoriert. Ich habe daraufhin in fünf oder sechs Heimen angerufen und gebeten, dass meine Tochter ein Hausverbot bekommt.“ Auch Susanna habe ein Hausverbot für eine der Einrichtungen erhalten – „weil sie Alkohol getrunken und dort übernachtet hat“, so erzählt es Sophia. Das Verbot galt aber nicht für die Unterkunft am Kreuzberger Ring, in der Ali B. und seine Familie gelebt haben, sagt Stadtrat Christoph Manjura. Ob es für andere Einrichtungen ausgesprochen worden sein, könne er nicht sagen.

Sophia jedenfalls lässt sich von den Verboten ohnehin nicht aufhalten – es ist offenbar in den Unterkünften auch niemand da, der ihre Einhaltung überwachen könnte. Irgendwann weiß sich die Mutter nicht mehr anders zu helfen und erteilt Sophia Stubenarrest. „Es war hart, Sophia so an mir festzuketten, aber was sollte ich denn tun?“

Aber auch danach kehrt nicht wirklich Ruhe ein. Sophias Mutter erzählt, dass eines Tages etwa zehn junge Männer vor ihrem Haus standen, offensichtlich Flüchtlinge. „Die wollten, dass Sophia herauskommt.“ Sie habe die Situation als bedrohlich empfunden, ein Nachbar schließlich die Polizei gerufen.

Susanna zieht von nun an ohne die Freundin durch die Heime. Was sie dort gesucht hat? So genau weiß das wohl niemand, nicht mal Sophia. Susanna sei ein ruhiger Mensch gewesen. „Ich erlebte sie als zurückhaltend“, erzählt eine junge Frau vom Lerchenberg, die Susanna und ihre Mutter kannte.

Als ihre Freundin vermisst wird, macht sich Sophia auf die Suche. Sie fragt im Luisenforum nach ihr, in den Asylunterkünften von Erbenheim, sie fragt auch den Bruder von Ali B. Vergebens. Am Ende des Trauermarsches kommt Sophia an jene Stelle am Bahndamm, wo Polizisten ihre Freundin gefunden haben. Eine Minute lang schaut sie von der Brücke hinab zu den Büschen neben dem Gleis. „Ich konnte Susanna alles erzählen, sie hat niemandem etwas verraten“, sagt Sophia. Dann dreht sie sich um und fährt nach Hause zu ihrer Mutter.