Zeitenspiegel Reportagen

Im Land der eingesperrten Kinder

Erschienen auf "Spiegel online" am 28.02.21

Von Autor Carsten Stormer

Geschlossene Schulen, Ausgangsverbote für Jugendliche: Seit fast einem Jahr herrscht in den Philippinen ein Dauerlockdown. Und Präsident Rodrigo Duterte? Rät Eltern: Setzt die Kleinen vor den Fernseher!

An Tag 324 der Quarantäne stehen zwei Polizisten vor einem Slum im Hafenviertel Manilas, der philippinischen Hauptstadt, und kontrollieren Autofahrer und Passanten, die sich nicht an die Corona-Regeln halten. Seit Kurzem müssen Fahrgäste nicht nur Schutzmasken tragen, sondern zusätzlich auch Plastikvisiere. Wer sich weigert, muss ein Bußgeld bezahlen. Die Beamten haben an diesem Februarmorgen viel zu tun, stoppen Autos, verteilen Strafzettel. Hinter ihnen wölbt sich ein Torbogen: „Welcome to Happyland“, steht darauf. Von hier aus führt eine schmale Straße in eine Parallelwelt, in der die ärmsten Bewohner Manilas im Müll und vom Müll leben.

„Happyland“ ist ein Slumviertel, das sich um eine Deponie herum gebildet hat. 23.000 Menschen leben hier dicht gedrängt und ohne sanitäre Anlagen. Niemand trägt Maske oder Visier. Halbnackte Kinder toben unter einem Gewirr aus Stromkabeln und Wäscheleinen, springen kreischend in die stinkende Brühe des Hafenbeckens. Ein Eisverkäufer schiebt sein Wägelchen durch die Gassen, ein Händler verkauft Marienstatuen.

Am Ende des Viertels befindet sich die Himmelsstraße, ein dunkler Korridor aus Plastikplanen, unverputzten Betonbauten und Wellblech. Hier geht die Familie La Torre seit elf Monaten durch die Hölle. Jelly La Torre, 29 Jahre alt, bleich und abgespannt, öffnet die Türe ihres Verschlages, in dem sie mit ihrem Mann, ihren beiden Töchtern und ihrem dreijährigen Sohn auf etwa 15 Quadratmetern lebt. Eine ihrer Töchter steht vor der Hütte und unterhält sich mit Freundinnen, während sich ihr Sohn mit seiner zweiten Schwester um das Tablet streiten, auf dem der Online-Unterricht stattfindet. Das Tablet ist ein Geschenk des Bürgermeisters an arme Familien der Gegend. Im Januar keimte in der Familie La Torre Hoffnung auf, als die Covid-19-Task-Force der Regierung ankündigte, dass Kinder unter 15 Jahren ab Februar wieder ins Freie dürften. Aber die Freude währte nur kurz. Präsident Rodrigo Duterte revidierte die Entscheidung seiner Regierungsbeamten und verlängerte den Lockdown für Kinder. Er wolle nicht riskieren, dass sich junge Menschen mit Mutationen des Virus anstecken. Den Eltern riet Duterte: Kinder sollten einfach mehr Fernsehen schauen.

Seit dem 16. März 2020 dürfen philippinische Kinder offiziell nicht ihr Zuhause verlassen. Schulen und Kindertagesstätten sind seitdem geschlossen, Spielplätze, Sportstätten und Parks für Kinder unter 15 Jahren verboten. Eltern, deren Kinder gegen die Sperre verstoßen, müssen mit einer Gefängnisstrafe rechnen.

„Meine Kinder leiden sehr“, sagt Jelly La Torre. „Ständig gibt es Streit, weil sie sich das Tablet teilen müssen und sich ihre Stundenpläne überlappen. Ich glaube nicht, dass sie etwas lernen.“ Die junge Mutter kann seit einem Jahr wegen starker Schmerzen in ihrem linken Bein kaum gehen. „Es ist hart, weil ich mich nicht um meine Kinder kümmern kann.“ Der habe ihr gesagt Arzt, erzählt sie, dass sie mehr Tests brauche, um die Ursachen der Schmerzen festzustellen. Das Problem ist, dass sie dafür kein Geld hat. Als ihre Tochter das hört, beginnt das Mädchen zu weinen. „Ich bin traurig wegen Mama“, schluchzt das Mädchen. „Wir dürfen nicht mehr rausgehen und mit Mama und der Familie Spaß haben. Wir können nirgendwo hingehen.“

Die Neunjährige steht im Türrahmen ihres Zuhauses. Weiter darf sie nicht. Sie ist ein hübsches, schmales Mädchen. „Manchmal spiele ich mit meinen Freundinnen, aber nur hier vor der Türe. Ansonsten schaue ich viel Fernsehen“, sagt das Mädchen. Im Gegensatz zu anderen Familien des Viertels achtet Jelly La Torre streng auf die Corona-Regeln. „Wir können es uns nicht leisten, krank zu werden“, sagt sie. Manchmal durchsuchen Polizisten das Quartier nach Quarantänebrechern. „Aber wir werden vor Razzien gewarnt“, sagt Jelly La Torre. Wenn die Polizei eintrifft, sind alle Bewohner in ihren Häusern.

In Happyland zeigt sich die Misere des gesamten Landes: Die Regierung bekommt die Pandemie nicht in den Griff und reagiert mit einem Aktionismus, unter dem ein Großteil des Volkes leidet. Mehr als eine halbe Million Philippiner waren oder sind mit dem Corona-Virus infiziert, mehr als 12.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Nur Indonesien ist in Südostasien noch stärker betroffen.

Es sind vor allem die Jüngsten, die unter den Maßnahmen der Regierung leiden. Zu Beginn der Pandemie Kinder, die auf der Straße leben, zuweilen in Hundekäfige eingeschlossen; in der Provinz Cavite wurden zwei Kinder nach Verletzung der Ausgangssperre sogar in einen Sarg gesperrt. Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, hat ermittelt, dass immer weniger philippinische Kinder am Online-Unterricht teilnehmen und viele Eltern ihre Kinder erst gar nicht einschulen – sie fallen vollständig aus dem Schulsystem heraus. Auch häusliche Gewalt nehme zu, so die Uno-Experten, weil viele Familien auf engstem Raum zusammengepfercht leben müssen. Und die Gesundheit der Kinder leidet zusätzlich darunter, dass ärztliche Untersuchungen kaum noch durchgeführt werden.

So breitet sich im Schatten der Pandemie eine Bildungs- und Gesundheitskatastrophe aus. Außerdem sind die Philippinen in eine tiefe Rezession gestürzt, die meisten Menschen sind damit beschäftigt, zu überleben, Arbeit zu finden und ihre Kinder zu ernähren. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote lag im Dezember 2020 bei 10,4 Prozent. Für die meisten Familien bedeutet keine Arbeit kein Geld – mit verheerenden Folgen in den Armenvierteln. So sollen sich im Lockdown die Fälle von Online-Kindesmissbrauch in dem Land verdreifacht haben. Die Unicef fürchtet, dass Kinder, die aufgrund der Quarantänebeschränkungen zu Hause bleiben müssen, leichter zu Opfern von Online-Sexhandel und Ausbeutung werden.

Offiziell gelten die strengen Ausgangsbeschränkungen für alle Kinder gleichermaßen. Doch die Pandemie offenbart einmal mehr die soziale Ungerechtigkeit des philippinischen Klassensystems. Während sich um die Kinder armer Familien niemand kümmert, erlebt der Nachwuchs aus reichem Hause einen Lockdown light: Privatschulen bieten digitale Rundumversorgung, statt Hausarrest genießen die Schüler ihre Freizeit in privaten Tennisclubs, Swimmingpools und bei diskreten Partys mit Freunden in Siedlungen, die von Mauern und bewaffneten Sicherheitskräften abgeschirmt werden.

Jene, die am meisten zu verlieren haben, sind Mittelschichtfamilien, deren mühsam aufgebauter Wohlstand durch die Pandemie bedroht ist. Die Ortschaft Marilao ist ein beschaulicher Vorort von Manila, 30 Autominuten vom Stadtzentrum entfernt. Eine saubere, ruhige Gegend mit flachen Bungalows, blühenden Bougainvilleas und Kokospalmen. Im Gegensatz zu Happyland halten sich die Menschen strikt an die Ausgangsregeln der Regierung. Die Straßen sind menschenleer.

Hinter einem grünen Metalltor lebt June Coles mit seiner Frau, zwei Töchtern und vier Enkelkindern. Die Großfamilie hat Covid-19 den Kampf angesagt. Besucher dürfen das Haus nur mit Maske betreten und müssen ihre Schuhe in einen Bottich mit Desinfektionsmitteln tauchen. Überall stehen Seifenspender und Boxen mit Einwegmasken.

„Wir gehen kein Risiko ein“, sagt der 70-jährige June Coles, ein pensionierter Regierungsbeamter mit schütterem Haar und Lesebrille. Er sitzt auf der Veranda seines Hauses und nippt an einem Kaffee. Drinnen hockt der 13-jährige Mathew Henry mit einem Kopfhörer vor dem Computer beim Online-Unterricht, wie jeden Tag von neun bis zwölf. Die Familie kann es sich leisten, den Jungen auf die private St. Michael Academy zu schicken. Kunst und Englisch stehen auf dem Stundenplan. Mathew trägt Schuluniform, Maske und eine Brille. Wie alle seine Schulkameraden hat auch er seit März vergangenen Jahres nicht mehr das Haus verlassen. Es ist sein 325. Tag in Isolation. Das sei aber kein Problem, sagt der Teenager mit der brüchigen Stimme eines Pubertierenden. „Ich fühle mich nicht einsam. Mir ist nicht langweilig.“ Er sehe seine Freunde täglich auf Facebook und anderen sozialen Medien, sie verabreden sich auch zu Online-Spielen. „Mir macht der Lockdown nichts aus.“

Sein Großvater sagt: „Wir tun was wir müssen, um diese Pandemie unbeschadet zu überstehen.“ Deshalb erlaube er Mathew nicht, das Haus zu verlassen. Sechs bis acht Stunden sitze Mathew täglich am Computer. Die Familie versuche aufzufangen, was möglich ist. „Wir Philippiner sind sehr familienorientiert. Es ist ein Segen, meine Familie ständig um mich zu haben.“ June Coles hält kurz inne. Dann fügt er hinzu: „Meistens, zumindest.“

Mathew zieht sich für die Hausaufgaben zurück. Er muss einen Aufsatz über Freiheit schreiben. „Ich werde schreiben, dass Freiheit nicht immer das ist, was man sich darunter vorstellt.“ Freiheit, glaubt der Junge, sei mit den Freunden Basketball zu spielen oder mit der Familie durch eine Mall zu bummeln.

Familien wie die Coles unterstützen die Maßnahmen von Präsident Duterte, der unter anderem seine Polizei aufforderte, hart durchzugreifen. Seinem Volk drohte er: „Fordert nicht die Regierung heraus. Ihr werdet verlieren.“ Tausende wurden festgenommen, die gegen die Quarantänemaßnahmen verstießen. Viele mussten wochenlang in überfüllten Gefängnissen ausharren. Trotz allem erfreut sich Duterte weiterhin großer Beliebtheit. In einer Umfrage im Oktober 2020 erklärten 91 Prozent der Befragten, dass sie mit der Corona-Politik des Präsidenten zufrieden sein.

Einer, der der damit nicht einverstanden ist und sich auch von den Drohgebärden des Präsidenten nicht einschüchtern lässt, ist Reynaldo Daguitera, ein Priester, 54 Jahre alt, klein von Gestalt und fest im Glauben. Seit Juli 2018 leitet er das „Shelter of Joy“, ein Kindertagesbetreuungs- und Ernährungszentrum in Tondo, in einem der größten Slums Manilas. Das Heim liegt hinter einer Kirche an einem stinkenden Nebenarm des Pasig-Flusses, in dem eine schwarze Brühe träge Richtung Meer fließt.

50 Kinder kommen normalerweise jeden Morgen hier her. Scavenger werden sie genannt, Aasfresser, weil sie Müll sammeln und verkaufen, um ihre Familien mit einem zusätzlichen Einkommen zu unterstützen. Statt im Abfall zu wühlen, bekommen die Kinder in Pastor Daguiteras Zentrum jeden Tag eine warme Mahlzeit, betreuten Unterricht und können mit anderen Kindern spielen. Zumindest bis zum 4. Januar dieses Jahres. Dann schickte der Bürgermeister einen Brief an Reynaldo Daguitera und andere Pfarrer. „Der Bürgermeister hat uns vorerst verboten, das Heim zu betreiben, wegen dieser britischen Virus-Mutante.“

Aufgeben komme für ihn jedoch nicht in Frage. „Wir versuchen möglichst viele Kinder zu retten.“ Er hat seine Schützlinge nun in ein Schichtsystem eingeteilt, damit nicht alle gleichzeitig zu ihm kommen, 25 Kinder morgens, 25 nachmittags. Gegessen wird gemeinsam. Der Bürgermeister wisse davon nichts. Daguitera sagt, er bitte lieber später um Verzeihung als vorher um Erlaubnis.

Der Priester führt durch sein Heim, in das an diesem Morgen nur wenige Kinder gefunden haben. Im Erdgeschoss betreut eine ehrenamtliche Kindergärtnerin acht Jungen und Mädchen, im Obergeschoss lernen fünf Schülerinnen und Schüler online. An einem der Rechner sitzt John Dave, neun Jahre alt, ein dünner Junge in einem durchlöcherten T-Shirt, und schaut den Livestream eines Nachrichtensenders. „Das mache ich jeden Tag, um zu wissen, ob die Pandemie zu Ende ist und ich wieder raus darf.“

Sechs Kinder mussten das Programm von Reynaldo Daguitera während der Pandemie verlassen „Ihre Familien erwarten, dass sie wie früher Müll aufsammeln“, sagt er. Sie suchen nach Plastik, Zellophan und anderen wiederverwertbaren Dingen, ihre Familien brauchen das Geld. „Sie gehen nicht mehr zur Schule, also werden sie ein weiteres Jahr verlieren. Es ist schlimm.“

Inzwischen rechnet in den Philippinen kaum noch jemand damit, dass die Schulen dieses Jahr wieder öffnen. Die Isolation geht weiter. Reynaldo Daguitera baut inzwischen Gemüse an, seitdem Lebensmittel so teuer geworden sind, dass immer mehr Menschen Hunger leiden. Im Hinterhof betreibt er eine Fischzucht, 5000 Tilapia schwimmen in drei Becken. Er fürchte, sagt er, dass die Behörden sein Zentrum zumachen. „Wir müssen täglich damit rechnen, dass man uns schließt“, sagt er.

Glücklicherweise kenne er die Polizisten der Gegend gut. Sie kommen jeden Nachmittag zum Basketballspielen vorbei. Offenbar hat sich unter den Beamten herumgesprochen, dass im Jugendzentrum ein Basketballplatz steht, denn das Interesse wächst. Daguitera freut sich darüber, selbst wenn es auch Polizisten verboten ist, in der Pandemie gemeinsam Sport zu treiben. Daguitera sagt, es mache ihm das Leben leichter, wenn er einen kurzen Draht zu denjenigen hat, die die Regeln durchsetzen sollen.