Zeitenspiegel Reportagen

Hansel-Mieth-Preis in Fellbach verliehen

21.09.2023

Unter großer Anteilnahme wurde am vergangenen Mittwochabend in Fellbach der Hansel-Mieth-Preis vergeben. Mit der Auszeichnung würdigt die Reportergemeinschaft Zeitenspiegel Reportagen nun zum 25. Mal herausragende engagierte Reportagen in Wort und Bild, „das ist wichtiger denn je“, wie die Fellbacher Oberbürgermeisterin Gabriele Zull bei ihrer Begrüßung der rund 200 Gäste im Großen Saal des Rathauses sagte.

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Mit dem Preis erinnert Zeitenspiegel Reportagen an das 1998 verstorbene Ehrenmitglied Johanna „Hansel“ Mieth, die sich als Fotoreporterin für das amerikanische Magazin Life sozialen Themen widmete. In diesem Jahr ging die Auszeichnung an das Team von Rudi Novotny (Text) und Anne Morgenstern (Fotos). Ihre im Zeit Magazin veröffentlichte Reportage „Ich will eine normale Frau sein. Einfach so“ ist das Ergebnis einer achtjährigen Begleitung: Mit zwölf Jahren beschließt Ella, dass sie nicht mehr Eliah heißen will. Zwischen ihr und ihrem Ziel, eine Frau zu werden, liegen Jahre voller Euphorie und Enttäuschung, Hoffnung, Verzweiflung und Liebe.

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Für die Jury fasste Gesa Gottschalk die Preisentscheidung zusammen. „Geht das? Nach einem Jahr Krieg in Europa?“, fragte die Redakteurin des Magazins Geo mit Blick auf den Krieg in der Ukraine – im Schatten eines sehr dominierenden Themas die Auszeichnung für eine Coming-of-Age-Geschichte? „Natürlich geht das“, sagte Gottschalk. „Denn das Private an Ellas Geschichte ist nur scheinbar privat.“ Die Reporterin verwies auf die zahlreichen Gewalttaten gegen Transgender. „‘Es geht nicht um eine Schönheitsoperation‘“ zitierte Gottschalk Ella, „‘es geht um mein Leben‘“.

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In seiner Festrede zum 25-jährigen Jubiläum des Preises ging Frank Plasberg auf die Lage des Journalismus in Deutschland ein. „Der Hansel-Mieth-Preis ist der Hidden Champion unter den Journalistenpreisen“, sagte der Journalist und Fernsehmoderator vorab. Und beschrieb die Reportergemeinschaft Zeitenspiegel Reportagen: „Reich sind diese Leute nicht geworden, aber offenbar glücklich.“

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Dann thematisierte Plasberg allgemeine Entwicklungen in Deutschland, er kritisierte einen von ihm ausgemachten Haltungsjournalismus, den „Wunsch, auf der richtigen Seite zu stehen, zum Maßstab journalistischen Handelns zu machen“. Als Beispiel führte der langjährige Moderator der Sendung „Hart aber fair“ den Fall Gil Ofarim an, in dem der Musiker Vorwürfe von Antisemitismus gegen Hotel-Mitarbeiter erhoben hatte – aber nun selbst vor Gericht wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung angeklagt ist.

„Haltung zeigen, das ist für mich ein Platzhalter geworden, um die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus aufzuweichen“, sagte Plasberg. Für den Journalismus „sollte es doch reichen, statt Haltung Anstand zu zeigen“. Plasberg appellierte, mehr auf das eigene Bauchgefühl zu hören, und plädierte für Lebenserfahrung. „Wenn bezahlter Journalismus eine Zukunft haben will, müssen wir für unsere gesteigerte Kreditwürdigkeit sorgen.“

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Der Hansel-Mieth-Preis ist mit 6000 Euro dotiert. Während der Veranstaltung las die Regisseurin und Intendantin Eva Hosemann rund ein Viertel der Siegerreportage vor. Als sie endete, war es für einen langen Moment still, dann brandete Applaus auf. Bei all diesen ernsten Themen gab es eine musikalische Begleitung durch den Abend, und zwar durch den beschwingenden Chor „rahmenlos & frei“ der Vesperkirche Stuttgart – mit Songs wie „Morning has broken“ und „Country Roads“, bei denen das Publikum am Ende kraftvoll mitsang.