Zeitenspiegel Reportagen

Abschied von Ivo

04.12.2023

In der Nacht von Freitag auf Samstag verstarb unser Kollege und Freund Ivo Saglietti in Genua. Ivo war mehr als zwanzig Jahre Mitglied bei Zeitenspiegel. Ein leidenschaftlicher Fotograf, der sich mit Hingabe seinen Themen widmete. Ein Aufmaler der Menschheitsleiden; seine Arbeit wurde mehrfach international ausgezeichnet, unter anderem mit dem World Press Photo Award.

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Als die Plage vorüber war und immer weniger Menschen an der Pest starben, feierten die Einwohner von Oran ein Fest. Der Arzt Bernard Rieux aber setzte sich an seinen Schreibtisch und verfasste die Chronik dieser schrecklichen Jahre, „um für die Pestkranken Zeugnis abzulegen, damit wenigstens eine Erinnerung an die Ungerechtigkeit und Gewalt blieb, die ihnen angetan worden war“.

Auf seinen Reisen las Ivo Saglietti viel, immer wieder auch „Die Pest“ von Albert Camus. Dutzende Male hat er den Roman studiert, in mehreren Ausgaben, weil jedes Buch irgendwann zu zerlesen war, um es auf die nächste Reise mitzunehmen. Die Menschlichkeit und Solidarität, mit der sich der Arzt Bernard Rieux gegen das Übel stemmt und den Pestopfern beisteht trotz Hoffnungslosigkeit, war ihm Inspiration und Leitfaden bei seiner eigenen Arbeit.

Ivo Saglietti lebte für die Fotografie und für das, was er „Umanesimo“ nannte, „Humanismus“. In stundenlangen leidenschaftlichen Diskussionen machte er sich stark für die Armen und Leidenden dieser Welt. Wir lernten ihn 1992 kennen, als er mit seiner Leica durch Havanna zog, eine Stadt, die er auf nostalgische Weise liebte: Er glaubte an den Socialismo.

In Lateinamerika dokumentierte er den Militärputsch von Augusto Pinochet, den Bürgerkrieg in El Salvador und das Leben der Menschen zu Zeiten der Cholera in Peru – wofür er seinen ersten World Press Photo Award in der Kategorie „Daily Life“ erhielt, die höchste Auszeichnung für einen Fotografen. Seine Fotos wurden in großen Magazinen wie Newsweek, Time, Spiegel und auch mal auf dem Titel des New York Times Magazine gedruckt.

Wenn ihm ein Thema wichtig war, packte er seine Sachen und kehrte erst nach Wochen oder Monaten in seine bescheidene Wohnung in Paris, später in Mailand und schließlich in Genua zurück, in der kaum mehr als ein Küchentisch, das Archiv für Negative sowie Regale mit all den Bildbänden von Fotografinnen und Fotografen Platz hatten, die ihm wichtig waren.

Als im Kosovo serbische Soldaten und Paramilitärs Menschen immer brutaler drangsalierten und Dörfer überfielen, dokumentierte Ivo Saglietti bereits ab 1998 als einer der ersten Fotografen die Lage vor Ort: Massaker an Zivilisten, verzweifelte Flüchtende, den Alltag im Dorf Krusha e Madhe nach dem Krieg.

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Er wurde Mitglied von Zeitenspiegel Reportagen und ging nun gemeinsam mit Autorinnen und Autoren auf Reise. An seinen Projekten arbeitete er oft jahrelang: das Kloster Mar Musa in Syrien, wo Christen und Muslime ins Gespräch miteinander kommen; die zweite Intifada und der israelisch-palästinensische Konflikt; drei der tödlichsten Krankheiten der Welt – Malaria, Tuberkulose und Aids.

Seine Fotos wirkten zuweilen wie Gemälde, in Schwarzweiß komponiert. Der Kontrast von Schwarzweißfotografien gab die Tragik und Hoffnung des Menschen seiner Meinung nach besser wieder als Farbfotografie, wie sie in den Magazinen mittlerweile gefragt war. Auch der digitalen Fotografie konnte Ivo Saglietti nicht viel abgewinnen – „platt“ schienen ihm die Fotos am Bildschirm im Vergleich zu seinen Abzügen aus dem Labor, die er am liebsten in Büchern und Ausstellungen präsentierte. Seine puristischen Vorstellungen führten zu außergewöhnlich eindrücklichen Bildern – und zu einem schwierigen Verhältnis zu kommerziellen Magazinredaktionen, an deren Produktionsrhythmen er sich nicht anpassen wollte und konnte.

Ivo Saglietti zitierte gerne den amerikanischen Fotografen Eugene Smith, dessen Arbeit er sehr verehrte. Der habe behauptet, „vielleicht fünfzig gute Fotos“ in seinem Leben gemacht zu haben. Eine recht kleine Zahl – vor dem Hintergrund der unzähligen Negative, die er im Laufe seines Lebens belichtet hatte. Ivo Saglietti kalkulierte die Zahl seiner „guten Fotos“ auf fünf. Was zum einen seine Demut gegenüber der Fotografie zeigt – zum anderen sein Selbstbewusstsein, durchaus zu jenen Fotografen zu gehören, die diesem Anspruch in besonderen Momenten gerecht geworden sind.

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Wie Albert Camus betrachtete sich Ivo Saglietti als ein Mensch, der mit dem Mittelmeerraum tief verbunden war. Er sprach gerne davon, wie ihn das Meer, uns andere bei Zeitenspiegel aber der Wald geprägt habe. Seine Mutter war Französin, der Vater Italiener, Ivo war in Toulon geboren und die Familie später nach Italien gezogen.

Eines seiner liebsten Projekte, das viel zu groß für eine einzelne Magazin-Veröffentlichung war, widmete er dem Thema „Grenzen in Europa“ – und was helfen kann, diese zu überwinden. Seine Antwort war: Menschlichkeit. Auch in der Kultur, gutem Essen und Wein sah er Elemente, die Menschen verbinden. Der Olivenbaum war für Ivo Saglietti ein Sinnbild für den Mittelmeerraum, denn Olivenbäume wachsen entlang aller Küsten am Mittelmeer. Einen Kollegen bei Zeitenspiegel bat er einmal: „Wenn ich sterbe und du siehst einen Olivenbaum, dann grüße ihn, als wäre ich es.“

In der Nacht von Freitag auf Samstag ist Ivo Saglietti im Alter von 75 Jahren in Genua einem Krebsleiden erlegen. Uns bleiben die Erinnerung an wunderbare Diskussionen, Reisen und Abendessen mit ihm. Und seine Bilder, die unsere „Erinnerungen an Ungerechtigkeit“ ebenso wachhalten wie die Hoffnung auf eine bessere Welt. Eine, in der „Umanesimo“ regiert.