Zeitenspiegel Reportagen

Die vereinte Kraft der Städte

Erschienen im MUT-Magazin Nr. 5, Oktober 2020

Von Autor Tilman Wörtz

Weltweit kämpfen Bürgermeister um mehr Einfluss bei Themen wie Integration, Umweltschutz und Verkehr. Kommen Lösungen künftig eher von Stadtverwaltungen als von Regierungen?

Am 1. Juni 2017 sanken die Chancen zur Rettung der Welt rapide. An diesem Tag betrat US-Präsident Donald Trump den Rosengarten des Weißen Hauses und sagte zu den versammelten Journalisten: „Ich wurde gewählt, um die Bürger von Pittsburgh zu vertreten, nicht die von Paris.“ Damit erklärte Trump den Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen. Die Vereinbarung sieht vor, dass die 195 Unterzeichnerstaaten den durchschnittlichen Temperaturanstieg auf unserem Planeten auf zwei Grad Celsius im Vergleich zur Zeit vor der industriellen Revolution begrenzen. Ohne die USA schien das Abkommen gescheitert.

Zwei Stunden nach Trumps‘ Rede stiegen die Chancen zur Rettung der Welt wieder. Bill Peduto, Bürgermeister von Pittsburgh, widersprach seinem Präsidenten: “Er repräsentiert uns überhaupt nicht. Diese Stadt unterstützt nicht seine Initiative.” Nicht nur Peduto, auch weitere 300 Bürgermeister im Land, Demokraten und Republikaner, traten aus Protest dem 2014 gegründeten Verbund “Climate Mayors” bei, der heute 438 Mitglieder-Städte in den USA zählt, in denen rund 70 Millionen Amerikaner leben - ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Die Climate Mayors sehen sich nach wie vor den Pariser Klimazielen verpflichtet. Nun müssten die Städte gemeinsam so viele Klimagase einsparen, wie sich die USA zuvor verpflichtet hatte. Eine Reduktion der Emissionen von 26 bis 28 Prozent bis ins Jahr 2025 - verglichen mit 2005.

Der Anspruch ist nicht vermessen, schließlich werden 70 Prozent der Klimagase in Städten produziert. “Egal, was Nationen tun, Klimapolitik wird auf lokaler Ebene umgesetzt”, legte Peduto in einem Interview nach.

Eine ähnliche Aufmüpfigkeit leisteten sich auch die Bürgermeister von Prag, Warschau, Bratislava und Budapest gegenüber ihren Landesregierungen. Sie schlossen sich im vergangenen Dezember zu den “Visegrad-Hauptstädten” zusammen, um für Demokratie und Weltoffenheit und gegen ihre rechtspopulistische Staatschefs ein Zeichen zu setzen. Von “Visegrad-Staaten” wird normalerweise gesprochen, wenn sich Tschechien, die Slowakei, Polen und Ungarn zu Gesprächen treffen, die in den vergangenen Jahren einen zunehmend EU-kritischen Ton bekommen haben.

Die Selbstermächtigung von Städten ist Symptom eines historischen Wendepunkts in der Menschheitsgeschichte: Seit dem Jahr 2005 leben erstmals mehr Menschen in Städten als in ländlichen Regionen, in dreißig Jahren werden es bereits Dreiviertel aller Menschen sein. Durch den technischen Fortschritt in der Landwirtschaft gibt es weniger Arbeit auf dem Land, gleichzeitig bieten Städte mehr Jobs und entstünden laut dem Nobelpreisträger für Ökonomie, Paul Krugman, weil sie durch die Anballung von Arbeitskräften, Konsumenten, Kapital und Know-how Kosten in der Produktion von Waren und der Bereitstellung von Dienstleistungen senkten.

Immer mehr Menschen konzentrieren sich auf immer kleinerer Fläche – daraus folgen Probleme, wie Emissionen, zu viel Verkehr oder Müll. Städte bedecken nur drei Prozent der Erdoberfläche, aber dort werden 80 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts erwirtschaftet. Sie haben also das Potenzial und die Verantwortung, zur Lösung der globalen Probleme beizutragen. Und sie tun es, immer öfter auch gemeinsam und über nationale Grenzen und ideologische Gräben hinweg. Ein dichtes Geflecht von Städtebünden ist zu verschiedenen Politikfeldern entstanden, zum Beispiel

• die Alpenallianz zur Förderung von nachhaltigem Leben und Wirtschaften im Alpenraum, in der sich 280 Gemeinden und Regionen aus den Alpenländern Frankreich, Schweiz, Italien, Österreich, Lichtenstein, Slowenien und Deutschland zusammengeschlossen haben

• der Verbund der 288 Städte, die sich beim Management eines Weltkulturerbes gegenseitig beraten (Organization of World Heritage Cities)

• die “Cities for Mobility” mit Sitz in Stuttgart, also: Städte für Mobilität, die 660 Städte, Unternehmen, Forscher und Organisationen aus der Zivilgesellschaft auf der Suche nach umweltfreundlicher Mobilität zusammenbringen

• die über 600 “Bürgermeister gegen Illegale Waffen” (Mayors Against Illegal Handguns) in USA, die trotz lascher nationaler Waffengesetze den Besitz von Schusswaffen in ihren Städten erschweren

• die fast 8000 Bürgermeister für den Frieden, die dem Beispiel des Bürgermeisters von Hiroshima folgen und für nukleare Abrüstung eintreten

Meist steht die Mitgliedschaft jeder Stadt offen. Der Verbund der Großstädte C40 (C = City) wählt dagegen einen anderen Weg: Nur Millionenmetropolen wie New York, Berlin, Addis Abeba oder Nanjing dürfen Mitglieder werden. Sie arbeiten regelmäßig in Expertengruppen zusammen - und müssen den anderen Mitgliedern ihre Fortschritte im Kampf gegen die Klimaerwärmung nachweisen. Die Mitgliedsstädte sehen sich als Avantgarde, sie finden Lösungen zu Themen wie Verkehr, Gebäudesanierung und Müll, die kleinere Städte kopieren können. Ihre Erfahrungen teilen sie über eine Webseite, persönliche Treffen und Webinare. Initiiert wurde C40 im Jahr 2006 vom damaligen Londoner Bürgermeister Ken Livingston. 40 Städte waren es bald nach Gründung, heute sind es 96, in denen 700 Millionen Menschen leben. Livingston ging es zuerst ums Klima, denn damit verbunden sah er alle anderen Fragen, die für die Entwicklung von Städten entscheidend sind. Oft übernimmt eine Stadt die Vorreiterrolle bei einem Thema und berät andere.

Dabei geht es um: - Ansteigen des Meeresspiegels: Antwerpen, das mehrere Meter unter dem Meeresspiegel liegt, hat Jahrhunderte lange Erfahrung beim Schutz vor Springfluten durch ein System von Grachten, Schleusen und Dämmen - eine wertvolle Erfahrung in Zeiten des Klimawandels beispielsweise für Küstenstädte wie New York oder Jakkarta

  • Elektromobilität: In Shanghai fahren so viele Elektrobusse, wie außerhalb Chinas in der restlichen Welt insgesamt. Dort haben die Planer Erfahrung in der Installation eines Ladenetzes und der Taktung der Busse

  • Parkplatzmanagement: Buenos Aires übernahm vor zwei Jahren die Praxis aus Mexiko-City, keine Mindestzahl von Parkplätzen bei Gebäuden vorzuschreiben, sondern im Gegenteil: eine Maximalzahl - verbunden mit dem Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel. Mexico-City hatte es durch dieses Umdenken geschafft, den Flächenverbrauch durch parkende Autos zu reduzieren, ohne die Mobilität der Bürger einzuschränken.

„Willkommen zum fünften Erfahrungsaustausch der Städte während der Corona-Krise“, begrüßt eine Afro-Britin alle Zugeschalteten der Video-Konferenz. Sie sitzt im Büro von C40 in London und ist “Netzwerk-Managerin für Luftreinhaltung”. 15 solcher Gruppen werden von C40 moderiert, jede Gruppe hat zehn bis zwanzig Teilnehmer und trifft sich einmal im Monat meist online, seit der Corona-Pandemie sogar wöchentlich. „Und nun übergebe ich an Martin Lutz, der uns aus Berlin berichtet.“ Der ergraute Herr mit randloser Brille erklärt eine Grafik, auf der eine abnehmende Kurve zu sehen ist. Sie zeigt die Stickstoffbelastung in Berlin der vergangenen Wochen.

„Wegen Corona passiert ein Wunder in Berlin“, sagt Lutz, “die Berliner fahren so viel Fahrrad wie noch nie.” Die Pandemie birgt neue Chancen für die Stadt. Er zeigt Fotos einer neuen Fahrradspur auf dem Cottbusser Damm, die mit rotweiß gestreiften Pollern abgesichert ist: „Wir haben 15 Kilometer Fahrradspuren innerhalb weniger Wochen einrichten können, auch mit dem Argument, dass durch breite Fahrradwege das Infektionsrisiko von Corona gemindert wird. Sonst hätte das mindestens ein Jahr gedauert.“ Eine andere Grafik aber bereitet Martin Lutz Sorgen: „Die Menschen fahren weniger mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wir müssen verhindern, dass sie wieder aufs Auto umsteigen.“ Denn genau das Gegenteil wollen er und der Senat erreichen: Nur wenn weniger Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren in der Stadt unterwegs sind, werden die Werte für Stickoxide und Feinstaub sinken.

Im vergangenen Jahr hat Berlin auf einigen Hauptverkehrsstraßen Tempo-30-Limits eingeführt, die Stadt wurde wegen überschrittener Feinstaub-Höchstwerte von der Deutschen Umwelthilfe verklagt, auch die europäische Kommission machte Druck. „Was habt ihr für Studien gemacht bei der Einführung dieser neuen Radwege?“ fragt ein Teilnehmer aus Addis Abeba. „Gar keine. Wir haben einfach die Pläne umgesetzt, die es schon gab.“ „Gibt Berlin auch finanzielle Anreize für den Kauf eines Fahrrads?“, will die Kollegin aus Mexiko-City wissen. „Für Lastenräder ja - die Nachfrage war so groß, dass der Topf schon leer ist. Den müssen wir auffüllen.“

Nach einer Stunde beendet die Moderatorin die Video-Konferenz. Dass die C40-Städte gemeinsame Erklärungen vereinbaren, helfe beim Erreichen der Ziele in Berlin. London hat die „Erklärung für saubere und gesunde Luft“ vorgelegt, „da wollten wir uns nicht den Schneid abkaufen lassen“, sagt Martin Lutz. Sein Chef, der Berliner Oberbürgermeister Michael Müller, hat die Erklärung gemeinsam mit 35 anderen C40-Bürgermeistern im vergangenen Oktober unterschrieben. „Jetzt kann ich immer mit der Deklaration wedeln, um den Beschluss in Erinnerung zu rufen“, sagt Lutz.

Speziell der Grenzwert für Feinstaub sei ein Problem: Die EU schreibt 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft vor (bei den “kleinen” Partikeln). „Hoffnungslos veraltet“, nennt ihn Lutz. Die Weltgesundheitsorganisation fordert einen strengeren Wert von 10 Mikrogramm. In der “Erklärung für saubere und gesunde Luft” verpflichten sich die Städte, den WHO-Wert bis 2030 zu erreichen. Außerdem wollen Martin Lutz und seine Kollegen Druck über das europaweite Städtenetzwerk Eurocities mit Sitz in Brüssel aufbauen. Eurocities berät das Europäische Parlament. Viele Mitglieder sind auch Mitglieder von C40. Wenn die EU ihre Grenzwerte auf die Werte der WHO drückt, steigt sofort der Druck auf Hersteller von Fahrzeugen und Verkehrspolitiker.

Es sind dicke Bretter, die Martin Lutz bohrt, und seine Lage verdeutlicht ein Kernproblem: Die Städte haben die Probleme - aber die Staaten oder die EU beschließen die Gesetze.

Der amerikanische Politologe Benjamin Barber sieht genau in dieser fehlenden Souveränität von Städten den Grund dafür, warum sie auch auf globaler Ebene eine wichtigere Rolle spielen sollten.

In einer Welt voller gegenseitiger Abhängigkeiten, brauche es ein neues Modell zur Lösung unserer grenzüberschreitender Problem, wie Klimawandel, Migration oder Sicherheit.

Städte und Bürgermeister, so Benjamin Barber, seien pragmatisches und kooperatives Problemlösen gewöhnt. Ideologien spielten für sie eine geringere Rolle. “Es gibt keine liberale oder konservative Weise, Müll einzusammeln.” Auch wenn diese Pointe den Pragmatismus von Kommunalpolitik übertreibt, verdeutlicht sie einen wichtigen Unterschied zu Nationalstaaten: Deren Wesen sei geprägt durch Rivalität um Territorien, Grenzen und Ressourcen, die allzu oft in Krieg mündete oder zumindest in einer Blockade der Vereinten Nationen.

“Staaten sind dysfunktional in ihrer Fähigkeit, über Grenzen hinweg zu kooperieren”, schreibt Benjamin Barber in seinem Standardwerk “If Mayors Ruled the World”, was sich übersetzen lässt mit: Wenn Bürgermeister die Welt regierten. Städte dagegen seien offener und kooperationswilliger. Deshalb werde das 21. Jahrhundert ein “Jahrhundert der Städte”, so wie das 20. “Jahrhundert eins der Nationalstaaten” gewesen sei.

Die Bürger danken ihren Bürgermeistern ihre Bürgernähe: In Umfragen zum Vertrauen der Menschen in unterschiedliche Berufsgruppen kommen Politiker schlechter weg als Feuerwehrleute, Ärzte oder Lastwagenfahrern – aber nicht die Bürgermeister. In den USA genießen sie zwei- bis dreimal so viel Vertrauen als Kongressabgeordnete und der Präsident. Mehr Macht für die Städte stärkt unsere Demokratie und schützt vor Populismus, sagt Benjamin Barber: “Die Geschichte der Städte ist die Geschichte der Demokratie.”

In seinem Buch hat Benjamin Barber das „Globale Parlament der Bürgermeister” vorgedacht, das nicht an Einzellösungen arbeiten, sondern ein politischer Hebel für weltweite Lösungen sein soll. 2016 trat das Globale Parlament der Bürgermeister tatsächlich zusammen und hat heute über 50 Mitglieder. Der Mannheimer Oberbürgermeister Peter Kurz ist seit 2019 der Präsident. Der Darling der Szene aber ist die jugendlich wirkende Bürgermeisterin von Sierra Leones Hauptstadt Freetown, Yvonne Aki-Sawyerr, 52. Sie empfängt in ihrem Büro hinter einem schweren Holztisch und in einem mächtigen Ledersessel sitzend - Insignien der Macht, die sie im Mai 2018 von ihren Vorgängern übernommen hat.

„Ich will gemeinsam mit Kollegen in den industrialisierten Ländern Schleuser bekämpfen, die unsere jungen Menschen mit falschen Versprechen von hier weglocken“”, sagt sie mit einer schnell lauter werdenden Stimme.

Sie gilt vielen als Vorbild: Geboren in Freetown, wurde sie bestens ausgebildet an der London School of Economics, kehrte aber während der Ebola-Krise als Leiterin des Krisenzentrums zurück - und blieb. „Nur sieben meiner Klassenkameraden leben heute noch in der Stadt“, sagt sie. Die gut Ausgebildeten gehen, die Menschen vom Land rücken nach. Seit dem Ende des Bürgerkriegs 2002 sind es viele. Sie siedeln sich an, wo es noch Platz hat: An der Küste vor und in den hügeligen Wäldern hinter vor Freetown. Die Bäume werden zu Brennholz, das Erdreich lockerer. 2017 starben nach heftigen Regenfällen bei einem Erdrutsch 1.141 Menschen, auch, weil der Regen in den müllverstopften Abwasserleitungen nicht abfließen konnte.

Aki-Sawyerr schnellt aus ihrem Sessel hoch und führt uns zu den orange-gelben Mülltonnen im Hof des Rathauses. Nach und nach werden sie in der ganzen Stadt aufgestellt und regelmäßig entleert. Die wilden, stinkenden Mülldeponien Mitten im Zentrum sollen kleiner werden. Das Abfallsystem ist der Anfang. Eine Million Bäumen werden gepflanzt und die Rechte auf Grund- und Boden auch der Zugewanderten geklärt.

„Wir Bürgermeister können die Probleme der Migration nur durch Zusammenarbeit lösen“, sagt sie. In der Charta der Vereinten Nationen werden Städte aber nicht mal erwähnt, geschweige denn ihnen Befugnisse eingeräumt. Yvonne Aki-Sawyerr will das ändern: Sie gibt viele Interviews für internationale Medien, im vergangenen Oktober reiste sie mit Mannheims Oberbürgermeister Kurz gemeinsam nach New York zur Klimakonferenz und forderte im Namen des Global Parliament of Mayors mehr Mitsprache. Als im Dezember 2018 in Marrakesch 164 Länder im Rahmen einer UN-Konferenz einen Migrationspakt unterzeichneten, beriet sich Yvonne Aki-Sawyerr gleichzeitig mit Bürgermeister-Kollegen aus C40-Städten, zu denen auch Amman, Sao Paolo, Los Angeles, Zürich oder Mailand gehörten.

“Ich möchte eine afrikanische Perspektive in die weltweite Migrationsdebatte einbringen”, sagt sie, “und Freetown auf die internationale Bühne heben.” Neben ihren diplomatischen Auftritten bringt ihr Engagement auch Vorteile für Freetown: Wie Medellin soll auch Freetown eine Seilbahn bekommen, die dicht besiedelte und schlecht erschlossene Viertel ans Zentrum anbindet und nebenbei eine gute Ökobilanz hat. Von ihrem Amtskollegen bekam sie auf dem letzten Treffen des Global Parliament of Mayors hilfreiche Tipps für den Bau. Ihre Lehren aus Amt und internationaler Vernetzung: “Regierungen ignorieren zu oft den Klimawandel. Die Städte haben es selbst in der Hand, etwas zu verändern.”