Zeitenspiegel Reportagen

Wo die Hoffnung wächst

Erschienen in "Focus-Online", 04.02.2023

Von Autor Jan Rübel

Der Libanon versinkt in Wirtschaftskrise und Chaos. Ein Silberstreif in diesem Elend ist die Landwirtschaft: Sie holt Essen auf den Tisch. Den Bauern hilft eine Beraterin – Farah Baroudy bringt die Forschung aufs Feld, hilft bei der Anpassung an den Klimawandel und steht mit vielen anderen Frauen für einen Wandel (Foto von Maria Klenner).

Der Feind kam von außen. Aus dem Südosten sickerte er ein und setzte sich fest. Nun bringt er den Pflanzen-Tod, eine Frau beugt sich zur Staude, sie streicht nachdenklich über ein Erdbeerblatt, es sieht aus wie verbrannt. „Vielleicht ein Bakterium“, murmelt Farah Baroudy, gräbt mit ihrem rechten Zeigefinger tiefe Furchen ins Erdbraun und zieht die ganze Pflanze heraus. „Das wird untersucht.“

Neben ihr hockt der Bauer, „ein ganzes Gewächshaus habe ich damit bepflanzt“, sagt Issam Hamad, er weist auf die Wurzel in Baroudys Hand. Sie bricht sie auf. Etwas darin frisst sich ins frische Gelb. In der Nähe quaken Frösche aus einem angelegten Bewässerungsteich. Fliegen surren, es ist kurz vor Weihnachten, hier in der nordlibanesischen Akkar-Region, und verdammt warm. Baroudy runzelt die Stirn, die Erdbeeren bräuchten jetzt kühlere Temperaturen als diese 24 Grad Celsius; von ihrer Großmutter kennt sie den Spruch: Ein warmer Tag im Dezember bringt Fluch. „Bauern aus der Nachbarschaft haben auch dieses Problem mit ihren Erdbeeren“, sagt Hamad. „Sie erzählen, es komme von jenseits der Grenze.“ Syrien liegt fünf Kilometer entfernt. Baroudy holt ihr Smartphone und fotografiert die Pflanze, in der sich der unbekannte Schädling versteckt. Hamad schaut zu, als bannte allein ihr Kameraklick die Gefahr.

Baroudy, 37, die langen schwarzen Haare nach hinten zu einem Zopf gebunden, bringt den Bauern in Akkar Hoffnung, wo es wenig gibt. Die promovierte Agraringenieurin taucht mit ihrem Citroën C4 aus der Halbmillionenstadt Tripoli auf den Landstraßen des Nordostens in eine andere Welt ab – hinein in die ärmste Gegend des Libanons. Baroudy berät Bauern, die ein paar hundert Quadratmetern Ackerland haben. In den besten Agrarfakultäten der Welt ausgebildet, bringt sie Forschung in ein Gebiet, das diese heute nötig hat: Den Libanon schütteln so viele Krisen, dass das ganze Land wie ein Schiff zu kentern droht. Eine Verschuldungsspirale hat die Landeswährung seit 2019 in eine irre Inflation getrieben. Vermögen verpuffte, die einst starke Mittelschicht des Libanons löst sich auf.

Hinzu kamen die Folgen der Corona-Lockdowns und im August 2020 die größte nichtnukleare Explosion der modernen Geschichte, weil Chemikalien im Beiruter Hafen jahrelang falsch gelagert worden waren. Weite Teile der Innenstadt wurden zerstört, Zehntausende verloren ihre Wohnung. Und nun der Krieg in Europa: Früher importierte der Libanon über 80 Prozent seines Getreides aus der Ukraine, jetzt kämpft er mit der aktuellen Verknappung, während 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus syrischen Geflüchteten bestehen. All dies mit einem politischen System, das durchweg korrumpiert ist und sich nicht auf die Wahl eines Staatspräsidenten einigen kann. Die Regierung ist nur geschäftsführend im Amt, gelähmt und ohnehin Reformen abgeneigt.

„Man kann nur stur verbessern, wo es geht“, sagt Baroudy. All ihre engen Freunde haben wegen der Krise das Land verlassen, sie bleibt. Es gebe doch so viel zu tun, sagt sie. Weist auf die fernen Weizenfelder am Horizont zur Küste hin. „Die Bauern besinnen sich wieder auf alte Sorten, bauen etwa Getreide an – Saaten, die neu getestet und verbessert werden müssen, um sich den Bedingungen anzupassen.” Vor 12.000 Jahren hatte der Mensch hier in dieser Region zwischen Syrien und dem Irak überhaupt erst den Ackerbau mit Getreide entdeckt. Der Boden ist fruchtbar, das Klima mild, und aus den Bergen fließt reichlich Schmelzwasser hinab. Landwirtschaft bildet für viele nun die letzte Chance.

Gewächshäuser bieten eine Perspektive für zusätzliche Ernten im Jahr. Landwirt Hamad schreitet sie ab wie ein General seine Soldaten und führt zum höchsten: Senkrecht und nicht wie die anderen gerundeten Gewächshäuser hier, spannt sich das Nylon vier Meter vom Boden ab – das erlaubt zwei omnibuslange Gurkenreihen mehr, grün glänzen sie in der Sonne. Das neue Doppeltürensystem sorgt dafür, dass weniger Insekten und Schädlinge eindringen; erhalten hat er das neue Versuchsgewächshaus im Rahmen eines Pilotprojekts der International Labor Organisation (ILO), der Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen. Baroudy, bei der ILO angestellt, will mit Hilfe Hamads herausfinden, welches Gewächshaus sich für welche Region im Libanon für welchen Bauern am besten eignet. „Die Bauern sollen in die Lage kommen, dass sie durchrechnen, wie viel sie investieren können, um ihre Erträge zu steigern“, sagt die Wissenschaftlerin. Das Ziel: Upgrading, wo möglich. Je mehr Ernte, desto mehr auf den Tellern. Ernährungssicherung als nationale Kraftanstrengung.

„Die Ernte in diesem Haus ist um 50 Prozent gestiegen“, sagt der Bauer und lächelt. „Zeig mir, wie du sprühst“, sagt sie. Der Bauer geht hinaus zu einem metallenen manngroßen dünnen Rohr, daran eine Art Duschkopf. Baroudy nickt. „Besser, nicht wahr?“ Er lächelt breiter. Früher benutzte er einen Sprinkler mit größeren Löchern, um mit Wasser vermischte chemische Pestizide aufs Feld zu bringen. Baroudy riet ihm zu einer anderen Version; seitdem benutzt er 50 Prozent weniger an Gift und Wasser. „Ohne Chemie geht es nicht immer“, sagt sie. „Wir müssen die Leute ernähren, zu Preisen, die bezahlbar sind.“ Die Kunst bestehe in der Dosierung, in der Nutzung moderner Technik und neuen Wissens – und des Einsatzes von Pilzen oder Pflanzen wie wildem Thymian und Peperoni, die Schädlinge vertreiben.

Agraringenieurin will mit Expertise ihre Heimat verbessern Auf dem Weg zum nächsten Hof passiert Baroudys Kleinwagen im Dorf Aabdeh eine ockerfarbene Mauer, gerade hat sie noch von alten Saaten gesprochen, die ein Comeback erleben, von Fliegenfallen und Digital Farming , doch nun endet sie abrupt. Schaut auf die Olivenbäume jenseits des steinernen Walls, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Baroudy hört viel zu, ist zugewandt, redet gern, eine Vertrautheit geht von ihr aus.

Jetzt aber dauert es endlose Sekunden, bis sie wieder ein Wort findet. „70 verschiedene Olivenbaumarten halten wir hier in Reserve“, sagt sie schließlich. Sie sagt immer noch „wir“, obwohl sie von einer Zeit spricht, die für sie jäh endete: Bis Februar 2022, über elf Jahre lang, hatte sie hinter der Mauer gearbeitet. Im staatlichen Libanesischen Institut für Agrarforschung (LARI) hatte sie Schädlinge untersucht, die Erforschung von Pilzen vorangetrieben. Doch dann schloss der Staat das Labor.

Olivenbäume und Gewächshäuser auf der Farm des Bauern Milad Dib. Maria Klenner Olivenbäume und Gewächshäuser auf der Farm des Bauern Milad Dib. Das Geld war ja weg, jedenfalls dafür. Sie hätte tatenlos weiter ihr Gehalt beziehen können. „Aber die Hände in den Schoß legen, das macht doch keinen Sinn“, sagt sie. Also, was tun? Das Land verlassen? Sie weiß, dass sie mit ihrer Expertise international Karriere machen kann. Baroudy machte ihren Master an der Amerikanischen Universität in Beirut (AUB) und promovierte anschließend im italienischen Bari. Nach ihren Forschungsaufenthalten an der University of California in Davis überlegte die Expertin in Pflanzenpathologie, was der Libanon braucht. Was sie beitragen kann. Sie legte den weißen Laborkittel ab, kündigte und heuerte als Beraterin bei den Vereinten Nationen (UN) an. Nun ist sie draußen auf den Feldern und verbindet Wissenschaft mit Alltag.

Eine schale Nachmittagssonne legt sich auf die Hügel entlang des Mittelmeers. Der Citroën schiebt sich das schmale Asphaltband hinauf, der zweite Gang heult. Ein kurzes Hallo bei Khadidscha Akeera, 16 Gewächshäuser bewirtschaftet sie als Anteil eines Erbes: Niedrige mit einem billigen Holzgestell, etwas höhere mit Eisengerüst, aber auch ungestützte Folie, die sich direkt über den Ackerboden legt. „Warum ist die Tür offen?“, fragt Baroudy mit Blick auf ein Gewächshaus voll mit Tomaten. Akeera lächelt verlegen, „schließe ich sofort“. Und: „Ich weiß, die Insekten…“ Die Bäuerin prüft den Stand der Sonne.

Heute wird sie erst in der Nacht die roten Früchte ernten, damit sie früh am Morgen so frisch wie möglich den Markt von Tripoli erreichen. Baroudys Blick verliert seine Strenge im nu. „Frauen spreche ich bei meinem Consulting gezielt zuerst an“, erklärt sie. „Sie leisten meist die harte Feldarbeit, kennen Frucht und Boden am besten.“ Frauen würden sich mehr um die Gesundheit von Natur und Mensch sorgen, seien offener für Neuerungen. „Doch entscheiden tun meist die Männer.

Nur langsam ändert sich das.“ Madame Docteur nennen die Bauern sie respektvoll. Für sie ist Baroudy auch ein Leitbild, die Frau, die ihnen das Wissen bringt. Eine, die selbst auf dem Hof ihrer Großeltern in der Nähe Tripolis aufgewachsen ist, die Landwirtschaft von der Hacke auf lernte, auch die Leidenschaft, Grün wachsen zu sehen. Ihre Eltern, der Vater Inhaber einer Transportfirma und die Mutter Lehrerin, konnten sich eine gute Ausbildung ihrer Tochter leisten – Bildung hat im Libanon für Frauen wie Männer einen hohen Stellenwert, nur kostet sie oft.

Die besten Schulen und Unis sind in privaten Händen. Was Baroudy genoss, fließt schon jetzt zur nächsten Generation: An der Heckscheibe ihres Autos klebt ein Sticker: „Babyfarmer on board“. Manchmal, wenn es zeitlich anders nicht geht, nimmt sie ihre beiden Söhne mit. Dann lernen der Fünf- und der Dreijährige on the road , wie Landwirtschaft geht.

Manchmal ist Madame Docteur auch Schülerin. Eine Handvoll Dörfer weiter, nur einen Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt, zeigt ihr Yusuf Taoum einen Trick, den sie nicht kannte. „Falls es doch noch kalt werden sollte“, sagt erund zeigt auf Sprühköpfe, sie liegen auf dem Boden vor einem Gewächshaus. „Wenn es friert, sprühe ich damit Wasser auf die Folien, das ergibt einen wärmenden Iglu-Effekt.“

Beide fachsimpeln, wie sich der Libanon dem Klimawandel besser anpasst. „Du könntest Regen- und Kondenswasser von den Folien aufsammeln“, schlägt sie vor. Überhaupt nimmt das Zedernland für Deutschland, was den Klimawandel angeht, vieles vorweg: Deutlich mehr Hitze, Dürre und Extremniederschläge – was sich zwischen Flensburg und München langsam Bahn bricht, gehört im Libanon seit längerem zum Alltag. Das libanesische Umweltministerium hat errechnet, dass das Agrarwesen des Landes seine Erträge um 119 Millionen Dollar steigen könne, wenn es sich an den Klimawandel anpassende Schritte einleitet: umweltfreundliche Landwirtschaft, Anbau hitze- und wasserresistenter Pflanzen und die Integrierung guter landwirtschaftlicher Praktiken.

Baroudys Ratschlag für Europa: Verstärkt mit Kleinbauern arbeiten und neue Technologien für sie finden, die sie bezahlen können. Sie sollen mehr mit Pflanzen als Pestizide arbeiten, auf resiliente Sorten und Saaten zurückgreifen und „in der Forschung den Fokus auf die Bedürfnisse der Bauern legen“, sagt Baroudy. „Die wissen ja, was sie brauchen.“

In Beirut arbeitet man mit wenige Mitteln und viel Passion Am nächsten Morgen kommt die verfaulte Erdbeere auf den OP-Tisch. Baroudy hat die Staude mit dem Auto eineinhalb Stunden von Tripoli nach Beirut gefahren, ins Pflanzenforschungslabor von LARI, das hier noch arbeitet. Als sie die Treppe zum ersten Stock im Ostteil der Hauptstadt hinauf strebt, fliegt ihr Carine Saab entgegen, sie liegen sich in den Armen, ihr Kollege Elvis Gerges eilt hinzu. Tränen fließen.

„Wir werden immer ein Team bleiben“, sagt Saab. Baroudy hat zwar bei LARI gekündigt. Aber die Arbeit schweißte zusammen. Die Mission. Baroudy hat LARI nur formell hinter sich gelassen. Nun überreicht sie Saab eine Plastiktüte voll Erdbeergrün, damit die Ex-Kollegin diesem unbekannten Schädling auf die Spur kommt. Saab streift sich Plastikhandschuhe über, wäscht die Pflanze, legt sie auf ein Plastiktablett und bürstet daran wie an einem teuren Schuh.

Der Telstar Bio II A beginnt derweil leise zu brummen, in dieser Sicherheitswerkbank sterilisiert Gerges das Skalpell mit Alkohol. „Wir müssen die Bauern im Südlibanon fragen, ob sie dieses Phänomen mit den Erdbeeren auch schon haben“, murmelt Saab. Baroudy, mit dem rechten Bein auf einem Stuhl sitzend: „Und wir sollten den Lebenszyklus erkennen, damit der Schädling nicht den Boden kolonisiert.“

Zum Glück hatte sich das LARI-Labor in Beirut vor fünf Jahren neu ausgestattet; jetzt wäre kein Geld für irgendwas da. „Was sagen die Leute in Syrien über den Ursprung?“, fragt Saab. „Nur Gerüchte von Bauern“, entgegnet Baroudy. Zwischen den Wissenschaftlern beider Länder gibt es derzeit keinen Austausch, noch immer verharrt Syrien in den Folgen des Bürgerkriegs. In letzter Minute hatten Forscher des Instituts ICARDA die gesamte Gendatenbank der syrischen Pflanzenforschung nach Beirut zur AUB gerettet – bevor die Kämpfe näher rückten. Doch im Libanon fehlt das Geld überall.

Die Forschenden am LARI arbeiten mit wenigen Mitteln und viel Passion. Und 65 Prozent von ihnen sind Frauen. „Es muss ja weitergehen“, diesen Satz hört man hier und in Beirut, landauf und landab, oft. Saab verschließt die Petrischalen mit den Wurzelproben – nun wird man den Schädling wachsen lassen, analysieren, bekämpfen. Wenigstens diesen Feind von vielen. Der Wettlauf mit der Zeit beginnt. Baroudy sucht in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. Ihr Citroën wartet schon.