Zeitenspiegel Reportagen

So schön. So schwach.

Erschienen in "stern" 25/2020

Von Autor Frank Brunner

Trockenheit und Hitze haben den deutschen Wäldern massiv geschadet. Nun droht der dritte Dürresommer in Folge. Für viele Bäume ein Kampf ums Überleben.

Bernd twittert nicht mehr. Ein Jahr lang hat er täglich Kurznachrichten abgesetzt, doch seit Januar warten seine Fans vergebens auf ein Lebenszeichen. Bernds letzter Tweet lautete: „Mein Saftfluss stagniert um 11.06 Uhr, 90 Minuten später als gestern.“ Seitdem herrscht Schweigen im Walde.

Bernd ist 47 Jahre alt, lebt im brandenburgischen Britz, und es geht ihm schlecht. Zu wenig Wasser, zu wenig Nährstoffe. An einem Montag Mitte Mai streckt er sein lichtes Haupt Richtung Himmel, scheinbar trotzig die Kabel ignorierend, die sich in seinen Stamm bohren, um Wachstum, Wasserverbrauch und Transpiration zu messen. Ein Sender überträgt die Daten in eine wenige Schritte entfernte Holzhütte, in der ein Computer Bernds Befinden in kryptische Zahlenkolonnen übersetzt. In der Hütte sitzt Tanja Sanders und sagt: „Immerhin ist Bernd deutlich kräftiger als seine Artgenossen um ihn herum.“

Sanders, promovierte Geografin, leitet den Arbeitsbereich Waldökologie und Biodiversität am Eberswalder Thünen- Institut für Waldökosysteme. In einem Versuchsgelände nahe der Stadt, 50 Kilometer nordöstlich von Berlin, erforscht sie die Auswirkungen von Hitze, Trockenheit, Stürmen und anderen Folgen des Klimawandels auf den deutschen Wald. Bernd, eine 23 Meter hohe Buche, benannt nach einem Techniker des Instituts, ist ihr prominentester Proband; ein Botschafter aus der Welt der Wissenschaft, der die Öffentlichkeit mehrmals täglich über seine Vitalität informierte. Manchmal klangen Bernds Nachrichten alarmierend: „An einem stressigen Tag schwankt mein Durchmesser um 0,26 Millimeter, was höher als normal ist. Ich muss viele meiner internen Reserven nutzen.“

Forscher formulierten verschiedene Satzbausteine vor. Messgeräte an Bernds Stamm schickten die aktuellen Daten vom baumeigenen WLAN-Hotspot an einen Server, wo sie mit den Satzbausteinen zu Texten zusammengefügt und auf Twitter veröffentlicht wurden. Bernds Werte werden bis heute aufgezeichnet, nur seine Öffentlichkeitsarbeit pausiert wegen technischer Probleme.

Verhungern oder verdursten?

Ein Drittel Deutschlands ist mit Wald bedeckt – über elf Millionen Hektar. In ihm leben über 6700 Tierarten und unzählige Pflanzen. Unter rauschenden Baumkronen vergessen wir unseren Alltagsstress. Der Wald reinigt Wasser und Luft, liefert Baumaterial. Doch der Wald ist in Gefahr.

Schuld ist der Klimawandel. Hitze und Trockenheit lassen die Grundwasserspiegel sinken, leeren die Wasserspeicher und Nährstoffreservoirs der Bäume; Schädlinge nutzen die Gunst der Stunde, um mächtige Stämme in Schadholz zu verwandeln. Henrik Hartmann, Waldexperte am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena,warnt: „Die letzten beiden Sommer waren klimatologisch gesehen Extremereignisse, und dementsprechend kommen die Bäume an ihre Grenzen.“ Laut Bundeslandwirtschaftsministerium sind seit 2018 rund 245 000 Hektar Wald abgestorben – das entspricht der Fläche des Saarlands.

Wer wissen will, wie es um den Wald steht, muss Andreas Bolte begleiten. An einem Montagnachmittag im Mai verlässt der Leiter des Thünen-Instituts in Eberswalde sein Büro. Er will zeigen, was der Wassermangel der vergangenen Jahre anrichtet. Bolte durchquert den Campus, öffnet ein Eisentor am Ende des Geländes und betritt den Stadtwald. Buchen säumen seinen Weg. Der Wald wirkt grün und gesund. Bolte sagt: „Der Eindruck täuscht.“ Die Buchen treiben zwar Blätter aus, doch bleibt es weiter so trocken wie im April und Mai, können sie ihre Blätter nicht versorgen.

Buchen galten lange als widerstandsfähige Alternativen zu Brandenburgs Kiefern-Monokulturen. Doch schon Ende vergangenen Jahres meldete das Landeskompetenzzentrum Forst auffällige Schäden. „Alte Buchen warfen vorzeitig ihr Laub ab, junge vertrockneten“, hieß es in der Analyse.

Ein gesunder Baum nimmt über winzige Spaltöffnungen seiner Blätter aus der Luft Kohlendioxid auf, das er zur Fotosynthese benötigt. Bei dieser biochemischen Reaktion bilden Bäume die zum Wachstum nötigen Kohlenhydrate. Gleichzeitig geben die Öffnungen Sauerstoff und Wasserdampf in die Atmosphäre ab. Der Wasserdampf sorgt im Sommer für die angenehme Kühle in Wäldern. Die Verdunstung dient den Bäumen dazu, Wasser aus den Wurzeln in die Blätter zu ziehen. Sie sorgt für einen steten Wasserstrom nach oben, wie in einem Strohhalm. Bei lang anhaltender Trockenheit haben Bäume die Wahl: verhungern oder verdursten? Denn schließen die Blätter bei Hitze die Poren, sparen die Bäume Wasser, können aber kein Kohlendioxid mehr aufnehmen. Kein Kohlendioxid, keine Fotosynthese, keine lebensnotwendigen Kohlenhydrate. Die Bäume verhungern. Bleiben die Poren geöffnet, werden weiter Kohlenhydrate produziert, aber der Baum verliert durch Transpiration so viel Wasser, dass er verdurstet. Welchem biologischen Programm der Baum auch folgt – er verliert Lebenskraft und wird zum Opfer seines größten Feindes: des Borkenkäfers.

Andreas Bolte stoppt auf seinem Weg durch den Stadtwald. Vor ihm öffnet sich das dichte Grün, gibt den Blick auf eine Lichtung frei. Das Areal gleicht einem Schlachtfeld. Umgestürzte Bäume, kahle Bäume, dem Erdreich entrissene Wurzeln. Bis 2017 wuchsen hier 120 Jahre alte Buchen. Bolte begutachtet ein Exemplar ohne Rinde, ohne Blätter; ein trauriger Stumpf, der seine Äste anklagend zum Himmel reckt. „Diesen Baum habe ich sterben sehen“, sagt Bolte. Vorsichtig entfernt er einen Rest Rinde. Die Innenseite ist durchzogen von einem endlosen Labyrinth winziger Äderchen – Spuren der Borkenkäfer. Bolte sagt: „Irgendwann kann sich durch Trockenheit und Käferbefall der gesamte Bestand hier auflösen.“ Das gleiche Schicksal droht Buchen, Eichen, Fichten und Kiefern in ganz Deutschland. Laut Waldzustandsbericht der Bundesregierung zeigen 36 Prozent der Bäume deutliche Schäden. So viel wie noch nie seit Beginn der Erhebung 1984. Deshalb arbeiten Forstwissenschaftler an einem Rettungsplan.

Die Vermessung der Bäume

Wenige Kilometer vom Eberswalder Stadtwald entfernt, auf dem Versuchsgelände des Thünen-Instituts, wuchtet Tanja Sanders inmitten von Kiefern einen Betondeckel zur Seite. Vor ihr öffnet sich eine dunkle Beton- röhre, die tief in den Waldboden führt. Auf dem Grund ist ein viereckiger Kasten zu erkennen – ein Kippzähler, der in fünf Meter Tiefe misst, wie viel Wasser ins Grundwasser sickert. Obwohl es an diesem Tag seit Stunden regnet, zeigt die Anzeige auf null. „Etwa die Hälfte des Wassers bleibt in den Nadeln hängen, der Rest erreicht zwar den Boden, gelangt aber nicht in tiefere Schichten, sondern wird von den Wurzeln aufgenommen, bevor neues Grundwasser gebildet werden kann“, erklärt Sanders. Katastrophal für Kiefern. Sechs Wochen müsste es durchgehend regnen, um die Reservoirs im Erdreich wieder aufzufüllen.

Tanja Sanders misst mit diesen sogenannten Lysimetern auch unter Buchen, Lärchen und Douglasien – Sickerwasser, Verdunstung, Bodenfeuchte. Die Wissenschaftler messen, wie viel Laub und Nadeln die Bäume verlieren und den Gehalt an Magnesium, Stickstoff und Phosphor in den Blättern. Eine Drohne fotografiert Baumkronen von oben. „Wir wissen, wie viel Wasser eine Baumart braucht, um zu wachsen, und damit wissen wir auch, welche Arten mit Trockenheit am besten klarkommen“, sagt Sanders. Doch was folgt daraus? Eine Möglichkeit wäre, Baumarten aus wärmeren Regionen anzusiedeln. So wachsen Buchen auch in Süditalien, wo heute schon Temperaturen herrschen wie vielleicht bei uns in 20 Jahren. Allerdings sind diese Buchen meist frostempfindlicher als unsere heimischen Varianten. Bolte sieht eine Lösung in Mischwäldern mit möglichst unterschiedlichen Baumarten. Brandenburgs Forstminister Axel Vogel ist ebenfalls für einen Umbau von Kiefernforsten in artenreiche Mischwälder. Die Maßnahme würde aber erst in einigen Jahren Wirkung zeigen. Im Oktober will sich Vogel mit Wissenschaftlern und Waldbesitzern zu einem „Waldgipfel“ treffen. Dort sollen Strategien entworfen werden, wie Wälder umgebaut und bewirtschaftet werden können, um sie vor extremen Wetterlagen zu schützen.

Millionen für den Wald

Stefan Adler, Waldexperte beim Naturschutzbund, plädiert für das Gegenteil. Von der Idee, exotische Arten wie Douglasien bei uns anzusiedeln, hält er wenig. „Heimische Tiere und Pilze sind an fremde Baumarten nicht angepasst, sie verändern das biologische Gefüge, also das Zusammenleben der Arten im Wald.“Es sei fraglich, ob derWald so stabiler werde. Sein Ansatz: Wir überlassen Wälder sich selbst. „Die Natur ist bestrebt, stabile Systeme zu schaffen, und kann sich dadurch langfristig auch auf extreme Klimaereignisse einstellen.“ Bislang bestehen nur 2,8 Prozent der Waldfläche in Deutschland aus solchen Naturwäldern.

Einer davon liegt gut 60 Kilometer nordöstlich von Berlin. Hier, inmitten des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin, beginnt der Buchenwald Grumsin. Seit über 20 Jahren verzichten die Menschen auf jegliche Eingriffe in die Natur. 2011 erklärte die Unesco den Wald zum Weltkulturerbe. „Der Buchenwald Grumsin“, sagt Naturschützer Stefan Adler, „ist einer der wenigen Wälder in Deutschland, in dem man die natürliche Anpassung an den Klimawandel beobachten kann.“

Man kann aber nicht alle Wälder sich selbst überlassen. Forstwirte, für die Wälder auch Einkommensquelle sind, würden auf die Barrikaden gehen. Wissenschaftler wie Andreas Bolte sind ebenfalls skeptisch. „Buchen sind extrem konkurrenzstark und würden ohne Eingriffe andere Arten verdrängen.“ Seine Kollegin Tanja Sanders sagt: „Im Prinzip wollen wir auch möglichst artenreiche und damit stabile Wälder. Wir glauben nur, dass diese Mischwälder schneller entstehen, wenn wir unterschiedliche Arten auf Brachflächen anpflanzen, statt auf natürliches Wachstum zu setzen.“

Auch Bund und Länder setzen auf den Waldumbau von Monokulturen hin zu Mischwäldern und hatten im vergangenen Jahr 800 Millionen Euro Nothilfen zugesagt. Nun sollen aus dem gerade beschlossenen Konjunkturpaket weitere 700 Millionen kommen. Und Unternehmen wie die Baumarktkette Bauhaus werben mit ihrem Engagement für den Wald. Eine Million Bäume wolle man pflanzen, um die Wälder „klimastabil“ zu gestalten. Stefan Adler vom Naturschutzbund bezweifelt den Effekt. „Eine Million Bäume klingt viel, tatsächlich sind es maximal 300 Hektar Wald, wenn die Forstwirtschaft damit eine Waldfläche bepflanzen würde.“ Nach den Dürrejahren 2018 und 2019 müssen 245 000 Hektar Wald aufgeforstet werden. „Für die Klimabilanz und den Schutz der Wälder wäre es wesentlich wirkungsvoller, wenn Unternehmen ihre CO2-Emissio- nen grundsätzlich reduzieren“,sagt Adler.

Ein Problem können weder Wissenschaftler noch Politiker oder Unternehmer lösen: Bäume überdauern ein Menschen- leben. Buchen, die wir heute pflanzen, sind frühestens in 100 Jahren ausgewachsen. Niemand weiß, welches Klima dann in Deutschland herrscht. Niemand kann ein Jahrhundert in die Zukunft blicken. Ein Trost: In der Gegenwart wird uns Bernd, die Buche aus Britz, bald auf dem Laufendem halten. Seine Betreuerin Tanja Sanders verspricht, dass er wenigen Wochen wieder twittert.