Zeitenspiegel Reportagen

Blog: Peace Counts in Kolumbien

25.10.2010

Gemeinsam mit 16 kolumbianischen Journalisten und Fotografen produzieren die Zeitenspiegler Tilman Wörtz und Uli Reinhardt von Mitte Oktober bis Ende November Reportagen über “Friedensmacher”. Sie haben sich für dieses Projekt die kolumbianische Provinz Norte de Santander ausgesucht. Die Reportagen erscheinen in der dortigen Tageszeitung “La Opinión”, als Hörfunkfeature in einem Netz von Kommunalradios und in Form eines Geschichtenerzählers auf öffentlichen Plätzen. In den folgenden Wochen schreibt Tilman Wörtz in diesem Blog über das Projekt, das die GTZ finanziell und logistisch unterstützt.

Tag 12

Ich rufe Rafael an: “Ich muss mit dir reden.” Er versteht. Wir treffen uns im Hotel. “Bist du sauer?”, fragt er mich frei heraus. Ich drucks zuerst rum, sag “Naja”, fass mir dann ein Herz und sag: “Ja.” Er grinst. “Ihr seid immer noch nicht unterwegs. Ich möchte nicht mehr hingehalten werden. Und ich hab auch keine Lust mehr, morgen vor Deinen Studenten zu sprechen. Warum sagst Du nicht einfach Deine Teilnahme am Projekt ab?” Rafael sagt: “Ich reise dieses Wochenende, versprochen. Und das sag ich nicht, damit wir wieder Freunde sind, sondern weil ich bei dem Projekt mitmachen möchte.” Das freut mich. Ich nehme ihm ab, dass er sein Versprechen ernst meint. Jetzt sind endlich alle Teams auf der Spur.

Tag 11

Ich telefoniere seit Tagen Manuel und Rafael hinterher: “Wann wollt ihr endlich auf Recherchereise?” Es sind nur noch drei Tage Zeit bis zum zweiten Workshop, in dem wir die Ergebnisse der Recherchen besprechen wollen.

Manuel sagt: Wir reisen in zwei Wochen.

Ich: Das ist deutlich zu spät.

Manuel: Wir haben lange Zeit für die Recherchen, sagtest du.

Ich: Das war vor einer Woche. Da hattet ihr noch lange Zeit, jetzt nicht mehr.

Manuel: Rafael muss noch was machen, auch mir rennt die Zeit davon.

Ich: Manuel, ihr müsst nicht an dem Projekt teilnehmen. Nur ihr wisst, ob ihr das wollt und könnt. Aber wenn ihr teilnehmt, dann gibt’s nun mal einen Zeitplan.

Manuel: O.k., Hermano, kein Problem. Das machen wir dann irgendwie vorher.

Ich verabschiede mich und stufe meine Erwartung an Fotos und Texte der beiden zurück. Das enttäuscht mich. Gerade auf die beiden hatte ich gehofft.
Am Nachmittag dann aber ein schönes Erlebnis: Wir casten unseren Geschichtenerzähler, ein gescheiterter Ingenieur und ambitionierter Jungliterat. Er erzählt einen Text aus Israel, den ich ihm für den Test gegeben hatte. Jhairan erfüllt unsere Hoffnung: Er respektiert die journalistische Information und übersetzt sie in eine orale Form, die deutlich massenkompatibler ist als das Vorlesen eines Textes. Ich fordere ihn auf, die Geschichte nun für Kinder zu erzählen. “Wie würdest du das machen?” Er sagt: “Als Parabel zwischen Löwen und Hasen”, und fängt an zu erzählen. Ich bin überzeugt von seinem Talent. Wir haben in der Zwischenzeit eine wunderbare Lösung gefunden, wie der Geschichtenerzähler durchs Land fahren kann: Die staatliche Bibliothek in Cúcuta hat eine “rollende Bibliothek”, einen drei Tonnen schweren Lastwagen, der Bücher geladen und eine Seitenklappe wie ein Eisverkäufer hat. Die “Biblioruedas” hat sogar eine Tonanlage, eine Leinwand und einen Beamer, mit dem wir die Fotos auch nachts zeigen können. Das Projekt ist von der EU gefördert. Wir vereinbaren mit der Bibliothek, dass der Erzähler für einige Wochen die Biblioruedas durch die gesamte Provinz begleiten wird. Sie macht in Schulen Halt, in Parks und auf Plätzen.

Tag 10

Rafael schaut Uli Reinhardt nur eine Viertelstunde beim Fotografieren zu und merkt sofort: Er muss ganz nah ran an die Menschen, am Motiv arbeiten, nicht nur ein Bild pro Einstellung machen, sondern viele. Uli schaut sich das Ergebnis am Nachmittag am Laptop an und ist begeistert von der Bildstrecke über zwei blinde Jungs aus einem Problemviertel, die ein freiwilliger Helfer in einem Computerkurs unterrichtet. Die Idee hinter dem Projekt: Jugendlichen aus Armenvierteln Perspektiven für ein normales Leben geben. Rafaels Fotos fangen rührende Momente der beiden blinden Jungen ein, wie sie am Computer sitzen und in die Tastatur reinhören; wie sie mit dem freiwilligen Helfer bubeln.





Endlich bekomme ich den Termin beim Herausgeber der “Opinión”. Das Gebäude ist über hundert Jahre alt, hat eine traditionelle Holzdecke und einen schönen Hof, mutet mehr an wie eine koloniale Villa, eine schöne Umgebung für eine Redaktion. Die Druckerei ist gleich unten im ersten Stock. Eine Wendeltreppe führt in das Büro des Herausgebers. Er ist gut aufgelegt. Wir reden über Fußball. Er fragt, wie das Projekt läuft. Ich sag ihm die Wahrheit: dass seine Weigerung, uns die versprochenen Journalisten zu lassen, alles durcheinander bringt. Er sagt was von “Personalproblemen”, sichert mir dann aber zu, dass er ab nächster Woche den Reportern Freigang gibt. Ich bin froh. Wir beschließen sofort, uns mehr Zeit für das Projekt zu lassen und den Termin für die abschließende Fotoausstellung hinauszuschieben. “In Cúcuta braucht’s einfach ein wenig Geduld”, sagen uns die Teilnehmer. Auch sie sind froh, dass ihr Chef endlich einlenkt und ihnen die Chance gibt, neben den täglichen Berichten über den nächsten Mord auch einmal etwas anderes zu machen. Zwei weitere Teams sind mittlerweile auf Reise gegangen.

Tag 9

Die Studenten bringen die ersten Rechercheerlebnisse und einige Fotos mit. Insbesondere die Fotos von Rafael, Praktikant bei der “Opinión”, sind ein Graus: nur vier Bilder, zwei davon unscharf. Uli Reinhardt entscheidet sich, in den kommenden Tagen die Studentengruppe bei den Recherchen zu begleiten.
Ich telefoniere immer noch dem Herausgeber der “Opinión” hinterher, werde auf morgen vertröstet. Wut steigt in mir auf: Diese phantasielose Provinzgazette lässt mich warten, einen europäischen, weit gereisten Journalisten, der so ein tolles Angebot für die Mitarbeiter der “Opinión” macht! Zerdrücken möchte ich diesen Wicht, mit Beweisen für die Größe unseres Projekts: Publikation in der größten spanischen Zeitschrift, im “Stern”, im “Spiegel” … Ich trink ein Bier. Lache über mich: Wie eitel! Wir kommen aus Übersee eingeschwebt und erwarten, dass alle sofort ihre tägliche Routine für uns ändern. Was soll die schon unsere Absichten interessieren? Aber warum bin ich dann hier, frage ich mich und bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich ja auch Steuergelder hier verbrauche. Eine Antwort liefert Rafael am nächsten Tag.

Tag 8

Die Journalisten der “Opinión” bekommen Reiseverbot, auch die Praktikanten sowie die Redakteurin von der Internetseite. “Personaler Engpass”, lautet das Argument. Ein harter Schlag. Ich versuche sofort Kontakt zum Chefredakteur aufzunehmen. Der ist aber auf einer Konferenz in Peru. Also versuche ich den Inhaber und Herausgeber zu sprechen. Er sei nicht im Büro. Ich werde vertröstet.
Die anderen Teams planen weiter ihre Reise. Am Nachmittag reisen ein Reporter und Fotograf nach La Gabarra. Sie werden elf Stunden unterwegs sein. Die Straßen sind schlecht. Streckenweise müssen sie auch mit einem Boot auf dem Katatumbo fahren. Als sie ankommen, können sie noch einmal telefonieren. Die nächsten Tage werden sie keinen Handyempfang mehr haben.

Tag 5 + 6

Themenkonferenz: Die Journalisten und Fotografen verfeinern die Artikelliste, telefonieren mit ihren Kontakten und prüfen, ob die Reise zu dem Zeitpunkt überhaupt machbar ist. Im Laufe der nächsten Woche müssen sie in ganz Norte de Santander recherchieren: in La Gabarra bei einem Professor Josías, der mit Witwen, Waisen und ehemaligen Koka-Köchen arbeitet, außerdem Ängste zwischen den Menschen in der Region und der Armee abbauen möchte; in Ocana, wo das Komitee für Menschenrechte ausgezeichnete Arbeit machen soll; in Villa Caro, einem Dorf, das auch während des Krieges verhindern konnte, dass weder Guerrillas noch Paramilitärs eindringen konnten. Jeder in Norte de Santander kennt den Namen, niemand den Grund für diesen Erfolg. Ein Team soll ihn finden.

Tag 4

Endlich sind alle Teilnehmer beieinander, aufgeteilt in eine Studentengruppe und eine Profigruppe. Unser Tagungsort ist wunderschön: Die Stadtbibliothek hat weiß gekalkte, hohe Wände, eine Holzdecke, Türen und Fensterläden in kolonialem Stil, Palmen im Hof. Die Studenten bringen tolle Themenvorschläge mit: zu einem Friseur, der in einem Armenviertel einen Streit zwischen der Nachbarschaft und einem Ehepaar schlichtet, auf dessen Grundstück die einzige Wasserquelle des Viertels sprudelt und eine Monopolrente beschert; zu einem Professor von der Uni, der gemeinsam mit Gefängnisinsassen Kurzgeschichten schreibt und sie so auf andere Gedanken, vielleicht sogar ein anderes Leben bringt. Der Morgen macht Spaß. Die Gruppe der Profis ist dagegen anstrengend: Viele kommen zu spät; der Korrespondent von Reuters telefoniert die ganze Zeit – er war drei Wochen krank und muss Zeit aufholen; ein anderer, Leonardo, geht alle Stunde aus dem Raum und bleibt für eine Viertelstunde weg. Später – bei einer Diskussion in kleiner Runde unter dem Mangobaum im Hof – sehe ich Leonardo mit einem Tablett voll Plastikbechern die Treppe in den zweiten Stock steigen. Ich frage ihn: Leonardo, was ist los, wir wollen weitermachen. Leonardo sagt: Sorry, muss nur kurz die Erfrischung den Teilnehmern meines Workshops über Kurzfilme bringen. Soll ich nun sauer auf Leonardo sein, weil er parallel zu unserem Projekt einen eigenen Workshop veranstaltet und mir das nicht einmal sagt? Oder soll ich froh sein, dass er trotz der Doppelbelastung zu uns gekommen ist, wenn auch mit Unterbrechungen? Ich entscheide mich fürs Frohsein.

Tag 3

Unser erster Workshoptag. Der Plan: an drei Nachmittagen die Themenliste festlegen und die Machart der Reportagen besprechen. Wir wollen keine Analysen, sondern lebendige Geschichten von Friedensmachern. Die Teilnehmer: vier Fotografen, vier Journalisten, zwei Radioreporter. Außerdem sechs Journalismusstudenten der beiden Unis, die ab morgen dann in getrennten Gruppen das gleiche Programm wie die Profis absolvieren. Bis zum Morgen hatten wir noch keine Bestätigung der einen Universität, dass ihre Studenten tatsächlich kommen. Wochen vorher hatten wir schon angefragt. Schließlich tauchen sie auf. Aber nicht der wichtigste Mann im Schreiberteam: Statt des Journalisten von der Tageszeitung La Opinión stehen plötzlich vier Praktikanten des Blatts vor der Tür. Das ist bitter, denn der Journalist ist eine Nummer in Cúcuta. Er ist für die “páginas judiciales” verantwortlich, also für die Berichterstattung über Gewaltverbrechen. Ich rufe den Chefredakteur an, der mir am Tag vorher noch sein Wort gegeben hat, und frage, warum statt seines besten Manns vier Azubis auftauchen. “Personalprobleme, Personalprobleme”, brummelt er. Kein Wort der Entschuldigung. Wir wollen die Azubis nach Hause schicken – doch sie beschweren sich: “Jetzt sind wir hier und freuen uns drauf, wir wollen bleiben!” Also dürfen sie bleiben – in der Studentengruppe, die jetzt auf zehn Personen angeschwollen ist. Den Studenten und Praktikanten fehlt es nicht an Selbstvertrauen: Sie dominieren die Diskussion. Ein schwieriger Tag. Ich fürchte um die Motivation der Profis. Mir flattern ein wenig die Nerven. Mein Name ist Improvisation, mein Vorname Herzinfarkt. Leute von der GTZ hatten mich gewarnt: Cúcuta ist ein schwieriges Pflaster. Da kann jede Verabredung jeden Moment wieder in Frage gestellt werden. Wer vor Tagen etwas ausgemacht hat, muss unbedingt vor dem Termin noch mal anrufen. Sonst geht’s schief. Ein aufwändiges Verfahren, um Leute zu treffen.

Tag 2

Cúcuta ist ein heißes Nest. Es soll 750.000 Einwohner haben, mir kommt’s mit seinen kleinen Sträßchen und niedrigen Häusern aber vor wie ein Dorf. Zur Tageszeitung La Opinión muss ich vom Hotel Casa Blanca aus nur drei Blocks laufen. Ich schwitz trotzdem schon, als ich mich beim Chefredakteur anmelde. Zweck meines Besuchs: Face-Marketing, den Chef an sein Versprechen erinnern, uns zwei Fotografen und einen Schreiber fürs Projekt zu lassen. Er sagt: “No hay problema.” Ich bin erleichtert. Wir reden. Über die Presse in Deutschland. Über das Internet. Auch hier haben sie Angst, dass die Auflage wegbricht. Ich wundere mich, dass in diesem Winkel der Erde, in dem es außer Feldern, Koka-Feldern und dem öffentlichen Dienst kein Einkommen gibt, die Presse trotzdem die gleichen Probleme hat wie bei uns. Irgendwie müsste doch hier alles anders sein, denke ich. Irgendwie hab’ ich mich geirrt.


Tag 1

Gewalt weckt makabre Neugier, da kann man herumreden, wie man will. Ich habe überlegt, wie ich meinen Blog beginne – Landschaftsskizze von Cúcuta? Erste Eindrücke aus dem Taxi? – Oder ob ich gleich schreibe, dass die Paramilitärs in Norte de Santander ihre Opfer auch in Öfen verbrannten. Diese Information hat mich bei meiner Vorbereitung sehr umgetrieben. Mir war nicht bekannt, dass nach Ende des Dritten Reichs irgendwo auf der Welt Öfen nur zu dem Zweck gebaut wurden, Menschen zu verbrennen. Während die Paramilitärs in der Provinz Norte de Santander wüteten (die schlimmste Zeit war zwischen 1999 und 2004), stieg die Mordrate so stark, dass die Kommandeure um die politische Protektion aus der Hauptstadt Bogotá fürchteten. Die Leichen, die bis zu diesem Zeitpunkt in einen Fluss oder ein Massengrab gekippt worden waren, mussten nun spurlos verschwinden. Rund 200 von 2.000 Vermissten, schätzt die Menschenrechtsorganisation Fundación Progresar, verrauchten durch zwei Schornsteine. In zwanzig Fällen haben Paramilitärs Geständnisse abgelegt. Die Identität der Opfer kennt bis heute niemand. Zu hoch liegt ihre Zahl, zu wenig wird von der Justiz getan, um die Verbrechen aufzuklären.

Wenn Mörder wissen, dass sie nie bestraft werden, haben sie bereits einen Grund für den nächsten sinnlosen Mord. Verrenkte Glieder, Schusswunden, blutverschmierte Laken füllen in Cúcuta wöchentlich die Titelseiten der Zeitung “Q’hubo”, einem makabren Boulevardblatt, das es in ganz Kolumbien gibt, meist unter Lizenz herausgegeben von einer seriösen Lokalzeitung, die damit Geld verdienen muss. Crime is money – das gilt auch für die Presse Kolumbiens. Trotz der vielen Gewalt in der jüngeren Geschichte des Landes taugen Schockermeldungen immer noch zur Unterhaltung derer, die nicht unmittelbar von der Gewalt betroffen sind.

Es wird Evolutionsbiologen geben, die uns klug begründen können, warum die Faszination für Gewalt wichtig für das Überleben unserer Spezies ist. Sie hält unser Interesse für mögliche Gefahren wach, sicherlich. Die Frage ist nur: Wo führt uns dieses Interesse hin? Bleibt es gaffend am Tatort stehen? Oder führt es uns zum Verständnis der Strukturen, die den Täter geboren haben? Oder gar zu möglichen Lösungen? Um diese Lösungen geht es im “Projekt Peace Counts en Norte de Santander”. Gemeinsam mit Kollegen aus der lokalen Presse und dem Radio wollen wir Menschen in Norte de Santander aufspüren, die an der Lösung von Konflikten arbeiten. Wir wollen ihre Arbeit und Erfahrungen schildern, ihre Motivation und ihre Hoffnung. Die Reportagen aus dem Projekt sollen so breit wie möglich unters Volk gestreut werden – als Artikel, Radiobeiträge und in Form eines reisenden Geschichtenerzählers.