Zeitenspiegel Reportagen

Giftschlammlawine in Ungarn

12.10.2010

Im Herbst erschütterte ein Chemieunfall Ungarn. Zeitenspiegler Mathias Becker und Fotografin Antonia Zennaro waren vor Ort.











Hier der Text:

Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 18.10.2010
Als Kind spielte Adrienn Fuchs auf den Dämmen der Rotschlammbecken von Kolontár. Als sie anfing, Fragen zu stellen, lief sie gegen eine Mauer des Schweigens. Nun verlor sie in der giftigen Flutwelle ihre Großmutter und ihr Elternhaus

Die Morgensonne erreicht die kleine Veranda mit Verspätung. Erst muss sie den Damm überwinden, der sich über die Kohlfelder erhebt wie eine Festung. Adrienn Fuchs steht vor dem Haus ihrer Eltern und schaut auf das, was einmal der Garten war. Der Teich mit den Schildkröten, die Paprika an langen Staudenreihen, der Stall mit den Schafen – all das ist jetzt eine Marslandschaft. Adrienn Fuchs, 29, mit Regenparka und Anglerhose bekleidet, deutet über das Grundstück hinaus, über den schlammroten Acker, auf das turmhohe Bollwerk, das dahinter emporragt. An seinem nördlichen Rand klafft ein riesiges Loch. Einst sicherte die Aluminiumhütte den Menschen von Kolontár das Überleben. Jetzt hat sie das Dorf in einen Friedhof verwandelt.

Neun Menschen fielen der giftigen Flut zum Opfer, unter ihnen Adrienns Großmutter. Niemand weiß, wo die 82-Jährige war, als die Welle heranrollte. Zuerst war nur ein entferntes Donnergrollen zu hören, dann brach der Schlamm mit 50 Stundenkilometern über die Ortschaft herein. In einem Moment schauten die Menschen noch aus den Fenstern, suchten nach den Gewitterwolken, im nächsten standen sie bis zum Nabel in der rostroten Masse, die in den Atemwegen brannte und langsam die Haut auffraß. Wer draußen auf der Straße war, hatte kaum eine Chance. Auf ihrem Weg riss die Flut eine Brücke ein und schob Bahngleise samt Betonschwellen aus dem Schotterbett. Autos trieb sie tief in die Maisfelder. Adrienns Großmutter fand man an einer Böschung, etwa 100 Meter von ihrem Haus entfernt.

Als die Flut kommt, arbeitet Adrienn in Budapest an der nächsten Ausgabe von “Süni”, einem Umweltmagazin für Kinder. Nach ihrem Journalistikstudium hat sie eine Stelle bei der Zeitschrift angetreten, sie und ihr Freund Arpád leben in der Hauptstadt, rund 150 Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt. Als der Anruf kommt, springen sie ins Auto. In Kolontár angekommen, können sie nur noch zusehen, wie ein Heer in weißen Schutzanzügen die Straßen und Gärten von Adrienns Kindheit demontiert.

Als sie ein kleines Mädchen war, kannte sie jeden Baum in dieser Gegend. Sie und ihre Freunde badeten in dem Bach, der durch Kolontár fließt, rannten über die Wiesen und streiften durch Wälder, die das Dorf umgeben. Und immer wieder lief das Mädchen zum Vater, der im Aluwerk schuftete, und setzte sich auf die Planierraupe, mit der er das Fundament für ein neues Becken schuf. Wenn ein Reservoir voll war, wurde es zugeschüttet – und ein neues wurde errichtet. So machen sie es seit Jahrzehnten.

Mit der Zeit ist auf diese Weise eine kleine Hochebene zwischen der Fabrik und Kolontár entstanden – und die Becken wuchsen immer näher an den Dorfrand heran. Vater und Tochter, gemeinsam auf der Raupe, schütteten die Wälle für den nächsten Giftsee auf. “Da oben bei Papa mitzufahren, war das Größte”, sagt sie. Dort oben hat sie auch die Sorge in den Augen des Vaters gesehen. Sie solle sich fernhalten von der stinkenden Brühe, sagte er. “Niemals darfst du da hineinfallen.”

Im Dorf kursierten Gerüchte, einige behaupteten, der Schlamm sei radioaktiv verseucht. “Wir sind trotzdem auf den Wall hochgegangen”, sagt Adrienn. Der Weg auf den Scheitel des Bollwerks führte durch kniehohes Gras. Oben war man außer Atem, der Preis für eine grandiose Aussicht. Und einen beißenden Gestank. In Adrienn, da war sie acht Jahre alt, wuchsen die Fragen.

Ihr Vater arbeitete viele Jahre im Aluminiumwerk. Vor zehn Jahren begann ein Tumor auf seiner Zunge zu wuchern. Der Krebs wurde entfernt, er hinterließ den großen, kräftigen Mann mager und gebeugt. Die schmale Frührente reicht hinten und vorne nicht. Arbeit gibt es kaum in der Region, weder in der Aluminiumfabrik noch in der Bauxitmine. Viele verdienen sich auf den Maisfeldern was dazu, auch Adrienns Vater. Einer seiner Brüder hat eine kleine Hühnerfarm, der andere hat kürzlich einen Karpfenteich angelegt. Bescheidene Träume von etwas Sicherheit, die jetzt unter rotem Schlamm begraben liegen.

Das Haus der Familie Fuchs erwischte es als Erstes. Die Welle rollte mit einer solchen Wucht heran, dass sie nicht einmal die Glasscheibe aus der Haustür gedrückt hat. Sie hat gleich die ganze Tür aus den Angeln gesprengt. “Es ist ein Glück, dass meine Eltern nicht zu Hause waren”, sagt Adrienn. Die Mutter war bei einer Cousine. Der Vater arbeitete auf dem Feld. Mit einem beherzten Tritt aufs Gaspedal konnte er seinen Traktor gerade noch rechtzeitig auf einen Hügel retten.

Als Adrienn 17 Jahre alt war, hatte sie ihre Fragen lange genug mit sich herumgetragen. “Ich wollte wissen, was in dem Aluwerk hergestellt wird und auf welche Weise. Vor allem wollte ich wissen, was in den Becken ist.” Das Geheimnis der unheimlichen Seen lüften – Adrienn meldete das Thema als Schularbeit an. Sie ging in die Bibliothek der nahen Stadt Ajka und fand – nichts. Sie wandte sich an das Werk und wurde wieder nach Hause geschickt. Auch im Dorf stieß sie auf Schweigen.

Wenn man die Menschen in Kolontár heute fragt, ob sie sich nicht unwohl gefühlt haben im Schatten der Giftseen, zucken sie mit den Schultern. Schon, ja. Aber was sollte man tun? In dem Landstrich stachen die Schlote schon in den Himmel, als die Alten noch Kinder waren. Vor 100 Jahren begann der Abbau von Braunkohle, später kamen eine Bauxitmine und ein Aluminiumwerk hinzu. Nach dem Krieg wollte Ungarn zur Industrienation aufsteigen, die Betriebe wurden verstaatlicht, expandierten, ernährten die Menschen – und lehrten sie, besser keine Fragen zu stellen. 1986, flüstert ein ehemaliger Aluwerker, habe es schon einmal ein Unglück gegeben. Ein Becken mit weißer Flüssigkeit sei ausgelaufen; keine Gefahr, hieß es offiziell. Auf den überschwemmten Feldern wuchs jahrelang kein Halm. Der Fall wurde nie untersucht. Dann sagt der Mann noch, dass sein Name nicht in der Zeitung stehen soll. Das alte System wurde vor 20 Jahren begraben. Die Angst vor Repressalien hat überlebt.

Adrienns Gummistiefel versinken knöcheltief im Matsch, als sie in einen totenstillen Hof schleicht. Auf der Fassade hat der Schlamm ein wildes Gemälde hinterlassen, rostrote Spitzenvorhänge flattern aus zerbrochenen Scheiben. Es ist das Haus ihrer Großmutter. Als Kind hat sie hier vor der Schule ein Glas Milch getrunken und die Hühner gefüttert. Die Möbel liegen im Raum wie dahingewürfelt. An einer Wand hängt ein Stammbaum, den Adrienn als kleines Mädchen gemalt hat. Sie will etwas sagen, doch ihre Stimme versagt. Sie bahnt sich den Weg zu einer Fotowand. Ein Bild zeigt sie als Kind auf dem Schoß der Oma. Auf einem anderen sind der Vater und die Mutter zu sehen – und in der Mitte Adrienn, das Mädchen, dem das Schweigen irgendwann zu viel werden sollte.

Nach dem Abitur verließ sie ihr Heimatdorf. Sie ging nach Budapest und studierte – erst Biologie, dann Journalismus. “Süni”, ihr Magazin, erklärt Schülern, welche Folgen der Klimawandel hat, warum Artenschutz wichtig ist, warum der Regenwald gerettet werden muss. Der Damm hinter ihrem Garten trat ein wenig in den Hintergrund. Ihr Unbehagen blieb. “Wenn ich meine Eltern besucht habe, bin ich auch auf den Wall geklettert”, erzählt sie – und kann gar nicht genau sagen, warum. “Nie hätte ich gedacht, dass er brechen könnte. Es war mehr diese diffuse Angst vor dem Gift.”

Vor einem halben Jahr ist sie noch mal hinaufgekraxelt, genau an jener Stelle, die jetzt geborsten ist. Sie hatte gehofft, dass das Becken schon zugeschüttet worden sei. Als sie oben war, blickte sie auf den roten See; der Schlamm stand anderthalb Meter unter der Kante.

Kurz nach der Katastrophe war das Dorf evakuiert worden, nun sind die Menschen zurückgekehrt. Hinter dem Kulturhaus schöpft eine Nachbarin Gulaschsuppe in Plastikteller. Ihr Haus blieb unbeschädigt, nun spendet sie den Helfern eine warme Mahlzeit. Adrienn und ihr Freund Arpád sitzen im Gras und stärken sich an dem Eintopf. Es gibt nichts zu sagen. Die Geschichten, die sie auf dem Weg durchs Dorf gehört haben, machen sprachlos.

Wie die von dem alten Ehepaar Lehmann, das im Badezimmer von der Flut überrascht wurde. Als die Welle kam, stieg Sandor Lehmann auf den Wannenrand und hob seine Frau Iren auf einen kleinen Fenstersims. Anderthalb Stunden lang stand er da, bis zu den Knien im Schlamm, und hielt sie fest. Als der Pegel sank, waren seine Beine bis tief unter die Haut verätzt. Oder die Geschichte von Balázs Holczer, dessen Frau bis zum Bauch im Schlamm stand, als sie ihn anrief, um sich für immer zu verabschieden. In einer Hand hielt sie das Telefon, mit der anderen hob sie ihr Baby in die Höhe. Beide haben überlebt, sie mit schweren Verbrennungen.

Niemand weiß, wie es weitergehen soll in Kolontár und den anderen Dörfern. Györgyi Töttös vom Nationalen Katastrophenschutz sagt, man müsse den Boden abtragen, 20 Zentimeter, vielleicht 50. Balász Tömöri von Greenpeace sagt, der PH-Wert des Schlamms liege bei mindestens 12, was jeden Fisch in den Gewässern töte. Was die Katastrophe für Grundwasser und Donau bedeutet, ist ungewiss – auch weil die Hilfskräfte tonnenweise Säure in die Flüsse kippen, um die ätzende Natronlauge zu neutralisieren. Der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Und dann ist da noch Ferenc Pad, Betriebsratschef der Magyar Aluminium, der durch Kolontár spaziert und sagt, vom Schlamm gehe keine Gefahr aus, die Angst sei Hysterie. Auf ihrer Website spricht seine Firma den Angehörigen der neun Todesopfer ihr Beileid aus, von einer “Naturkatastrophe” ist dort die Rede. Jedem Geschädigten werden vorerst 360 Euro versprochen. Die Bewohner von Kolontár haben sich zusammengetan, sie haben jetzt einen Anwalt.

Adrienn Fuchs sammelt alle Informationen, die sie über das Aluminiumwerk kriegen kann. Das Schweigen von Kolontár scheint gebrochen. Eine der offenen Fragen ist, ob der Friedhof genutzt werden darf. Auf einem Hügel liegend, blieb er von der Flut verschont. Hier ruht Adrienns Großvater. An seiner Seite wollen sie die Großmutter beerdigen.