Zeitenspiegel Reportagen

Wo Adler den Weg weisen

Erschienen in "Landluft Remstal", Dezember 2022

Von Fotograf Uli Reinhardt und Autor Jan Rübel

Vater-Sohn-Szenen einer Wanderung durch den Schwäbischen Wald. Eine Woche lang teilten Jan und sein Sohn Luca all ihre Beobachtungen, Gedanken und Empfindungen.

Ein Schlagbaum versperrte uns den Weg zur Entschleunigung. Dabei war mir dringend danach, im Sommer 2022. Nach Ereignislosigkeit in diesem hektischen Jahr eines Krieges und lauter Krisen, und als die Schranke hochging, lag vor uns ein kleines Dorf aus Wohnwagen und Zelten. Der Blick weitete sich, als ließe ein Druck auf den Augen nach. Was lädt mehr ein zum Nichtstun und Innehalt als ein Campingplatz? Wir passierten Hecken und einen Bach, Rasenreviere und einen mächtigen Weidenbaum: Die Blätter des Schwäbischen Wald schluckten die Welt aus Stein, Arbeit und Verkehr, die wir in unserer Heimat Berlin verlassen hatten. Eine Woche lang Vater und Sohn im Zelt. Erstmals allein, ohne Mutter und Tochter, ohne Oma und Opa, ohne Hund und einen Freund.

Campingprofis waren wir nicht. Die letzte Nacht draußen lag neun Jahre zurück, damals war Luca sieben Jahre alt gewesen. Nun stand er kurz vor 17, doch den Fischreiher über uns entdeckte er zuerst wie anno 2014; auch die Begeisterung darüber war die gleiche geblieben. Entgegen unserer Erwartung stand das Zelt nun im Nu, im Lauf der Jahre, so stellten wir fest, muss etwas einfacher geworden sein mit dem Aufbau dieser Behausungen. Überhaupt wurde der Campingplatz am Waldsee in Murrhardt uns seltsam schnell vertraut. Am Abend kroch eine wohlige Müdigkeit in unsere Knochen. „Siehst du den Großen Wagen?“, fragte Luca ins Handy, am anderen Ende sein bester Freund in der Hauptstadt. Beide bestaunten, knapp 600 Kilometer voneinander entfernt, den Nachthimmel. In Murrhardt strahlte er natürlich stärker, auch die Zigarre erschien uns besonders kraftvoll; wir hatten sie mitgebracht, weil wir dachten: Das gehört zum Camping dazu. Sie glomm überm Rasen, als sei sie aus dem Sternenbild gefallen. Im Zelt gegenüber war es mit der Ruhe für einen Moment vorbei. „Schlaft endlich ein“, wandte sich eine Frau schroff an ihre Kinder, und an einen Mann: „Ich muss alles machen. Nicht einmal abgewaschen hast du heute.“ Danach war alles still. Wir glitten in festen Schlaf.

Überhaupt schienen die Mütter auf diesem Campingplatz einen Kampf auszufechten. Gerade hatten wir uns am nächsten Morgen aus dem Zelt gestreckt, zog eine andere Frau zielsicher vorbei zu ihrem Wagen, zwei Kinder im Schlepptau. „Wenn nicht einer von euch hochgeht und mit anpackt, bau ich das Zelt ab“, knurrte sie. Die Kids lamentierten. Darauf sie: „Immer heißt es Mama, Mama, Mama.“ Ich begann mich über den rüden Ton lustig machen, da erwiderte Luca: „Also, als Vater werde ich schon strenger sein. Mit mehr Autorität.“ Wir schlurften zum See.

Auf dem Wasser jagten sich Nebelschwaden, sie zogen einen Kreis und verschwanden in der Mitte. Endlich schaffte es die Sonne über die Wipfel und ließ das Wasser aufglänzen, als wir hineinwateten. Diese Frische. Klarheit, spiegelglatte Mächtigkeit. Chemisch betrachtet besteht Wasser nur aus Wasserstoff und Sauerstoff, aber in mir brachte es etwas zum Hüpfen, „das Wasser ist das Schiff der Seele und wie sie ein Fluidum“, sagt ein orientalisches Sprichwort. Nach ein paar Runden war mir nach Liegen im Gras. Streckte mich aus, lauschte zwei Amseln, erfreute mich der Lethargie, da unterbrach mich Luca mit einem Satz, den er jeden Morgen wiederholen würde. „Und was machen wir jetzt?“

Zuerst tat ich, als hätte ich ihn nicht gehört. Ich wollte ja nichts machen. Erst später erfuhr ich, dass Vater-Sohn-Urlaube eine ganze Branche bilden: Hotels locken mit Rund-um-Services, Powersessions und Eis jederzeit. Camps bieten Bogenschießen und Survivaltraining, knallharte Abenteuer eben. Bei uns war nicht einmal Grillen erlaubt, wegen der Waldbrandgefahr. Und zum Braten in der Pfanne auf unserem Campingkocher hätten wir nur einen Snickers aus dem Automaten gehabt; die Deckel unserer Fünf-Minuten-Terrinen waren im Rucksack eingerissen und hatten getrocknete Nudeln Bolognese über die Socken verteilt. So zogen wir uns zurück in die heile Kindheitswelt tiefgefrorener Kioskaufbackware, zu Schinken-Käse-Baguettes mit extra Currysauce und dem Duft einzelner Fruchtgummis für ein paar Cent. Nach dem Lunch war also Action angesagt. Wir reagierten uns ab bei Tischtennis und Minigolf, ich fühlte mich schon total wie in den Achtzigern, da knurrte wieder der Magen. Wir machten uns auf zum nächsten Dorf. Durch Fornsbach schlängelte sich das gleichnamige Rinnsal, die Restaurants allesamt geschlossen, also nahmen wir Berliner im einzigen Imbiss hochnäsig Döner und aßen ihn, erstaunt ob seiner Qualität trotz Provinzstatus, an einem versiegten Brunnen. Das Gras von der Sonne verbrannt. Und plötzlich waren die Probleme ganz nah.

„Alles so trocken hier. Wegen Klimawandel?“

„Glaube schon. Erinnerst du dich noch an die Oder, wo wir mal geangelt haben? Da sterben gerade alle Fische.“

Luca zückte sofort sein Handy, checkte die Nachrichten und die Spekulationen über eingeleitetes Salzwasser und Pestizide. „Warum tun die das?“ Auf dem Weg zurück sahen wir den Waldsee mit anderen Augen, die gelben Flecken im Blätterwerk, die wenigen Bienen. Und dennoch: Im Abendrot zog sich die Welt am See zusammen, als schälte sie sich und zöge ein grünes Kleid an, mit dem Kiosk und den Tretbooten als bunten Punkten. Es versöhnte. In jenem Moment wirkten die Ferien ewig.

Nach einer weiteren harten Nacht auf dünner Isomatte kam erstmal Sehnsucht hoch. „Ich will mein Bett und mein Internet“, murmelte Luca, aber immerhin wartete auf uns die eingeforderte Action, eine Wanderung samt Gepäck zum Hagerwaldsee, laut Google Maps 12,1 Kilometer entfernt und binnen zwei Stunden und 42 Minuten erreichbar. Mit meinem Rucksack, den ich erstmals vor 35 Jahren geschnürt hatte und wie neu aussah, nur ein wenig nach Keller roch, planten wir etwas mehr ein. Es wurden dann acht Stunden.

Anfangs stiegen wir guten Mutes den Hang hinauf, ein Adler wies uns den Weg. Wir hätten auf ihn hören sollen. Ich aber mit dem Smartphone in der Hand voran, folgte Routen durch den Schwäbischen Wald, den Google Maps wohl doch nicht vollends erkundet hatte. Zweimal verengten sich unsere angewiesenen Pfade und lösten sich im Dickicht auf. Beim letzteren versuchten wir es mit Gewalt, blieben aber in den Dornen hängen; auch rutschte das Zelt, das ich notdürftig mit Blumendraht am Rucksack befestigt hatte, immer ab. Dieser verdammte Hügel, wir mussten ihn nehmen, nur wie? Nach drei Stunden, viel Hin und Her mit einem einzigen absolvierten Kilometer weg vom Waldsee steckte ich das Smartphone ein. Die uns kryptisch vorkommenden Waldwegschilder sollten uns orientieren. Immerhin blieben wir so auf festem Grund. Und es wurde uns egal. Wir liefen. Kamen uns vor wie Wandersleut vor hundert Jahren, wie Wandervögel, also ich zumindest. Wir ahnten, was es heißt, wenn der Weg das Ziel sei. Wir naschten von Brombeeren, fragten an einzelnen Gehöften nach Leitungswasser zum Auffüllen oder, wenn niemand da war, bedienten uns am Gartenanschluss selbst, „in Amerika wirst du dafür erschossen“, mahnte mich noch Luca. Aber mit den Gesetzen nahmen wir Großstadtvögel es eh nicht so genau, zu sehr lockten uns die Äpfel und Birnen an den Bäumen, als wir den Wald verlassen hatten.

Vor Kirchenkirnberg strich plötzlich warmer Regen herab, unangekündigt und ein wenig hastig. Alles hatte auf ihn gewartet. Unsere erhitzten Leiber, die dürstenden Felder, ein Dampf und Duft stiegen von der Erde auf. Nur endete er abrupt, es blieb bei einem Schauer, wirkte wie ein böses Spiel. Im Ort trafen wir auf keinen einzigen Menschen. „Schreib auf, wir sind in einer modernen Geisterstadt“, sagte Luca. Im Dorfkern stand auf einem Plakat am Fenster eines Ladens: „Einzeln sind wir Worte, gemeinsam ein Gedicht.“ Aus dem ersten Stock lugte eine weiße Katze.

Vater-Sohn-Gespräche sparen gewisse Themen aus. Der nahe Schulbeginn: tabu. Ordnung im Zimmer daheim: auch kein Burner. Corona: Was denn jetzt schon wieder? Oder vielleicht ein neuer Sportverein? Ach nee. Stattdessen fachsimpelten wir lang und breit, was wir bei einer Wolfsattacke tun, wie es mit Ronaldo weitergeht und was auf die kommenden Generationen alles zukommt, mit dem Klima, der Digitalisierung. Mit der Rente (okay, letzteres sprach nur ich an). Aber entlang des noch nicht ermatteten Grüns wurde jedes Gespräch Kurzweil, unterbrochen vom Anblick eines Rehkitzes, das zwanzig Meter vor uns überrascht wegsprang, von einem wie versteinert daliegendem Baumstamm oder einem Fischreiher, der uns die nahe Ankunft am Hagerwaldsee verkündete. Wir hatten es geschafft. Schmissen die Rucksäcke von uns und hüpften ins Nass. Der Campingplatz selbst war ein Idyll ohne zivilisatorische Ablenkung: keine mobilen Daten, kein Mobilfunk, kein Strom bis ans Zelt; eine Kabeltrommel hatten wir nicht mal in Berlin. Am nächsten Morgen schlüpfte ich allein aus dem Zelt, erklomm den Damm des Hochwasserrückhaltebeckens, nur eine Schautafel brach den Blick. Auf ihr stand mit Edding geschrieben: „Weil Du mein jetzt und für IMMER bist“. Zurück am offenen Zelt erfasste mich beim Anblick Lucas, noch im Schlaf versunken, größte Friedlichkeit.

Von der Wanderung hatten wir Storchenbeine. Sie wollten wir nun schonen, am letzten Tag. Wir machten einen Ausflug nach Schwäbisch Gmünd. Die sauberen Straßen, die gemächlich schreitenden Passanten und das alte Fachwerk kamen uns vor wie eine Rückkehr in die Zivilisation. Wir wandelten mit. Nur der Löwenbrunnen mit seinen Meerwesenfratzen und daneben die wasserspeienden Einhorndrachen aus Stein oben am Münster verstörten uns für eine Weile. Das Reh im Wald war uns schöner. Wir ließen uns weiter in dieser Gemütlichkeit treiben, übten uns in einem Museum an einem alten Damespiel und bewunderten ein feuerrotes Bild von Marc Chagall, schlürften Eiskaffee – und sehnten uns schließlich nach dem Campingplatz zurück; zu lange waren wir draußen im Grün gewesen, hatten uns an die feuchtwürzige Waldluft gewöhnt. Am Abend, auf der Terrasse des Gasthauses am See, nach einem Zwiebelrostbraten mit Spätzle, stand Luca auf. Es dunkelte schon. Er sagte: „Ich will wandern.“ Also stiegen wir los, zu den Bäumen hin. Die Sterne warfen genug Licht, die Zigarre schickte Funken zurück, neigte sich dabei ihrem Ende. Vom See wollten wir so rasch nicht weg.

Am nächsten Tag verließen wir den Schwäbischen Wald. Ein Zug brachte uns zurück gen Berlin und warf uns nach ein paar Stunden am Hauptbahnhof ab. Wir schulterten unsere Rucksäcke, die außen baumelnde Pfanne schepperte an den Schnallen aus Metall. Wir hatten sie nicht benutzt. Sahen aus wie Pfadfinder, die sich verlaufen hatten. Als wir die Halle durchmaßen, schritt Luca voran. Einzeln sind wir Worte, gemeinsam ein Gedicht.