25. Hansel-Mieth-Preis: Frank Plasbergs Rede
Liebe Festgemeinde, liebe alle,
erlauben Sie mir diese pauschale Begrüßung, damit ich einen besonders hervorheben kann, den Star des Abends, den Hansel-Mieth-Preis selbst. Den Hidden Champion unter den Journalistenpreisen. Zum 25. Mal wird er dieses Jahr verliehen, und wenn es in unserem an Eitelkeiten nicht armen Gewerbe heute immer noch Edelfedern gibt, dann ist der Hansel-Mieth-Preis der Edelpreis unter den Journalistenpreisen. Viel Inhalt, wenig Lametta. Und so glänzt der Hansel-Mieth-Preis in diesem Jubiläumsjahr lieber mit einer Rekordbeteiligung.
So könnte das jetzt weitergehen. Gute Journalisten ehren gute Journalisten. Und ein Mann am Ende seiner journalistischen Karriere, nach 47, teils schillernden, Berufsjahren hält die Festrede. Ich mache das gerne, ich bedanke mich für die wirklich große Ehre. Aber in Zeiten, in denen in Fernseh-Mediatheken Warnhinweise vor alten Otto-Sendungen und Schimanski-Tatorten eingeblendet werden, da möchte ich hier auch einen Warnhinweis anbringen:
Teile diese Rede können möglicherweise als irritierend empfunden werden.
Falls das der Fall sein sollte: Ich würde mich sehr freuen! Denn sich irritieren zu lassen, ist für mich immer eine der großen Freuden des Journalistenberufs gewesen.
Also dann:
„In einer Zeit wie der heutigen kann man niemandem mehr raten, Journalist zu werden.“ Diese Satz werden manche von ihnen sicher schon mal gehört haben.
„In einer Zeit wie der heutigen kann man niemandem mehr raten, Journalist zu werden“: Diesen Satz habe ich sogar schriftlich bekommen, und zwar von einem Chefredakteur – im Jahre 1975. Damals gab es vor allem bei uns in Nordrhein-Westfalen so etwas wie eine erste Pressekrise. Der Rat, bloß nicht Journalist zu werden, der stand in einem von den vielen Absageschreiben, die ich damals eingesammelt habe. Mein Vater hat diese Briefe natürlich auch gelesen und sie waren Wasser auf seine Mühlen. „So höre doch auf diese Leute“, hat er gesagt, die kennen sich doch aus. Wirklich?
Und da war ja auch noch die Schwäbische Zeitung, die wollte es mit mir als Volontär probieren. Und auch ich, der 18-jährige Rheinländer, wollte es im sprachlichen Ausland in Oberschwaben probieren. Ich wollte es meinem Vater und den pessimistischen Chefredakteuren zeigen. Daraus sind dann diese 47 meist glücklichen Berufsjahre geworden.
Aber was würde ich heute meinem Sohn – er geht noch zur Schule, er steht aber in nicht allzu ferner Zukunft vor der Frage, was er denn beruflich machen soll – was würde ich meinem Sohn raten? Würde ich ihm heute noch raten, Journalist zu werden?
Wenn ich jetzt in die vielen jungen und mitteljungen und jung geblieben Gesichter blicke, dann schreit das nach einem „Ja!“, nach einem „Unbedingt, sollst Du machen, wenn Du willst.“.
Dieses Ja bringe ich nicht mehr so einfach raus. Ich würde meinem Sohn einen Brief schreiben mit persönlichen Erlebnissen, einen Brief, der ihn vielleicht irritiert, aber das ist ja angeblich nichts Schlechtes.
Und wenn von diesem Brief nur zwei Merksätze hängenblieben, würde ich mich sehr freuen.
Erster Merksatz:
Sorge dafür, dass Du eine Partnerschaft, dass Du Freunde hast, von denen Du geliebt und geachtet wirst. Oder auch nur gemocht.
Warum dieser Rat? Weil ein solches sicheres privates Umfeld die Beinfreiheit gibt, im Job, in Redaktionen auch mal Krach zu schlagen, sich querzustellen. Ich meine damit weniger den Aufstand gegen den Ressortleiter oder Chefredakteur, ich meine damit, sich querzustellen gegen eine Entwicklung, die bei fast allen Medien zu beobachten ist.
Nämlich den Wunsch, in jedem Fall auf der richtigen Seite zu stehen. Dies zum Maßstab der journalistischen Arbeit zu machen. Den Wunsch, zu den Aufrechten zu gehören, zu denen, die unsere moralischen Werte hochhalten. Und das alles zur Not auch, bevor Rechercheergebnisse feststehen. Für die dann später aber oft kaum noch Zeit bleibt. Denn Zeitdruck besteht ja nicht mehr nur bei den alten Live-Medien Radio und Fernsehen, Zeitdruck ist auch der Taktgeber des Online-Journalismus.
Woher kommt also dieser Wunsch, von Anfang an sozial Erwünschtes zu formulieren?
Ich möchte Ihnen dazu eine Geschichte erzählen, denn wir wissen ja, es sind die Geschichten, die im besten Fall Emotion mit Bohrtiefe oder auch nur mit schlichten Fakten verbinden, es sind die Geschichten, die hängenbleiben, die bewegen, die – wie wir wieder einmal bei den diesjährigen Preisträgern sehen – eine Königsdisziplin des Journalismus sein können.
Meine kleine Geschichte handelt davon, dass heutzutage jeder seine Geschichte erzählen und medial verbreiten kann und wie Journalisten nicht damit umgehen sollten.
Der Sänger Gil Ofarim hat seine Skandal-Geschichte in einem Video erzählt, vor zwei Jahren setzte er sich vor das Westin-Hotel in Leipzig und erzählte mit tiefer Betroffenheit, dass ihm sein Check-in verweigert werde, solange er nicht seine Kette mit dem Davidstern abnehme. Dass so ein Video im Netz steil geht, ist ein Naturgesetz. Aber was bringt Redaktionen dazu, teilweise in laufenden Livesendungen davon zu berichten? Es ist in meinen Augen die Angst, in den Verdacht zu geraten, auch nur die Behauptung eines wirklich unerhörten antisemitischen Vorfalls zu unterschlagen oder mindestens zu verharmlosen.
Die Empörungswelle im Netz läuft schon, erste große Namen lassen sich schon zitieren. Aber trotzdem innezuhalten, gerade bei so einem gravierenden Vorwurf, bei dem es aber nur die Behauptung einer Seite gibt: Da innezuhalten und zu recherchieren, das ist kein Unterschlagen, das ist journalistisches Handwerk.
In meiner Geschichte hat eine mir bekannte Fernsehkollegin Zweifel geäußert im Live-Studio, sie wurde überstimmt. „Wir müssen das sofort bringen.“ Nur nebenbei: Zweifel ist eine etwas außer Mode gekommene Grundvoraussetzung für guten Journalismus. Die nicht wertende Frage: Kann es auch ganz anders gewesen sein? Das gilt eigentlich immer, aber besonders für die „ismus-Themen“, für Rassismus, Sexismus, Antisemitismus etc. – Phänomene, ohne die unsere Welt sicher besser wäre, die zu bekämpfen ein lohnendes Unterfangen ist. Aber nur Haltung zu zeigen, dazu später mehr, das reicht nicht. Haltung ersetzt keine Recherche.
Die Folgen des Ofarim-Videos und der Schnellschüsse vieler Medien waren bitter: Demonstrationen vor dem Hotel, Stornierungen, Bedrohungen. Shitstorm ist der falsche Ausdruck für das, was da passierte, es war ein folgenreicher moderner Pranger. Kranke Mitarbeiter, ein verzweifelter Hoteldirektor, und am Ende ein großer gesellschaftlicher Schaden, gerade auch für die, die sich täglich gegen versteckten und offenen Antisemitismus einsetzen, ganz zu schweigen von den Betroffenen.
Und: Wieder einmal bekam die Glaubwürdigkeit der Medien einen tiefen Kratzer ab. Der Prozess gegen Gil Ofarim wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung beginnt am 7. November.
Zu Recht muss man darauf hinweisen, dass auch für Gil Ofarim bis zum Urteil die Unschuldsvermutung gilt. Aber was war mit der Unschuldsvermutung für die betroffenen Hotelmitarbeiter?
Falls Sie jetzt reflexartig sagen „Na ja, das waren halt die Boulevardmedien.“: Falsch, es waren auch Qualitätszeitungen darunter, manche hatten allerdings die Größe, das einzuräumen und die Geschichte der Betroffenen Hotelmitarbeiter und des eigenen Fehlers zu erzählen.
Für mich ist das ein Beispiel – nein, nicht ein Beispiel für Zeitdruck und mangelnde Ausstattung von Redaktionen durch klamme Verleger, es ist für mich der Ausdruck eben jenes Wunsches, auf jeden Fall und von Anfang an auf der richtigen Seite stehen zu wollen, und ja, da ist dieses Wort endlich: Haltung gezeigt zu haben. In diesem Fall mal auf Vorrat. Haltung: Unter Journalisten ein oft gebrauchtes Tugendwort. Tut mir leid, ich finde, „Haltung“ ist mittlerweile ein Begriff, der in die Orthopädie gehört – gerade für Menschen, die viel am Schreibtisch sitzen.
Haltung zeigen, das ist für mich ein Platzhalter geworden, um die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus aufzuweichen. Für den Journalismus, wie für jeden anderen Beruf mit gesellschaftlicher Wirkung, sollte es doch reichen, statt Haltung Anstand zu zeigen.
Was braucht es denn, um sich in solch einer Situation querzustellen, auf die Hold-Taste zu drücken? Braucht es Mut?
Vielleicht, aber Mut hat viele Gesichter.
Vor fünf Jahren hat an dieser Stelle der Festredner Anton Hunger über die damaligen Preisträger gesagt, und das gilt eins zu eins für die heutigen: „Sie sind mutig, sie verlassen die eingetretenen Trampelpfade und sie halten die Fahne der Wahrhaftigkeit hoch. Feiglinge können weder gut schreiben noch gut fotografieren.“
Mut kann bedeuten – wie gesagt, nachzulesen bei den diesjährigen Preisträgern – Mut kann bedeuten, im Krieg in einem Atomkraftwerk zu recherchieren, Mut kann aber auch bedeuten, sich auf eine acht Jahre lange Reise zu begeben, die Geschichte von Ella zu erzählen, die als Eliah geboren wurde. Immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass Ella jederzeit sagen kann: Das war’s, ich will keine journalistische Begleitung mehr, keine Zusammenarbeit mehr. Sie wollte – dieser Mut hat sich für beide Seiten gelohnt.
Guter Journalismus braucht also Mut, keine Frage. Aber eine gute Redaktion braucht auch Menschen, für die die richtige Seite dort ist, wo die oft mühsame Suche nach der Wahrheit beginnt, und nicht dort, wo der schnelle Beifall von der richtigen Seite lockt, das wohlige Gefühl, zu den Guten zu gehören.
Vielleicht ist hier statt Mut das Wort Courage das bessere. Noch besser Zivilcourage, auch mal nein zu sagen, wenn die Herde losläuft. Eigentlich ein kleiner Akt für den Einzelnen. Aber ein großer Dienst für die Glaubwürdigkeit der Medien. Journalistinnen und Journalisten erwarten viel von den Menschen, sie sollen uns einen großen Kredit geben. Sie sollen uns glauben, dass das stimmt, was sie lesen, hören und sehen.
Ohne diesen Kredit nutzen die großartigsten Reportagen nichts. Preisverleihungen, auch diese hier, sind schön für die Autorinnen und Autoren, für die Fotografinnen und Fotografen, sie sind kein Ersatz für das wichtigste Erfolgskriterium: Menschen, die sie uns abnehmen. Abnehmen im materiellen und im ideellen Sinn. Und diese Menschen gibt es ja, die offenen, die sich interessieren lassen für Themen. Aber es werden weniger, unsere Kreditwürdigkeit beim Publikum sinkt. Umfragen dazu lesen sich manchmal wie Berichte von Ratingagenturen, die Schuldnerländer herabstufen.
Ich habe da bei den noch Wohlmeinenden – um die wir uns sehr viel mehr kümmern sollten – ich habe da Menschen von nebenan im Sinn, spontane Bekanntschaften, freundliche Menschen, die mich ansprechen in der Öffentlichkeit. Mit ihren Zweifeln, aber auch mit Ihrem Lob. Wenn Sie wie ich so lange im Fernsehen mit ihrem Gesicht für Ihre Arbeit stehen, dann bekommen Sie sehr unmittelbar Rückmeldungen.
Und die schönsten sind immer die, die mit einem Eigentlich beginnen. O-Ton Köln: Eijentlich wollte ich dinge Hart aber fair jestern abend jar nicht geguckt haben, äver dann bin ich hängen geblieben. Dat war interessant.
Gibt es ein schöneres Lob? Wenn zum Beispiel bei den schreibenden und hier ausgezeichneten Kollegen ein erster Satz gelungen ist, ein Satz, der einen reinzieht in die Schilderung gesellschaftlicher Missstände, in diesem Fall des täglichen Existenzkampfes von Alleinerziehenden – ein Alltag, den man ja abstrakt zu kennen glaubt. Und dann hat die Autorin Valerie Schönian mich am Haken mit diesem ersten Satz: „An einem Morgen im September vermengt sich in Sarah Bentners Küche die sehr alte mit der sehr neuen Krise.“ Eigentlich wollte ich das gar nicht gelesen haben. Danke, dass Sie mich überzeugt haben, Frau Schönian.
Was würde ich meinem Sohn noch sagen, wenn er wissen möchte, ob er in einer Zeit wie der heutigen Journalist werden sollte? Ich würde ihm sagen:
Höre auch mal auf Dein Bauchgefühl.
Natürlich würde ich ihm auch zu einer perfekten Ausbildung raten, nach Möglichkeit mit einem abgeschlossenem Studium – hier hätte er ja schon mal sehr leicht die Möglichkeit, etwas besser zu machen als sein Vater. Aber dann würde ich ihm unbedingt raten, auch gelegentlich auf seinen Bauch zu hören. Und da höre ich bei manchen schon ein Grummeln: Bauchgefühl, dann kommt jetzt sicher auch gleich der Begriff „gesunder Menschenverstand“. Ja, warum eigentlich nicht?
Sind die Einbeziehung des gesunden Menschenverstands und auch des Bauchgefühls als Teile der journalistischen Arbeit falsch, nur weil diese Begriffe missbraucht werden von Populisten und ja, manchmal auch Demagogen?
Eine kleine Geschichte aus meiner Erfahrungswelt. Für mich war es, ich gebe es zu, in den Monaten vor Putins Überfall auf die Ukraine eine überraschende Erkenntnis, dass der größte deutsche Gasspeicher in Rehden im Prinzip Gazprom gehörte. Ich habe, eher meinem Menschen- als Sachverstand folgend, Politiker und Verantwortliche gefragt, ob das angesichts der Energieabhängigkeit von Russland besonders schlau ist. Und habe mir mehr als einmal eine Klatsche abgeholt: Das sei alles vertraglich wasserdicht und im Übrigen habe Russland ja seine Verpflichtungen immer erfüllt.
So haben es Medien auch lange transportiert. Ich kam mir bei meiner Frage etwas dumm vor. Die Dummen waren dann später erstmal wir alle, als das Gas knapp wurde. Je häufiger Menschen den berechtigten Eindruck haben, dass sie – ohne Experten oder Journalisten zu sein – am Ende richtig liegen, in der Zwischenzeit aber belehrt werden, wie es wirklich ist, desto schneller schwindet das Vertrauen in die Medien, nein, besser: das Vertrauen ins uns Journalisten.
Nennen wir es vielleicht nicht „gesunder Menschenverstand“, nennen wir es doch: Lebenserfahrung. Und schon tappen wir in die nächste Falle. Wer eine persönliche Erfahrung oder Schilderungen aus seinem Umfeld als Journalist aufgreift, der kassiert von Fachleuten und von verantwortlichen Politikern gerne ein Abwinken. „Das ist doch anekdotische Evidenz.“ Also nicht relevant. Solange es keine Studie gibt, gilt ein Problem als nicht existent. „Das ist gut gemeint, aber …“ Sie wissen, wie der Satz weitergeht. Dabei könnte die so oft geschmähte anekdotische Evidenz so etwas wie ein Frühwarnsystem sein, ein Frühwarnsystem für gesellschaftliche Entwicklungen, bevor sie später durch Studien belegt werden.
Auch hier ein Beispiel aus dem Leben eines gesichtsbekannten Journalisten. Achtung, anekdotische Evidenz: Ich bin regelmäßig mit einem jetzt 90 Jahre alten Boot auf Flüssen und Kanälen in Deutschland unterwegs. Die Häfen haben nichts Glamouröses, es sind eigentlich Schrebergartenkolonien auf dem Wasser. Mit durchweg netten Menschen, mit denen man übers Boot und über Wasserwege gut ins Gespräch kommt. Stellen Sie sich vor: Sie haben ein interessantes Gespräch, merken, dass sie es mit informierten und interessierten Menschen zu tun haben, und dann kommt aus dem Nichts eine Frage, die einen umhaut, beim ersten Mal jedenfalls.
Die Frage heißt: „Sagen Sie mal, ich finde Ihre Sendung ja interessant, aber wo lassen Sie eigentlich Ihre Fragen absegnen?“ Mein zarter Hinweis, dass die Sendung live ist und damit das Prinzip gilt „Ich frage, was ich will, und die Gäste antworten, was sie wollen“, tropft ab. Reaktion (jetzt ist man schon beim Du): „Ist ja klar, das musst Du ja jetzt sagen, Du lebst ja davon.“ Erschreckend, oder? Und das war um einiges vor der Zeit, bevor die Untersuchungen über den Glaubwürdigkeitsverlust der Medien die Runden machten.
Nein, die Frage ist nicht, wie blöd diese Leute sind, ob sie nur frustriert sind und ein Ventil suchen, die Frage ist, was wir Journalisten dazu beigetragen haben und beitragen, dass unsere Glaubwürdigkeit und unsere Unabhängigkeit so in Zweifel gezogen werden.
Natürlich findet sich ein Dutzend äußere Faktoren, die zum Bedeutungs- und Vertrauensverlust von klassischem Journalismus beigetragen haben. X, formerly known as Twitter, Instagram und, aus der digitalen Steinzeit, Facebook. Aber ich finde es interessanter, gerade bei einer Preisverleihung, darüber zu reden, was wir selbst besser machen können und müssen. Die Gatekeeper-Funktion für Information, die bekommen wir nicht wieder, und das ist auch gut so.
Aber wenn Journalismus, bezahlter Journalismus, eine Zukunft haben soll, dann müssen wir – darf ich das Wir noch gebrauchen? – dann müssen wir für unsere gesteigerte Kreditwürdigkeit sorgen. Selbst überprüfen können Menschen kaum, was sie lesen. Auch Fotos verlieren ihre Beweiskraft durch Deep Fakes. Was bleibt da anderes, als auf den Vertrauensvorschuss zu bauen? Durch Glaubwürdigkeit, durch kluge, auch gerne unterhaltsame Aufbereitung, durch Relevanz für das Alltagsleben der Menschen.
Und die fängt bei der Themenauswahl an. Vor acht Jahren hat an dieser Stelle Stephanie Nannen gesagt: „Wir befreien Lebensbereiche, über die zu sprechen schwerfällt, von Tabus. Einfach, indem wir immer wieder davon anfangen. Alles, worüber wir Journalisten immer wieder reden und schreiben, wird mehr und mehr Teil des Alltagslebens.“ Zitat Ende. Journalisten als Motor des gesellschaftlichen Fortschritts, als Aufklärer. Eine schöne Rolle, aber reicht sie noch aus? Wie wäre es, wenn wir wenigstens ab und zu umgekehrt denken würden. Dann hieße es nicht mehr. „Alles, worüber wir Journalisten immer wieder reden und schreiben, wird mehr und mehr Teil des Alltagslebens.“ Dann hieße es: Alles, worüber Bürger reden, was sie in ihrem Alltag bewegt, wird mehr und mehr Gegenstand der journalistischen Alltagsarbeit.
Klar ist das eine Gratwanderung. Dass sie gelingen kann, beweist in diesem 25. Jahr seines Bestehens der Hansel-Mieth-Preis.
Die Mischung der zehn Preisträger, bei 150 Einsendungen – ein Rekord, wie gesagt – diese Mischung zeigt: Relevanz, Aufklärung, Gesprächswertigkeit und manchmal auch unterhaltsame Leichtigkeit beim Lesen der Reportagen und beim Betrachten der Fotos – sie sind keine Konkurrenten. Sie sind der Stoff, aus dem die besten Stücke gemacht werden. Danke für jedes Einzelne!
Es bleibt noch die abschließende Antwort auf die mögliche Frage meines Sohnes. Kann man es in der heutigen Zeit noch jemanden raten, Journalist zu werden? Ich würde mich ein wenig um die ultimative Antwort drücken. Auf der einen Seite ist es ja immer schwer, dem Kind zu einem steinigen und immer fordernden Weg zu raten, auf der anderen Seite braucht unsere Gesellschaft gute journalistische Handwerker mehr denn je.
Bestimmt aber würde ich ihm nach meiner Rückkehr von diesem Preis erzählen, und von den Menschen der Agentur Zeitenspiegel, allen voran Uli Reinhardt. Dass sie mit unerschöpflicher Ausdauer diesen Preis am Leben gehalten haben, sich nicht beirren ließen von anderen Preisen, die kamen und gingen, ihren Namen änderten oder von der Gala zum Kammerspiel schrumpften. Das ist das eine. Aber das andere ist die Agentur selbst, sind die Überlebenskünstler, diese kleine Reportergemeinschaft von jetzt rund 30 Kolleginnen und Kollegen, die sich durch alle Krisen geschlagen hat, irgendwo auf der Welt oder auch im heimischen Printmarkt.
Und ich würde meinem Sohn sagen, guck dir diese Leute genau an, und du wirst feststellen:
Reich sind sie nicht geworden durch ihren Beruf, aber offenbar glücklich.
Ich danke Ihnen.