Zeitenspiegel Reportagen

Sie machen keinen Stich mehr

Erschienen in "Frankfurter Rundschau", 23. Juni 2009

Von Autor Jan Rübel

Tausend Kilometer im Kriechgang über deutsche Felder: Diese Strecke hat mancher polnische Erntehelfer zurückgelegt, wenn die Spargelzeit endet. Am morgigen Johannistag fahren die Saisonarbeiter zurück in die Heimat - für viele ein Abschied für immer. Die Plackerei lohnt sich auch für sie nicht mehr.

Manchmal spricht der Spargel. Die Erde zischt, wenn einer der Arbeiter das Messer hineinstößt und dann kurz innehält. Ein Druck aus dem Handgelenk nach unten, und dumpf knackend löst sich die weiße Stange aus dem dunklen Boden, wird von Hand ans Licht gezogen.

Rote Streifen durchziehen den Himmel über dem Horizont. Die Sonne geht auf, sie wirft ein blasses Licht auf die Männer auf dem Acker. Tief vornüber gebeugt, still und stetig - so stechen sie den Spargel. Eng legt sich der gefütterte Parka um Zdzislaws Schultern. Der Frühling ist bald vorüber. Aber vom Beetzsee, nördlich gelegen, bläst immer noch ein kalter Wind herüber.

Von weit her sind die Spargelstecher angereist ins brandenburgische Mötzow: aus Nowy Sacz, Warschau und Posen. Seit über 100 Jahren ist das so. Damals halfen ihre Großeltern bei der Ernte von Zuckerrüben. Im Zweiten Weltkrieg wurden ihre Eltern als Zwangsarbeiter verschleppt. Und heute ernten sie Erdbeeren, Spargel und Wein - all jene Arbeit, die den meisten Deutschen zu mühselig und zu schlecht bezahlt ist.

Zdzislaw Trzeszczow mustert den knapp 200 Meter langen Bifang, den Erdwall, in dem der Spargel schlummert. “Man muss ein Gefühl dafür haben, was man nicht sieht”, erklärt er dem Besucher. “Spargel wächst mal lang, mal kurz. Ob gerade oder krumm: mit einem Schnitt muss er heraus.” Die Stangenspitze muss der Stecher erahnen, bevor sie die Erde durchbricht. Am Ende der Reihe steht eine Thermoskanne mit einem Gebräu aus Wasser und Vitamintabletten. Bis zum nächsten Schluck sind es für Zdzislaw noch fünf Minuten, in denen er ein Kilo Spargel sticht. 50 Cent wird er dafür später erhalten. Zehn Stunden Plackerei bringen ihm 60 Euro.

Spargelstechen ist Knochenarbeit. Gebückt stehen - und immer wieder der kräftige Druck aus dem Handgelenk. “Wer die ersten vier Tage übersteht, hält die ganze Saison durch”, sagt Zdzislaw Trzeszczow. Dann haben sich die Muskeln an die Dauerbelastung gewöhnt. In Polen entließ man den heute 48-jährigen Bergwerks-Sanitäter nach 25 Jahren in den Ruhestand. Das Geld aus der Erntehilfe braucht er für seine Tochter; die studiert Finanz- und Rechnungswesen in Krakau.

Noch zwei Meter bis zum Ende des Bifangs. Zdzislaw Trzeszczows Messer stößt im Sand auf einen Stein, der Rückstoß lässt sein Handgelenk knacken, stumm vor Schmerz umfasst er es. “Hier”, ruft ihm Kollege Dariusz zu und wirft ihm eine Rolle Tape-Pflaster zu. Das dämmt den Schmerz.

Dariusz Drozdzynski, der als Erntehelfer über das gleiche Feld kriecht, ist daheim selbst Landwirt und baut auf seinem Hof in Wloszakowice Spargel an. Die beste Qualität verkauft er nach Deutschland, der Rest bleibt in Polen, sagt er und tupft sich mit einem Stofftuch Schweiß von der Stirn. Den Spargel daheim stechen für ihn Nachbarn. Noch. “Nächstes Jahr werde ich wohl Ukrainer oder Weißrussen anheuern, für Polen lohnt sich der Job kaum noch.”

Spargel verlangt bei der Ernte viel Gefühl. Maschinen hierfür sind erst in der Entwicklung. Das bringt den Spargelbauern Heinrich Thiermann ins Grübeln. Keine zwei Kilometer vom Spargelfeld entfernt steht er vor dem alten Domstifts-Haus, er ist in Gedanken schon bei der Ernte im nächsten Jahr. Ein hoch gewachsener Kerl mit ruhiger Gestik. 234 Hektar hat er hier bepflanzen lassen. In Niedersachsen sind es noch mehr. Thiermann ist Deutschlands größter Spargelbauer.

Die Deutschen scheinen unersättlich zu sein, wenn es um Spargel geht. Zwischen 1996 und 2007 nahmen die Anbauflächen um 61 Prozent zu; im vergangenen Jahr ernteten die Bauern 92 700 Tonnen - alles für den heimischen Markt. 29.000 Tonnen Spargel wurden obendrein importiert. “Woher wir die rund 1000 Arbeiter zur Ernte im nächsten Jahr nehmen werden, weiß ich noch nicht”, sagt Thiermann.

Auf die Polen, mit großem Abstand die meisten seiner Helfer, wird er kaum noch hoffen können. Nur der unterbewertete Sloty verhalf in diesem Jahr noch zu einem Rekordzug aus Polen. Bundesweit sind bis in den Mai 116 658 Männer und Frauen gekommen, um bei der Ernte von Spargel, Erdbeeren und Wein zu helfen. Experten schätzen, dass der Sloty im nächsten Jahr weit höher stehen dürfte. Und nicht nur das.

“Die EU-Fördergelder sorgen für bessere Löhne in Polen”, sagt Thiermann. Die Folge: mehr und besser bezahlte Arbeit in Polen selbst. “Da erscheint Spargelstechen weniger attraktiv.” Schon jetzt lässt sich mit Waldarbeit in Skandinavien und Gewächshausernte in den Niederlanden leichter und schneller Geld verdienen. Und wenn ab 2011 die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland auch für Polen gilt, wird kaum einer von ihnen das Stechmesser auspacken wollen. Schon jetzt fordert der Deutsche Bauernverband von der Bundesregierung, zügig Drittländerabkommen mit der Ukraine und Weißrussland auszuhandeln. An deren Bürger wird Polen die Spargelwerkzeuge wohl abgeben.

Polen sind die Beduinen der Marktwirtschaft. Zwischen einer und zwei Millionen von ihnen arbeiten im Ausland, bieten ihre Fähigkeiten zu Wettbewerbspreisen an. Aus Großbritannien und Irland sind viele von ihnen mittlerweile wieder zu anderen Jobs in Europa aufgebrochen, weil Rezession und Währungsverfall ihnen auf den Inseln die Löhne verdarben.Thiermann findet die Entwicklung bedauerlich. Eine jahrzehntelange Tradition breche weg, sagt der 67-Jährige, wenn die Polen nicht mehr kommen. “Wir kennen uns schon so lange. Jede Woche lasse ich 120 Schweine schlachten, um ihnen ein ordentliches Mittagessen auf den Tisch zu bringen.”

Bis zur Pause um 12 Uhr ist es nur eine halbe Stunde. Aber die Zeit steht scheinbar still auf dem Feld. Auf Zdzislaw Trzeszczows Ohren pellt sich Haut. Heiß brennt nun die Sonne herab. Ein Spargelstecher beendet die Saison braungebrannt. “Ist wie Urlaub”, scherzt er. Es klingt wie ein Mutmacher. Dabei muss er sich beeilen, in der Mittagssonne errötet der Spargel und verliert an Wert; müde schiebt er eine schwarze Plastikplane auf, wühlt mit Zeige- und Mittelfinger ein Loch um die weiße Stange. Der rasche Stich. Der Spargel landet in einer einrädrigen Metallkarre; ein Strichcode an ihr wird am Ende des Tages registrieren, wie viel Kilo Zdzislaw Trzeszczow geerntet hat. Zwei Meter und vier Sprosse weiter schiebt er die Plane wieder zu, macht die Bahn frei für die nächsten zwei Meter. Am Ende der Saison, nach zwei Monaten, wird er so fast 1000 Kilometer gelaufen sein.

Acht Stunden später sind die ersten der Brigade angetrunken. Es ist 20 Uhr, die Busse mit den Erntehelfern sind von den Feldern zurückgekehrt, in die ehemalige Kaserne der DDR-Fallschirmspringer am Rande von Kloster Lehnin. Über 1000 Polen leben hier während der Saison. Inmitten der aus rohen Betonplatten zusammengeschobenen Quartiere eine Halle. Wind pfeift durch ihre Ritzen. Im Inneren, hinter einer wuchtigen Kasse, sitzt eine kleine, schmale Frau, fast verschwindet sie dahinter, ein feines Lächeln auf den Lippen. Ihren Namen möchte sie nicht nennen. Schon die dritte Kiste Bier verkauft sie, dabei hat sie ihren Laden erst vor einer Stunde geöffnet.

34 Jahre lang führte ihre Familie einen Einkaufsladen. Doch dann entzogen ihr vier neue Discounter im 3000-Seelen-Örtchen die Kundschaft. Nun schleppt sie ihr altes Inventar für zwei Monate im Jahr in die alte Kaserne und verkauft Alkohol, Nüsse, Vitamintabletten, Brot und Wurst an die polnischen Spargelstecher.

Bier und 50-prozentiger Wodka gehen reichlich über die Kasse. Am Ausgang stehen zwei Mittzwanziger, ihr Atem geht schwer. “Ich fahre morgen zurück nach Gdynia”, sagt Richard Grachikovsky. Übermorgen tritt er wieder seinen Job als Dreher in einer Fabrik an. Der ganze Jahresurlaub ging für die Spargelernte drauf. Heute aber trinkt er ein Bier, oder zwei. Und zieht Bilanz.

Für Dariusz war es ein guter Tag. “170 Kilo habe ich heute gemacht”, sagt der 41-Jährige stolz, er stippt genüsslich einen Keks in das Glas mit Cola. Im Zimmer 319 in Haus 42 sitzt nur Dariusz am Tisch. Seine drei Schlafnachbarn im zwölf Quadratmeter großen Zimmer liegen schon in ihren Betten. Es ist 21 Uhr. Zbigniew Sieradzki, mit 48 Jahren der Älteste auf der Bude, schnarcht. Jacek Policht, 34, starrt stumm an die Decke, leise rauscht Musik aus seinem mp3-Player, bis der Mann irgendwann in den Schlaf findet. Zweimal hat Jacek heute mit seiner Liebsten telefoniert und drei SMS verschickt. Die jüngste seiner beiden Töchter hat Angina, hat er so erfahren. Gesehen hat er sie seit Wochen nicht. “Würde ich fürs Wochenende die 400 Kilometer fahren - ich käme nicht mehr zurück.”

Über Jacek springt Tomasz Pobin aus dem Etagenbett. Das macht er alle zehn Minuten, heute läuft das Endspiel der Fußball-Champions League, und unten im zweiten Stock hat einer ein Radio. Jacek seufzt, er setzt sich auf. Einen Notebook-Computer wolle er sich vom Lohn kaufen. “Ich bin in Polen gerade arbeitslos geworden. Sobald ich einen Job habe, komme ich nicht mehr hierher.” Tomasz stürmt wieder herein, in der Hand ein Bier. “Stimmt, stimmt, stimmt”, sagt der 20-Jährige: Auch er ist arbeitslos, spart für einen Laptop - und sieht sich im kommenden Jahr eher in einem Büro für Außenhandel als auf dem Spargelfeld. Dariusz prostet ihm mit der Cola zu: “Ich fälle dann Bäume in Schweden.” Jacek legt sich wieder hin. “Du wartest auf den Moment, das Herz schlägt wie verrückt, jetzt habe ich verstanden, wofür ich lebe”, kommt die Stimme seines Lieblingssängers aus dem Kopfhörer.

Die Nächte in Kloster Lehnin sind kurz. Draußen wird es schon hell. Aber noch immer hält sich der Halbmond bleichgelb am Firmament. Um vier Uhr in der Früh stellt Zdzislaw Trzeszczow einen Topf mit gehender Hefe unter die Bettdecke und steht auf. Heute Abend wird er wieder Brot backen. Deutsche Teigwaren mag er nicht, auch nicht die Wurst. “Zu viel Chemie.” Seine Zimmergenossen schärfen schon ihre Spargelmesser am großen Schleifblock. Zdzislaw Trzeszczow hat ihn mitgebracht, ebenso Schmalz in Einmachgläsern - alles selbst gekocht. Noch ein Ruck am Nierengürtel. Draußen hupt schon der Bus.

Wie auf einer Klassenfahrt geht es auf den 20 Kilometern zum Spargelfeld zu. Die 40 Männer lachen und scherzen. “Hey Tommek”, ruft einer von ihnen dem Fahrer zu, “fahr mich bitte zum Frühstücken ins Café de Paris, und danach zum Louvre.” Auf den letzten zwei Kilometern verstummen die Männer. Schmerzgel wird herumgereicht, für Ellenbogen und Handgelenke. Einer bandagiert seinen ganzen Unterarm mit einer Binde. Zdzislaw Trzeszczow klebt Tapepflaster auf seinen rechten Handschuh, als Vorrat für später.

Etwas zögerlich steigen die Männer aus dem Bus. Jeder schnappt sich eine Karre und stellt sich an die lange Erdlinie, die sich im Morgengrau verliert. Es ist, als warteten sie auf ein Signal. Sie wissen, am Johannistag fahren sie wieder nach Hause. Dann stechen sie los.