Zeitenspiegel Reportagen

Rinder, zur Sonne, zur Freiheit!

Erschienen in "Die Zeit" Nr. 11/2021

Von Autor Markus Wanzeck

Seit Jahrzehnten kämpfen die Maiers auf ihrem Hof am Rand der Schwäbischen Alb dafür, dass ihre Nutztiere würdevoll leben - und ohne Leid sterben dürfen.

“Schlachthöfe sind die Hölle.” Ernst Hermann Maier spricht diesen Satz mit tiefster Überzeugung aus. Völlig zu Recht seien diese Orte des fabrikgleichen Tötens am Fließband seit den Corona-Masseninfektionen bei Tönnies, Westfleisch und Co. in Verruf geraten, wieder einmal. Seit Jahrzehnten kämpft der schwäbische Landwirt dafür, dass seine Rinder auf der Weide sterben dürfen. Damit ihnen diese Hölle erspart bleibt. Und auch der “highway to hell”, die Tiertransporte, teils über Hunderte oder gar Tausende Kilometer hinweg.

Ernst Hermann Maier, 78 Jahre alt, ein eigentlich umgänglicher Käppi-Träger, der hart und schwäbisch-schroff klingen kann, wenn er sich in Rage redet, sitzt mit seiner Tochter Annette, 49, in einem Zimmer, von dessen Wänden gewaltige präparierte Rinderköpfe auf einen niederblicken. Wer den beiden zuhört, merkt schnell, dass hier in Balingen-Ostdorf, am Rand der Schwäbischen Alb gelegen, fast alles anders läuft als auf anderen Höfen. Der Maier-Hof steht für eine natürlichere, tiergerechte Landwirtschaft – in Deutschland, aber auch grenzüberschreitend.

Mit großer Beharrlichkeit haben die Maiers Rinderhaltern in Europa schon mehrfach zu neuen Vorschriften verholfen, die einen respektvolleren Umgang mit den Nutztieren erlauben. Im April ist es wieder mal so weit: Statt mit schmerzhaften Ohrmarken dürfen Rinder dann mit Segen der EU per Mikrochip gekennzeichnet werden.

Das Effizienzgebot der modernen Tierhaltung ignorieren die Maiers bewusst. Sie zählen zu den Bio-Pionieren. Bio allein geht ihnen aber nicht weit genug. Sie widersetzen sich Vorschriften, die aus ihrer Sicht eine unnötige Tierquälerei darstellen. Die Tiere dürfen die Hörner behalten, wichtige Werkzeuge für ihre Hygiene und Kommunikation. Sie bekommen schon lange keine Ohrmarken mehr. Sie dürfen im Familienverbund zusammenleben. Und: Statt die Rinder in den Schlachthof zu schicken, schießt Ernst Hermann Maier sie auf der Weide.

Seit fast vierzig Jahren haben die Kühe, Bullen und Kälber keinen Stall mehr von innen gesehen; nur eine offene Fütterungshalle steht auf der Weide, zum Schutz gegen Regen und Schnee. Das Ergebnis ist die wohl artgerechteste Haltung von Rindern in Europa. Jedenfalls ist es mit 300 Tieren die größte Herde, die weitgehend autonom leben darf. Ganzjährig stehen die Rinder auf der Weide und nähern sich so wieder ihren Vorfahren an. “Uria-Rinder” hat Maier seine Tiere genannt. Eine Hommage an den Ur, den wild lebenden Auerochsen, der vor Jahrhunderten ausgerottet wurde.

“Das ist ein richtiges Rindervolk”, sagt Maier. Besonders die Bindung zwischen den Mutterkühen und ihren weiblichen Nachkommen sei eng, sagt seine Tochter Annette. “Man sieht Freundschaften zwischen Rindern, die im gleichen Monat geboren wurden. Das hält ein Leben lang.” Die Tiere liegen in Gruppen beieinander, erkennen einander wieder und begrüßen sich, nachdem sie getrennt waren. Wenn man weiß, wie die Bauernfamilie tickt, wundert es gar nicht mehr so sehr, dass der Vater sagt: “Mir händ ja des Problem, dass mer schlachtä müsset.” Der Tod der Rinder ist auch auf dem Uria-Hof oberstes wirtschaftliches Gebot.

Zwei Tiere schlachten sie pro Woche. Maier holt sie aus dem Leben und von der Weide, fürs Zerlegen und Wursten haben sie einen Metzgermeister angestellt. Die Fleischerzeugnisse verkaufen sie über ein Netzwerk von Bioläden, über ihre Website und im eigenen Hofladen. Zu Preisen, “die wir brauchen, um unsere Rechnungen bezahlen zu können”, sagt Ernst Hermann Maier. Preise, ergänzt Annette Maier, “bei denen normale Metzger ohnmächtig werden”. Das Kilo Hack kostet 24,50 Euro. Das Filet 79,50 Euro. “Das ist mal ein regulärer Preis”, sagt Annette Maier. “Alles andere ist nur künstlich niedrig gehalten.” Durch Subventionen, minderwertiges Futter, Tierquälerei. “So sieht’s nämlich aus.” Die Geschichte der Uria-Rinder begann 1983. Ernst Hermann Maiers Vater wurde krank und fiel auf dem Hof aus. Damals entschied die Familie aus der Not heraus, die Tiere auch im Winter auf der Weide zu lassen, um die Arbeit zu reduzieren. Als sie bemerkten, wie gut die vermeintliche Notlösung den Tieren tat, beschlossen sie: Die bleiben draußen.

Seitdem mussten sie einige Auseinandersetzungen mit den Behörden überstehen. Die erste Fehde hätte den Hof beinahe die Existenz gekostet. Auslöser war Axel. Drei Mann mühten sich mehrere Stunden lang vergebens, den Bullen auf den Transporter zum Schlachthof zu bugsieren.

Notgedrungen tötete man das Tier auf der Weide. Nach diesem Tag im Oktober 1986 schwor sich Maier, seinen Rindern die Todesangst vor dem Transport zu ersparen. Er ließ sie fortan von einem Jäger auf der Weide schießen. Als ihm das 1988 untersagt wurde, stritt er vor Gericht für sein Recht – ein juristischer Kampf, der zwölf Jahre dauerte. Währenddessen ließ er auf der Weide der Natur ihren Lauf, und die Rinderherde wuchs von 40 Tieren in den Neunzigern auf mehr als 200 Tiere.

1995 erfand Maier die “mobile Schlachtbox”, kurz MSB, einen Stahlcontainer, in dem man Rinder nach dem Betäubungsschuss direkt auf der Weide ausbluten lassen kann, und begann, die Erfindung zu vermarkten. Im selben Jahr gründeten die Maiers gemeinsam mit Freunden den Uria e. V., einen gemeinnützigen Tierschutzverein mit inzwischen mehr als 1600 Mitgliedern, ohne dessen Unterstützung es dem Uria-Hof, so sagt Maier, “furchtbar dreckig” ginge. Trotzdem hatten sich bis zur Jahrtausendwende nicht nur Maiers Rinder, sondern auch seine Schulden rasant vermehrt: auf rund zwei Millionen D-Mark. Überschaubare Einnahmen, andererseits hohe Ausgaben für die wachsende Herde, das Tierfutter, die stattlichen Anwaltshonorare. Im Jahr 2000 stand der Hof vor der Zwangsversteigerung.

Dann geschah, was Maier “das Wunder von Uria” nennt. In der Zeitung erschien ein Leserbrief, der zu Spenden aufrief – und binnen zwei Wochen kam rund eine halbe Million D-Mark zusammen. “Ein Schrotthändler erschien auf dem Hof und legte eine prall gefüllte Ledertasche auf den Tisch. 30.000 Mark. Einfach so.” Das Spendengeld sowie Sponsoren, die großzügige Darlehen gaben, retteten den Uria-Hof. Noch immer kann Maier es kaum fassen: “So was”, sagt er, “so was gibt’s ja normal gar nicht.”

Im selben Jahr endete der juristische Streit, zugunsten des Uria-Hofs. Das Verwaltungsgericht Baden-Württemberg erlaubte das Schießen von Rindern, die ganzjährig auf der Weide leben. Der Landwirt legte die Jägerprüfung ab, im Mai 2001 wurde ihm die Schießerlaubnis erteilt. Seitdem tötet er selbst, guten Gewissens und schweren Herzens. Auch nach all den Jahren sei das noch immer ein “Scheißjob”, sagt er. Er geht dafür auf die Weide, zielt aus kurzer Entfernung mit dem Gewehr auf den Kopf eines Tiers – ein Betäubungsschuss in vertrauter Umgebung, inmitten der Rinderherde. Danach wird das bewusstlose Tier per Seilwinde in die MSB gehievt. Dort, über der Blutauffangwanne, werden ihm die Halsschlagadern aufgestochen. Zerlegt wird es anschließend in der hofeigenen Metzgerei.

Seit 1999 markieren die Maiers ihr Vieh per Mikrochip statt mit den dafür vorgesehenen Plastikohrmarken. Mit denen behalten die Behörden die Handelsströme der Fleischindustrie im Blick und können so Tierseuchen wie BSE eindämmen. Laut Vorschrift soll jedes Rind links und rechts eine Marke in die Ohren gestanzt bekommen.

Gut gemeint, findet Ernst Hermann Maier. Doch er ist überzeugt, einen besseren Platz für die Ohrmarken gefunden zu haben: “Wir legen sie auf den Dachboden.” Dort verursachen sie den Rindern keinen Schmerz. Und reißen auch nicht an Ästen und Büschen aus, was zu Verstümmelungen und Infektionen führen kann. Er holt eine Papiertüte, randvoll gefüllt mit den gelben Plastikscheiben, verteilt sie auf dem Tisch. Daneben legt er einige Mikrochips von geschlachteten Rindern. Ein solches Transponder-Stäbchen, etwa einen Zentimeter lang, wird jedem Kalb nach der Geburt neben dem Schwanzansatz unter die Haut injiziert. Die darauf gespeicherten Informationen lassen sich aus kurzer Entfernung mit einem Funklesegerät abrufen. Dann zeigt es die Nummer der Ohrmarke an, das Geburtsdatum des Tieres und den Namen. Namen? Bei fast 300 Rindern?

“Die haben alle einen”, sagt Annette Maier. “Wenn sie auf die Welt kommen, muss man sehen, was passt.” Dreipunkt zum Beispiel hatte drei Punkte im Gesicht. Jahrelang markierten die Maiers ihre Rinder per Mikrochip, mit Wissen des zuständigen Veterinäramtes. Kein Problem, für keinen. Bis zu einer anonymen Anzeige im Frühjahr 2012. Es folgten Kontrollen der Herde und die Kürzung der EU-Agrarsubventionen.

Die Maiers blieben dabei: keine Ohrmarken. Der Landrat stellte sich auf ihre Seite. Er erteilte dem Uria-Hof eine Ausnahmegenehmigung, da es sich ja um eine geschlossene Herde handle und kein Tier in den Schlachthof transportiert werde. Wozu also eine für den Viehverkehr gedachte Markierung? Das Regierungspräsidium Tübingen überging diese Argumentation und setzte die Ausnahmegenehmigung im November 2013 außer Kraft. Die Subventionen wurden komplett gestrichen.

Seitdem bekommt der Uria-Hof von den 60 Milliarden Euro, die die EU jährlich an Landwirte ausschüttet und die oft ein Drittel oder mehr von deren Umsatz ausmachen, keinen Cent mehr. Schuld daran trage aber nicht die EU, betont Ernst Hermann Maier, sondern “bornierte deutsche Verwaltungsbeamte, die ihre Borniertheit der EU in die Schuhe schieben”. Insgesamt seien ihnen dadurch in den zurückliegenden neun Jahren exakt 438.822,62 Euro verwehrt worden, rechnet er vor, zudem kamen 77.000 Euro Anwaltskosten zusammen. “Aber mit Geldentzug bringt man uns nicht zum Einknicken.”

Trotz des “Wunders von Uria” lastet auf Ernst Hermann Maiers Schultern bis heute ein Schuldenberg. Unmöglich, den jemals wieder abzubezahlen, sagt er – und lächelt. “Des isch aber gar ned so schlimm, gell?” Nun gelte er eben als zahlungsunfähig, werde nie wieder im Leben etwas besitzen – er persönlich. Den Hof hingegen hat er ja, vor vielen Jahren schon, auf seine Tochter übertragen. Politisch indes ist die Sache rundum gut ausgegangen für die Maiers, so gut, wie sie sich das vielleicht selbst nicht erträumt hätten. Das Schießen der Rinder auf der Weide, das sie vor 21 Jahren erstritten hatten, praktizieren heute mehrere Hundert Höfe in Deutschland. Im Juli 2020 wurde diese Praxis auch in der Schweiz erlaubt – nicht zuletzt dank der dickköpfigen Pioniere von der Schwäbischen Alb. Sie waren Vorbild für ein Pilotprojekt im Kanton Zürich, das der Schweizer Gesetzesnovelle zur “Hof- und Weidetötung” vorangegangen war . Und auch die zweite große Schlacht, der Ohrmarkenstreit, ist für den Uria-Hof siegreich geschlagen: Ab dem 21. April erlaubt die EU die Identifizierung von Rindern in geschlossenen Betrieben wie dem der Maiers per Mikrochip, so ausdrücklich, dass auch kein schwäbischer Beamter das missverstehen kann. Und dann sollten auch die EU-Subventionen wieder fließen.

“Wir sind halt der Zeit ein bissle voraus”, sagt Maier. “Und dann kriegst du Prügel.” Die haben er und seine Familie weggesteckt über all die Jahre. Um ihren Tieren Leid zu ersparen. Und, so sagt er, “auch für die Kollegen, die nicht so ein dickes Fell haben wie wir”.