Zeitenspiegel Reportagen

Roboter im Einsatz

erschienen in "stern" 02/2020

Von Autor Frank Brunner

Schon bald werden selbstständig operierende Maschinen die Feuerwehr unterstützen - und Leben retten

Als die Sirene ertönt, schnappt sich Sven Eder seine Kettensäge und stürmt in den Tunnel. Flammen schlagen ihm entgegen, hinter Rauchschwaden entdeckt er den brennenden ICE. Jetzt zählt jede Sekunde. Eder setzt die Säge an und schneidet einen Notausgang in die Zugwand, durch den Fahrgäste der Feuersbrunst entkommen können. Minuten später streift er seine klobige Brille ab und blickt sich um. Der 25-jährige Brandmeister steht mitten im Besprechungsraum der Dortmunder Feuerwache. Nur die Kettensäge in seiner Hand erinnert an den dramatischen Einsatz.
In Wirklichkeit lassen sich solche Einsätze kaum trainieren. Wer kann schon zu Übungszwecken einen ganzen Zug in Brand stecken? Also taucht Eder in eine computergenerierte Welt, die sich kaum von der Realität unterscheidet. Tunnel, Feuer, Zug – durch seine VR-Brile wirkt das alles täuschend echt. „Feuer realistisch zu simulieren erfordert eine immense Rechenleistung“, sagt Martin Zimmermann, Geschäftsführer der Firma Imsimity, die das Programm entwickelt hat. Das Besondere: Der Computer misst nicht nur Eders Schnelligkeit und Genauigkeit, sondern registriert jedes Zögern, jeden Fehler. An- schließend aktualisiert sich die Software selbstständig. Eder lernt im Simulator, aber der Simulator lernt auch von Eder. Damit ist er Vorbote von Maschinen mit künstlicher Intelligenz (KI), die Einsätze sicherer machen sollen. Rund 1,3 Millionen Feuerwehrleute in Deutschland befreien Unfallopfer aus Autos, retten Menschen aus brennenden Wohnungen, beheben Störfälle in Betrieben, löschen Waldbrände, helfen bei Überschwemmungen und Naturkatastrophen. Oft unter Lebensgefahr. Um ihr Risiko zu verringern, entwickeln Wissenschaftler Flug- und Bodenroboter, die ohne menschliches Zutun durch unbekanntes Terrain navigieren, Verschüttete suchen, Brandherde aufspüren oder defekte Giftfässer versiegeln. Möglich machen das Computer, die auf riesige Datenmengen zurückgreifen, unzählige Szenarien durchspielen und sich für die beste Problemlösung entscheiden. In jeder Lage sammelt der Rechner neue Daten. Mit künstlicher Intelligenz arbeiten bereits heute die Gesichtserkennung von Smartphones und der Autopilot eines Tesla. Doch diese Anwendungen lassen sich kaum mit Rettungseinsätzen vergleichen. Sirko Straube, Robotikexperte am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Bremen, sagt: „Im Straßenverkehr habe ich ein Regelwerk, Fahrbahnmarkierungen, Schilder und Vorschriften. Einem Roboter im Rettungseinsatz fehlt dieser Kontext. Er agiert in einer fremden, lebensfeindlichen Umgebung, er muss auf unbekannte Situationen reagieren.“ Straube schätzt, dass autonome Rettungsroboter in etwa zehn Jahren einsatzfähig sind. Heute steht die Assistenztechnik der Retter noch unter menschlicher Regie. Die Feuerwehr nutzt bereits Drohnen und Bodenroboter. Von den Möglichkeiten selbstlernender Maschinen sind diese Geräte aber noch weit entfernt. Norbert Pahlke, Drohnenpilot bei der Feuerwehr und Wissenschaftler am Institut für Feuerwehr- und Ret-tungstechnologie, steuert im Innenhof der Dortmunder Wache einen kleinen Flugroboter. „Derzeit werden diese Drohnen über Funk vom Boden aus von zwei Piloten bedient“, erklärt er, „einer dirigiert die Drohne, der andere die Kameras.“ Das Problem: Eine solche Drohne kann erst eingesetzt werden, wenn Feuerwehrleute vor Ort sind. Sich selbst steuernde Drohnen könnten dagegen sofort starten und den Rettungskräften schon vorausfliegen. „Damit gewinnen wir wertvolle Zeit“, sagt Pahlke. Außerdem wären Rettungskräfte nicht mit der Bedienung beschäftigt, sondern könnten sich auf die Bildanalyse konzentrieren. Auch Roboter, die bereits heute eingesetzt werden – etwa im April 2019, als die Pariser Kathedrale Notre-Dame brannte –, werden ferngesteuert. Kevin Daun, Informatiker und Robotikexperte an der TU Darmstadt, findet das nicht optimal. „So fehlt den Einsatzkräften möglicherweise der Überblick“, erklärt er. „Rauch oder Trümmerteile beeinträchtigen die Sicht. Feuerwehrleute, die unter hohem psychischem Druck arbeiten, können auf dem Monitor Gefahren übersehen.“ Ziel ist es deshalb, dass auch Roboter autonom operieren. Eine wichtige Voraussetzung dafür – eine selbstständige Navigation – sei auf Forschungsebene bereits verwirklicht. Eine rasend schnelle Punktwolke Daun steht in einer kirchturmhohen Halle am Rande Dortmunds vor dem ausgebrannten Wrack eines Tanklasters, der 1987 ungebremst in die Innenstadt von Herborn raste und vor einer Eisdiele umkippte. Zwölf Häuser brannten ab, sechs Menschen starben. Daun klappt seinen Laptop auf und startet einen Bodenroboter. Hinter dem Greifarm beginnt ein kaffeetassengroßer Zylinder um die eigene Achse zu kreisen, ein 3-D-Scanner feuert Lichtimpulse durch die Halle. Auf dem Monitor breitet sich rasend schnell eine vielfarbige Punktwolke aus. Jeder Punkt steht für ein Lichtsignal, das von einem Hindernis zurückgeworfen wird. So entstehen Hunderte Scans der Umgebung, die ein Hochleistungsrechner zu einer Karte zusammenfügt. Simultane Positionsbestimmung und Kartenerstellung“ heißt das Verfahren. Diese Aufgabe ist extrem komplex. Autonome Roboter müssen in kürzester Zeit und nahezu gleichzeitig fremdes Gelände erkunden und die eigene Position erfassen. In Dortmund hat der Roboter nach etwa einer Minute genug Daten gesammelt. Er rollt Richtung Fahrzeugwrack, wo Feuerwehrleute ein defektes Fass platziert haben, aus dem dicker Qualm quillt. Über einen Joystick steuert Daun den Greifarm so, dass der mit einem Pfropfen das Fass verschließt. In einem Jahrzehnt werden solche Rettungseinsätze ganz anders ablaufen, das zeigt das folgende Zukunftsszenario, das auch erklärt, mit welchen Schwierigkeiten Feuerwehrleute, Neurowissenschaftler und Informatiker weiter kämpfen. Ein Tag im Jahr 2029: Die Einsatzstelle in der Dortmunder Feuerwehrwache erreicht ein Notruf. Ein tonnenschwerer Sattelzug ist in ein Wohnhaus am Stadtrand gekracht. Fässer mit Aceton laufen auf der Straße aus. Explosionsgefahr. Hauptbrandmeister Bernd Schäfer wird den Einsatz von der Leitstelle aus koordinieren. Er informiert seine Kollegen, tippt die Adresse des Unglücksorts in seinen Laptop, der die Daten an eine Drohne funkt. Sekunden später berechnet der Flugroboter die schnellste Route und startet. Am Unfallort angekommen, kreist er über dem Areal und funkt detaillierte Luftbilder und GPS-Daten an die mobile Einsatzzentrale, einen Truck, in dem Brandrat Peter Damm das Kommando führt. Damm und seine Kollegen sitzen im Besprechungsraum des Trucks und sichten in einer Projektion die Echtzeitaufnahmen der Drohne. Doch diese Drohne der Zukunft kann mehr: Sie umkreist das Haus, aktiviert die Wärmebildkamera und steuert nacheinander alle Fenster des Hauses an, um zu ermitteln, in welchen Wohnungen Menschen sind. Noch bevor Damm und seine Kollegen vor Ort eintreffen, wissen sie, aus welchen Räumen Bewohner zu evakuieren sind. Damm verfolgt in diesem Szenario auf der Leinwand, wie sich die Drohne dem havarierten Sattelschlepper nähert. Ihre Sensoren messen die explosionsfähigen Atmosphären der Luft, eine Kamera filmt Fässer und ausgelaufene Flüssigkeit. Jetzt schwebt die Drohne direkt vor dem Heck des Lkws und zoomt auf das Gefahrgutschild über dem Stoßfänger. „Der Laster hat Aceton geladen“, funkt Damm an die Feuerwehrleute in den Löschzügen. Kurz darauf erfasst die Bilderkennungssoftware den Fahrer. Er liegt bewusstlos auf der Straße. Die Drohne gleitet zu ihm, das Gesicht des Mannes erscheint in Großaufnahme. „Er atmet!“, ruft Damm ins Funkgerät. An der Unfallstelle bergen seine Kollegen vor Ort den verletzten Fahrer. Dann aktiviert Damm den Bodenroboter, der von der Rampe fährt und dabei über Funk die Drohne kontaktiert, die eigenständig die Koordinaten des Sattelschleppers und der Fässer sendet. Der Roboter plant seine Route. Beim umgestürzten Sattelschlepper beginnt seine eigentliche Aufgabe. Mit Kameras erfasst er die Geometrie des Acetonfasses, vermisst das Leck im Deckel, sucht eine entsprechende Abdichtung und berechnet, wie er Fass und Pfropfen greifen muss, um das Loch zu schließen. Mit dem Greifarm schiebt er schließlich den Pfropfen millimetergenau in die Öffnung – ganz ohne menschliche Anleitung. Zurück in der Gegenwart legt Peter Damm Wert darauf, dass Roboter nicht über Menschenleben bestimmen. „Am Ende entscheiden die Einsatzkräfte, in welcher Reihenfolge Verletzte geborgen werden, und nicht ein Roboter.“ Zumal nicht nachvollziehbar ist, wie und warum künstliche Intelligenz bestimmte Entscheidungen trifft (siehe Interview rechts). „Geht es um die Rettung von Menschenleben, muss alles sehr zuverlässig und schnell ablaufen – dazu nehmen Feuerwehrleute ihre eigene Gefährdung in Kauf“, sagt Peter Damm. Sollen Sachwerte geschützt werden, können Roboter helfen, diese Eigengefährdung zu reduzieren. Bei aller Begeisterung für technischen Fortschritt sagt Damm aber auch: „Eine Feuerwehr muss immer funktionieren, selbst wenn kein Roboter, kein WLAN, kein GPS und kein Strom vorhanden ist.“