Zeitenspiegel Reportagen

Erlöse uns von dem Bösen

Erschienen in "Der Spiegel" am 06.07.19

Von Autor Carsten Stormer

Lange Zeit schwieg die katholische Kirche in den Philippinen zum Drogenkrieg von Präsident Duterte. Zu lange, finden ein Missionar und ein Priester, die an den Fronten dieses Krieges für mehr Gerechtigkeit und Menschlichkeit kämpfen. Deswegen werden sie verleumdet, angefeindet oder erhalten Morddrohungen.

Es sind die Toten, die den Missionar hinaus in die Nacht treiben. Und die Todgeweihten, deren Namen auf Listen stehen; die vielleicht in dieser Nacht sterben werden, vielleicht morgen. Nur eines ist sicher, dass in den Philippinen Polizisten, Bürgerwehren oder Auftragsmörder Menschen jagen. Wegen diesen Menschen sitzt Bruder Jun Santiago, hier auf der weißen Holzbank vor einem Bestattungsinstitut in Caloocan, einem der dichtbesiedeltsten Stadtteile Manilas, in dem 1,5 Millionen Menschen leben. Die Nacht klebt wie ein nasses Laken am Körper. Zwei Stunden vor Mitternacht zeigt das Thermometer noch immer 33 Grad Celsius. Ein Schweißtropfen läuft von Santiagos Stirn über den Nasenrücken und tropft auf den Asphalt. Es ist ein Warten auf den Tod. Bruder Jun Santiago ist ein Chronist des Todes, ein Mann mit sanfter Stimme, stechenden Augen und schwarzen Locken, die auf seine Schultern fallen. Um seinen Hals baumelt seine Kamera. Seit Dezember 2016 dokumentiert der 47-jährige Missionar im Auftrag seiner Ordensgemeinschaft von der „Kongregation des Heiligsten Erlösers“ den sogenannten Drogenkrieg in seiner Heimat. Er fotografiert Tatorte und Leichen, dokumentiert Zeugenaussagen, versteckt Zeugen, kümmert sich um traumatisierte Hinterbliebene und finanziert Beerdigungen.

Die philippinische Demokratie ist angezählt: die Regierung würde gerne die Verfassung ändern, die Todesstrafe wiedereinführen und die Strafmündigkeit auf 12 Jahre senken. Duterte hat sein Land aus dem Internationalen Strafgerichtshof verabschiedet, im Süden des Inselreiches herrscht weiterhin Kriegsrecht und der „Drogenkrieg” hat bislang tausende Opfer gefordert. Die Philippiner, so scheint es, haben sich mit den Zuständen arrangiert. Je mehr Menschen sterben, desto größer die Zustimmung für den Präsidenten in der Bevölkerung. Satte 80 Prozent nach drei Amtsjahren mit abertausenden Toten. Die Zwischenwahlen im Mai gerieten zu einem Triumph Dutertes. Alle von ihm unterstützen Kandidaten zogen in den Senat ein, die Opposition ergatterte nicht einen einzigen Sitz. Ein Schlachtfest, nannten es lokale Medien. Inzwischen flackert zaghaft ziviler Widerstand auf. Studenten, linke Aktivisten, Opfer der Marcos-Diktatur, einige prominente Schauspieler und Sänger kritisieren Dutertes Krieg. Doch die mächtigste Institution des Landes bleibt auffällig still: die katholische Kirche. Obwohl Duterte regelmäßig über Gott lästert und den Papst gelegentlich einen Hurensohn nennt. Geistliche, die Widerspruch wagen, bekommen den Zorn des Präsidenten und von seinen Anhängern zu spüren. Drei Priester wurden seit Dezember 2017 ermordet. Zuletzt wurde der Pfarrer Richmond Nilo im April vergangenen Jahres von maskierten Männern in seiner Kirche in dem Moment erschossen, als er den Gottesdienst beginnen wollte. Andere Priester, selbst hohe geistliche Würdenträger, wie der Erzbischof der Diözese von Caloocan, Pablo Vergilio David, erhalten Morddrohungen, weil sie den Präsidenten kritisieren.

Die Opfer dieses Schattenkrieges landen hier in diesem Bestattungsinstitut, vor dem ein weißer Leichenwagen parkt. Es ist eine ruhige Nacht. Santiago steht auf, wischt sich den Schweiß von der Stirn und schlendert in das Büro des Bestattungsunternehmens. Dort hockt Geschäftsführer Orly Fernandez, ein kauziger kleiner Mann im Feinrippunterhemd, unter dem sich ein kugelrundes Bäuchlein wölbt, am Schreibtisch und erstellt Sterbeurkunden.

Das Bestattungsinstitut ist zu einer Art Hauptquartier für Santiagos Mission geworden. Er kommt fast jede Nacht. Missionar und Bestattungsunternehmer sind eine sonderbare Symbiose eingegangen. Fernandez, ein begeisterter Unterstützer von Präsident Duterte, versorgt den renitenten Kirchenmann und Duterte-Gegner mit Informationen, verrät Tatorte, hilft die Familien der Opfer ausfindig zu machen. Denn die meisten Angehörigen sind zu arm, um sich die Bestattungskosten für die Menschen auf Fernandez‘ Einbalsamierungstisch leisten zu können. „Wir geben den Familien finanzielle Unterstützung, damit sie ihre Angehörigen begraben können“, erzählt Santiago. Finanziert wird diese Hilfe aus der Kollekte von hunderttausenden Gläubigen, die wöchentlich in die Kirche des Missionars strömen. Davon profitiert auch das Bestattungsunternehmen. Mehr als 370 Beerdigungen habe er schon bezahlt, erzählt der Missionar und berichtet von unzähligen Leichen, die in anonymen Massengräbern verscharrt werden, weil die Familien die Beerdigungskosten nicht aufbringen.

Für ein paar Sekunden lang hält Bruder Jun Santiago sein Gesicht vor den Wandventilator, der mühsam die stickige Luft des Büros verquirlt, atmet erleichtert aus und fragt dann: „Was gibt es Neues?” Orly Fernandez zeigt schweigend auf eine weiße Tafel. Darauf stehen drei Namen:

Jerito Garganta, 34, erschossen am 6. Mai. Angelito Lizada, 29, erschossen am 7. Mai. Noel Pineda, 47, erschossen am 9. Mai.

Wie viele Menschen in Dutertes Drogenkrieg getötet wurden, lässt sich nur schätzen, denn die Behörden veröffentlichen keine Untersuchungsergebnisse. Die philippinische Drogenbehörde (PDEA) gibt offiziell an, dass über 5.200 Drogendealer und Konsumenten bei Polizeioperationen starben. Die unabhängige Menschenrechtskommission der Philippinen (CHR) sagt: 27.000.

Es ist weit nach Mitternacht als Santiago beschließt, die Totenwachen der drei Opferfamilien zu besuchen. Das Navigationssystem seines Autos lotst ihn durch die menschenleeren Straßen der Hauptstadt. Wenn die Nacht über Caloocan fällt, ziehen sich die meisten Menschen in ihre Wohnungen zurück.

Unterwegs erzählt Santiago von seiner Mission. „Ich wollte mehr tun, als nur Beerdigungen zu finanzieren. Ich musste raus auf die Straße zu den Menschen“, erzählt der Missionar. Also bat er seine Vorgesetzten, ihn den Drogenkrieg dokumentieren zu lassen. So fing alles an. „Das erste Mordopfer, das ich gesehen habe, hieß Michael“, erzählt er. Hunderte folgten. Doch Michael verfängt sich in seinem Gedächtnis, klar und deutlich, wie auch die Worte des Polizisten am Tatort: Eine Verwechslung. Ein bedauerlicher Kollateralschaden für eine bessere Gesellschaft ohne Drogen. In diesem Augenblick weiß Bruder Jun Santiago, dass er seinen Platz gefunden hat. Er organisiert Wanderausstellungen seiner Fotos in den Kirchen Manilas, konfrontiert die Gläubigen seiner Gemeinde mit den Bildern der Toten, perforiert die Gleichgültigkeit und zwingt die Leute, sich mit dem täglichen Morden auseinanderzusetzen. Die Bilder verstören, rufen Entsetzen und Empathie hervor. Eine schleichendende Sensibilisierung - das ist sein Ziel. Nur einmal gönnt er sich eine Pause, im Juli 2017 reist er nach Spanien und pilgert 800 Kilometer auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella, um den Zorn aus seiner Seele zu waschen.

In einem Slumviertel in der Hafengegend parkt Santiago den Wagen unter einer defekten Straßenlaterne, die Lichtblitze in die Nacht wirft. Ein schmaler Durchgang führt wie ein dunkler Schlauch in ein Labyrinth aus Wellblechhütten und unverputzten Betonbauten. Die Hitze der Nacht liegt wie eine schwere Glocke über den Dächern von Barangay 28. Ein paar Anwohner sitzen zu dieser späten Stunde noch vor ihren Hütten und weisen Santiago in die Richtung des Hauses der Familie Garganta. Am Ende einer Gasse, zwischen Kloakepfützen und Küchenabfällen, liegt der einbalsamierte Leichnam von Jerito Garganta, aufgebahrt in einem weißen Holzsarg. Ein paar betrunkene Männer spielen johlend Karten und trinken Bier aus Plastikbechern.

Die Schwester des Toten, eine schwere Frau mit verweinten Augen stemmt sich müde von ihrem Plastikstuhl, als Bruder Santiago die Totenwache besucht. „Zwei Jahre saß Jerito wegen Drogenhandels in Untersuchungshaft, dann wurde die Klage fallengelassen“, sagt Leah Garganta und wischt sich eine Träne von der Wange. Erst nach Ostern sei er aus dem Gefängnis entlassen worden. Kaum zwei Wochen später war er tot, erschossen von zwei maskierten Unbekannten am Eingang seines Viertels. Schluchzend erzählt die Schwester von den Beerdigungskosten. 35.000 Pesos, umgerechnet rund 600 Euro. Zu viel für die Familie. Sie hätten alle zusammengelegt, Angehörige, Nachbarn, Freunde. Doch es reiche noch immer nicht. In einem Nebenzimmer schlafen Jeritos vier Kinder. „Wir hinterlassen eine Generation wütender Waisen”, sagt Santiago. „Die Familien der Getöteten haben gar keine Gelegenheit, zu trauern und sich zu verabschieden. Sie sind damit beschäftigt, das Geld für die Beerdigungskosten zusammenzukratzen.“ Santiago erklärt Leah Garganta, dass sie bei seiner Kirche einen Antrag auf Beerdigungskostenhilfe stellen könne. Dann hebt er seine Kamera und beginnt zu fotografieren. Als sich der Missionar von der Trauergemeinschaft verabschieden möchte, zupft Leah Garganta am T-Shirt des Missionars und bittet um einen weiteren Gefallen. Ob nicht ein Priester vorbeikommen könne, um ein paar Gebete für ihren Bruder zu sprechen. „Ich sage Vater Flavie Bescheid“, verspricht der Missionar.

Die Textnachricht, dass eine Familie geistlichen Beistand benötigt, erreicht den Priester Flavie Villanueva in einem fensterlosen Raum tief im Keller der San Roque Kirche von Quezon City, in dem an diesem Mittwochnachmittag 15 Witwen in grünen T-Shirts, neun Waisenkinder und zwei Nonnen zu einem geheimen Gottesdienst zusammenkommen. Villanueva, ein kleiner Mann mit kurzrasierten Haaren, Brille und schelmischen Lächeln trägt ein rotes T-Shirt, auf dem steht, dass er sich zu Weihnachten einen neuen Präsidenten wünsche. An seinem Handgelenk trägt er ein Armband mit dem Schriftzug: „Stop the killings, start the healing.“ Er zieht sich eine weiße Soutane über und begrüßt die Anwesenden mit einem „Gott segne euch“.

„Amen“, ruft es im Chor zurück.

„Dieser Gottesdienst ist weit mehr als eine Predigt”, erklärt der Priester. Er ist Teil eines Heilungsprozesses, für Angehörige von Mordopfern. Eine Art spirituelle Reinigung für traumatisierte Menschen. Hunderte hat Vater Flavie seit Beginn des Drogenkrieges in sein Programm aufgenommen, das er Paghilon - Heilung - nennt. Heilen möchte er die 62-jährige Mila David. Polizisten erschossen ihren Mann in seinem Bett. Seitdem erscheint er nachts in ihren Träumen. Oder die 38-jährige Lourdes, die im Gefängnis davon erfahren hat, dass ihr Mann erschossen wurde und sich nun fragt, wie sie ihre sechs Kinder durchbringen soll.

Er preist den Mut und die Stärke der Anwesenden, er wettert gegen den Präsidenten, verzweifelt an den Wählern, die mit dem ehemaligen Polizeichef Ronald de la Rosa einen Architekten des Drogenkrieges in den Senat wählten. Dabei laufen ihm Tränen übers Gesicht, seine Stimme bricht. Wieso, fragt er, haben die Philippiner ihre Menschlichkeit verloren? Dann räuspert sich Villanueva und geht zu einer älteren Frau, streicht ihr zärtlich über Haar und Wange. „Möchtest du noch immer als Selbstmordattentäterin deinen Mann rächen?“ Der Saal lacht. Die Frau kichert ein bisschen verschämt und schüttelt den Kopf. „Sag uns, auf einer Skala von ein bis zehn, wie wütend bist du heute?“ „Vier“, sagt die Frau leise. „Das ist ein Fortschritt“, antwortet der Priester.

Nach dem Gottesdienst durchforstet er seine Nachrichten, bis er die SMS gefunden hat, in der er als Hurensohn bezeichnet und mit dem Tode bedroht wird. Dann zeigt er die Bilder einer Überwachungskamera, die er bei YouTube hochgeladen hat. Darauf ist ein maskierter Mann mit Baseballkappe und Rucksack zu sehen, der an der verschlossenen Tür seines Büros rüttelt, Passanten befragt und dann in ein wartendendes Auto steigt. Seitdem er Morddrohungen und unerwünschten Besuch bekommt, folgt ihm ein Leibwächter. „Ich nehme die Drohungen nicht mehr allzu ernst“, sagt er. „So lange diese schlimmen Dinge in meinem Land geschehen, werde ich den Mund aufmachen. Ich bin bereit zu sterben, wenn Gott mich zu sich rufen möchte“, sagt Villanueva trotzig und mit viel Pathos in der Stimme. „Natürlich habe ich Angst um mein Leben. Wenn neben mir ein Motorrad hält, zucke ich zusammen. Deswegen erhebe ich meine Stimme und trete für die Wahrheit ein. Das ist die beste Verteidigung.“ Im März dieses Jahres gaben Villanueva und zwei weitere Priester eine Pressekonferenz und machten die Morddrohungen öffentlich. Der 49-jährige quirlige Geistliche weiß, was Drogen anrichten können. Bevor er zum Glauben fand, führte er ein Leben wie auf einer Rasierklinge, 15 Jahre verbrachte er im Rausch; Marihuana, Speed, Kokain, Alkohol, Pillen zum Runterkommen. Manchmal alles in einer Nacht. Je mehr Drogen er einwarf, desto leerer fühlte er sich. Erst in seinem Gott fand er die Kraft für den kalten Entzug und ein neues Leben. „Ich bin ein klassisches Beispiel, dass es Hoffnung für Gefallene gibt.“ Und deswegen hat er bei den Präsidentschaftswahlen 2016 seine Stimme Duterte gegeben. Nach dem Motto: Erlöse uns von dem Bösen. „Ich habe wirklich geglaubt, dass er das Drogenproblem lösen kann. Ich gebe zu, ich habe mich geirrt.“

Am folgenden Nachmittag stiehlt sich Vater Flavie Villanueva unbemerkt von seinem Leibwächter aus dem Büro, um die Familie, die sein Freund Santiago in der Nacht zuvor besucht hat, zu treffen. „Mein Schatten würde mich nicht gehen lassen. Zu riskant“, flüstert der Priester und kichert leise in sich hinein. Es gehe ihm aber nicht darum, mutig zu sein, „sondern als Hirte das Richtige zu tun“, sagt er. Es sei schon ziemlich besorgniserregend, dass „wir uns so an eine Kultur des Todes und des Tötens gewöhnt haben, dass selbst das Töten eines Geistlichen keine Rolle mehr spielt. Das haben die Morde an den drei Priestern gezeigt. Wir hatten gehofft, dass dies ein Weckruf für die Kirche ist, um endlich ihr Schweigen zu brechen.“ Bislang habe sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Sein Land befinde sich zwar in einem Blutrausch, doch dies sei kein Anlass, an seinem Gott zu zweifeln, „wenn überhaupt, dann zweifele ich an dem Verstand unseres Präsidenten“, sagt er und lacht schallend. Eine halbe Autostunde später erreicht Villanueva das Armenviertel Barangay 28. In einer weißen Soutane und umringt von dankbaren und weinenden Familienangehörigen, steht er vor dem Sarg von Jerito Garganta. Er blickt lange durch das gläserne Sichtfenster auf das wächserne Gesicht des Toten, murmelt lautlos, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen ein Gebet. Dann segnet er den Leichnam, vergibt ihm seine Sünden und sprenkelt Weihwasser auf den Sarg. Jemand erzählt ihm von weiteren Opfern in der Nachbarschaft. Nur einen Häuserblock entfernt trauert die Familie des 29-jährigen Angelito Lizada, der einen Tag nach Jerito Garganta getötet wurde. Auch ihn segnet Santiago. Anschließend geht der sonst so redselige Geistliche nachdenklich durch die engen Gassen des Viertels, der Saum seiner Soutane schleift im Schmutz. „Auf vielen Opferfamilien haftet ein Stigma. Freunde und Nachbarn bleiben den Totenfeiern fern. Es kam schon vor, dass Besucher von Totenfeiern erschossen wurden“, sagt Villanueva, noch immer mitgenommen von dem Schmerz der Angehörigen. Der Drogenkrieg erzeuge ein Klima der Angst. Wer Mitgefühl für die Opfer, für tote Drogendealer, Abhängige zeigt, wird in Sippenhaft genommen, als Drogensympathisant angefeindet, bedroht oder ausgegrenzt. Es ist eine Angst, die lähmt.

Trotz der Angst gibt es mutige Menschen. An einem Samstag im Mai dieses Jahres betritt der Mann, der auferstanden ist, mit schnellen Schritten und tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe das Dormitorium der Redemptoristen Kirche von Baclaran. Seit Beginn des Drogenkrieges ist Bruder Jun Santiagos Kirche an einer vielbefahrenen Verkehrsader Manilas zu einer Zufluchtsstätte für Menschen geworden, die nichts mehr zu verlieren haben. Angeschossene Dealer, eingeschüchterte Zeugen, Junkies, die um ihr Leben fürchten, Verzweifelte, die auf Todeslisten stehen. Sie alle finden im Bauch dieser riesigen Kirche Asyl.

Santiago begrüßt den jungen Mann herzlich, führt ihn an einem Wächter und zwei Sicherheitsschleusen vorbei zu einer Treppe, die zu den Privatgemächern führt. Dort bittet er den Besucher auf einem abgenutzten Sessel unter einem Kruzifix Platz zu nehmen. Die Medien haben den Mann Lazarus getauft. Nach Lazarus von Bethanien, den Jesus einst von den Toten erweckt haben soll. Der Name bedeutet: Gott hat geholfen. Lazarus ist ein schüchterner Mann, 28 Jahre alt, mit kurzgeschorenen Haaren und leiser Stimme. Er ist einer von nur zwei Philippinern, die eine Exekution der Polizei überlebten. Und deswegen versteckt er sich. Denn er will nicht nur gegen die Polizisten aussagen, die ihn töten wollten. Er ist zudem bereit, als Zeuge vor einem möglichen Prozess gegen den Präsidenten vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aufzutreten. Im Februar 2018 hatte die Chefanklägerin Fatou Bensouda Vorermittlungen gegen Präsident Duterte wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Seitdem sammelt Bruder Jun bei seinen nächtlichen Streifzügen durch Manila auch Aussagen von Opferangehörigen und Augenzeugen. Lazarus ist sein wichtigster Mann.

„Wir verstecken Laz an einem geheimen Ort und sorgen für seine Sicherheit“, sagt Bruder Jun Santiago. Denn die Polizisten, die ihn auf ihn schossen, sind weiterhin im Dienst und man wisse nicht, ob sie noch hinter ihm her sind. Lazarus versinkt fast in dem Sessel und knetet nervös die Finger, während er spricht. „Ich bin so wütend. Ich bin fast gestorben. Dann hat man mich in ein Gefängnis gesteckt. Mein Leben ist ruiniert. Mein Ältesten habe ich seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen. Meine Frau erzählt den Kindern, dass ich im Ausland arbeite“, sagt Lazarus und berichtet dann von der fatalen Nacht des 13. Septembers 2016, als ihn Polizisten der Polizeistation 9 willkürlich aufgriffen, verhörten und anschließend ihn und einen weiteren Mann in eine unbeleuchtete Gasse in der Bucht von Manila fuhren. „Einer hat die Pistole auf meine Brust gepresst und abgedrückt. Ich taumelte rückwärts und sie schossen weiter. Ich fiel gegen ein Auto. Der Alarm ging los. Ich stellte mich tot, habe mich nicht bewegt, nicht geatmet.“ Er zieht sein gestreiftes Poloshirt hoch und zeigt die Stellen, wo die Kugel in seine Brust fuhr und unterhalb seines rechten Brustmuskels wieder austrat und hässliche Narben hinterließ. Er hebt seinen in einem seltsamen Winkel abstehenden rechten Unterarm, in dem noch immer Fragmente einer Kugel stecken. Seine Stimme bricht. Er muss kräftig schlucken, beißt sich auf die Lippe und kämpft gegen die Tränen an. Er bittet um eine Pause, geht hinaus in den Kreuzgang und lehnt sich an die Balustrade. Seine Hände zittern, während er sich eine Zigarette anzündet und den Rauch tief in die Lunge zieht. Anschließend lässt er sich wieder in den durchgesessenen Sessel fallen, berichtet, wie er vor Schmerzen schreien wollte. Sein Leben hing davon ab, sich tot zu stellen. „Ich habe gehört, wie einer der Polizisten eine Waffe neben meinen Kopf platzierte und etwas in meine Hosentasche steckte. Ich habe so lange gewartet, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe.“ In der Zwischenzeit waren Reporter am Tatort eingetroffen. Er hörte das Rattern der Kameras, sein linker Fuß zuckte und ein Reporter rief: „Mein Gott, er lebt!“ Lazarus sammelte all seinen Mut beisammen und richtete sich auf. Erst dann sah er den anderen Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegen. Er war tot.

„Hilfe. Bitte helft mir“, flehte Lazarus. „Geht nicht zu ihm. Er hat eine Waffe“, schrie einer der Polizisten. Lazarus lehnte gegen einen grauen Honda, hob die Hände wie jemand, der sich ergeben möchte, und stöhnte: „Sir, Gnade, ich flehe sie an. Ich bin unbewaffnet.“

Zwei Beamte, die Hände am Holster ihrer Dienstwaffen, gingen langsam auf den blutüberströmten Mann am Boden zu. Einer kickte den Revolver beiseite, der neben Lazarus lag. Andere drängten die Journalisten vom Tatort weg. Der Schwerverletzte wurde in einen Polizeiwagen verfrachtet, der mit Blaulicht davonfuhr. „Ich dachte, die bringen mich jetzt im Auto um.“, sagt Lazarus. Stattdessen wurde er in ein Krankenhaus gebracht und landete wenige Tage später im Stadtgefängnis von Manila. 23 Monate saß er wegen illegalen Waffenbesitzes in Untersuchungshaft. Erst im August 2018 ließ ein Richter die Anklage fallen und ordnete seine Entlassung an; die Polizisten hatten sich in Widersprüche verheddert. Seitdem versteckt sich Lazarus und träumt von Gerechtigkeit. „Ich habe keine Angst davor, als Zeuge auszusagen. Ich mache dies für die Opfer, die weniger Glück hatten, die gestorben sind und sich nicht mehr verteidigen können“, sagt er und fährt sich mit einer Handfläche über seine Haarstoppel. Nur seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen, aus Angst, dass seiner Familie etwas zustoßen könnte. Nach zwei Stunden beendet Lazarus seinen Bericht und bittet höflich um Entschuldigung, aber er müsse nun wirklich los. Er habe eine Verabredung mit seinem ältesten Sohn. „Ich habe ihn seit dem Mordversuch nicht mehr gesehen“, sagt er sichtlich bewegt und für einen kurzen Augenblick huscht ein glückliches Lächeln über sein Gesicht. Bruder Jun verabschiedet sich von seinem wichtigsten Zeugen und erinnert ihn daran, sich morgens und abends per SMS zu melden. „Gott hat ihm eine zweite Chance gegeben“, sagt der Missionar später und fügt hinzu, dass seine Landsleute zu sehr darauf vertrauen würden, dass Gott die Schuldigen später richten werde. „Nein, wir müssen jetzt für Gerechtigkeit sorgen. Weil wir Philippiner sind.“ Das sei seine Motivation. Und wenn ihm die Überzeugung mal abhandenkomme, bete er.

Der folgende Sonntag beginnt für Bruder Jun Santiago auf dem Gemeindefriedhof von Caloocan. Schweigend folgt er dem Trauerzug durch ein Labyrinth aus Mauergräbern. Nischen voller Särge, Schicht um Schicht übereinandergestapelt, durchziehen den Friedhof wie ein Lindwurm aus Beton. „Warum hast du mir das angetan? Du hast mir doch versprochen, mit den Drogen aufzuhören“, klagt die Witwe des Getöteten und bricht weinend über dem Sarg zusammen. Dann wird Jerito Garganta, Kleindealer, Ehemann, Vater von vier traumatisierten Kindern, in ein bescheidenes Mauergrab geschoben. Bruder Jun fotografiert und erzählt, dass seine Kirche die fehlenden Beerdigungskosten übernommen habe; 10.000 Pesos, umgerechnet 170 Euro. Nachdem das Grab versiegelt ist und die letzten Trauergäste den Friedhof verlassen haben, steht der Missionar zwischen Gräbern im Schatten einer Akazie und scrollt durch seine Fotos. In seiner Tasche vibriert sein Telefon. Lazarus hat eine Textnachricht geschickt. „Alles in Ordnung“, steht auf dem Display.