Zeitenspiegel Reportagen

Mieth-Laudatio: Das Ethos des Indirekten

11.05.2011

Die große, die engagierte Reportage ist eine dokumentarische Kunst – eine in Zeiten des Schnell-Schnell-Journalismus und der Medienkrise gefährdete Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung. Warum wir sie brauchen, was sie leistet – Laudatio zur Verleihung des Hansel-Mieth-Preises 2011 von Zeitenspiegel am 5. Mai 2011 in Fellbach.

Von Bernhard Pörksen

Im Jahre 2006 ist in der ehrwürdigen Umgebung des Suhrkamp-Verlages ein kleines, äußerst boshaftes Buch des amerikanischen Philosophen Har-ry Frankfurt erschienen, das sofort zum Bestseller wurde. Es heißt Bullshit und beginnt mit folgenden Sätzen: „Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es soviel Bullshit gibt. Jeder kennt Bullshit. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei. Und doch neigen wir dazu, uns damit abzufinden. Die meisten Menschen meinen, sie seien in der Lage, Bullshit zu erkennen und sich vor ihm zu schützen, weshalb dieses Phänomen bislang wenig ernsthafte Aufmerksamkeit gefunden hat und nur unzulänglich erforscht ist. Das hat zur Folge, dass wir nicht sonderlich genau wissen, was Bullshit ist, warum es soviel davon gibt und welchen Zwecken es dient.“

Diese fehlende Aufmerksamkeit gegenüber dem Bullshit möchte dieses kleine Buch ändern. Es ist eine Abrechnung, das Dokument eines kalten Wutausbruchs, der sich als philosophische Begriffsanalyse tarnt. Worum geht es? Harry Frankfurt meint mit Bullshit einen verlogenen Originalitätswillen, dem es nicht auf Wahrheit ankommt; er meint eine Kultur bzw. Unkultur der Show, des Bluffs, der Inszenierung, des beliebigen Geredes um der Effekte willen. Ohne Erdung, ohne Realitätsorientierung, ohne Relevanz, ohne echtes Engagement. In der Welt des Bullshitters herrscht die Beliebigkeit, das modische Anything goes, das Interesse an wirksamen Illusionen und an starken, intensiv glitzernden Oberflächen, die nur unterhalten, aber nicht zum Begreifen und Durchdringen animieren sollen.

Sein Buch liest sich lustig, frech und klug – und doch bemerkt man, wenn man genauer liest, wenn man die Stimmung dieses kleinen Textes erfasst: Hier wird gerade über Ethik und Moral geschrieben, über Wahrheitsliebe, über die Abscheu vor dem Bluff, den Ekel vor der bloßen Staffage, der Inszenierung, der Show. Harry Frankfurt, und darauf kommt es mir hier an, erweist sich als ein Meister des Indirekten, als ein Prediger, der weiß, dass Predigten nicht funktionieren, als ein Moralist, der verstanden hat, dass explizite Moralisierung nicht klappt. Weil sie Abwehr erzeugt. Weil sie mit verdeckter Abwertung arbeitet und keinen Umweg zulässt. Weil sie eben gerade nicht berührbar macht, nicht durchlässig, nicht in einer irgendwie produktiven Art und Weise traurig, sondern eher ratlos und ärgerlich. An dieser Stelle kann ich förmlich hören, wie sich bei Harry Frankfurt schon wieder die Wut aufstaut und wie er mir zuruft: „No more Bullshit!“ Nun gut, ich bin soweit, ich taste mich voran, ich komme zum Thema.

Die Jury des Hansel-Mieth-Preises 2011 hat die Preisträger dieses Jahres ausgewählt. Ausgezeichnet werden die Autorin Susanne Krieg und der Fotograf David Gillanders für ihre Geo-Reportage über einen verfallenden, von Arbeitslosigkeit und Verzweiflung geschüttelten Stadteil im Osten Glasgows. Man wird hier, wenn man die still beobachtenden, über einen Zeitraum von drei Jahren entstandenen Bilder betrachtet, den Text liest, mit einer urbanen Hölle aus endlosen Fernsehtagen, Polizeieinsätzen und plötzlichen Gewaltexzessen konfrontiert, die eine erstickende Ereignislosigkeit für einen Augenblick der Aggression vergessen machen. Susanne Krieg und David Gillander erzählen am Beispiel. Am Beispiel der Familie von Paul Mann, 32 Jahre alt, arbeitslos in der dritten Generation.

Ausgezeichnet werden am heutigen Tage auch der Autor Markus Wanzeck und die Fotografin Kathrin Harms mit dem Gabriel-Grüner-Stipendium – ein Stipendium, dass es ihnen erlaubt, auch ohne den Auftrag und das Budget einer Redaktion eine Geschichte zu schreiben und zu fotografieren, die sie umtreibt und fasziniert: Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die als Kind in Deutschland adoptiert wird und in dem Glauben lebt, ihre leib-lichen Eltern seien tot. Eines Tages jedoch wird sie von ihrer für tot gehaltenen Mutter aus Nepal kontaktiert; eines Tages wird eine Sehnsucht spürbar, von der sie nicht wusste, dass es sie gab. Markus Wanzeck und Kathrin Harms werden noch in diesem Jahr Asna Maier nach Nepal begleiten – und die Geschichte einer Begegnung dokumentieren.

Überdies hat die Jury verschiedene weitere Reportagen in die engste Wahl genommen. Es sind Texte von einer archetypischen Aktualität, Sinnbilder eines Verlustes, einer Bedrohung, Erzählungen aus einer gefährdeten, ei-ner brüchigen Existenz. Ich würde mit Harry Frankfurt sagen: Es sind allesamt – und das ist mir wichtig, das macht die Verbindung zu diesem kleinen Buch offenbar – Anti-Bullshit-Texte, Formen der Präsentation, die sich einer authentischen, wahrhaftigen Darstellung verschrieben haben. Sie vereint das entschiedene Desinteresse an der Oberfläche; sie sind nicht glatt, sie sind nicht gefällig; sie berichten auf eine Weise, die schlicht und einfach weh tut. Zu diesen Texten gehört etwa die Ich-Reportage von Susanne Leinemann, die an einem Abend von einer marodierenden Gang von Jugendlichen in Berlin-Wilmersdorf fast erschlagen wird. Ich würde sagen, man kann ihre Geschichte nur ein einziges Mal lesen; und man muss einzelne Passagen ganz schnell und gleichsam nur aus den Augenwinkeln heraus überfliegen, um den Schrecken erträglich zu halten. Dann entdeckt man unter den ausgezeichneten Reportagen die Geschichte einer Familie von Milchbauern, die irgendwann die letzte Kuh abholen lassen müssen, weil sich ihr Leben, ihre Form der Existenz einfach nicht mehr lohnt – und die dann doch am Abend einfach wieder zur Melkzeit in den Stall gehen will, aber es ist eben kein Tier mehr da. Des Weiteren findet sich unter den Texten des Hansel Mieth-Preises 2011 das wunderbar stille Porträt einer Sterbenden, ohne falsche Sentimentalität, ohne die große These, ohne den Anlauf zur globalen Sinnstiftung. Und man sieht die Fotos von schwer Verletzten Palästinenserinnen und Palästinensern, die würdevoll und ohne alle agitatorischen Zusatzstoffe präsentiert werden, lernt das Schicksal von Christian Bredholt kennen, der seiner MS-Krankheit und dem langsamen Verlöschen seiner Kräfte jeden Tag durch einen Sprung in das eiskalte Meer zu entfliehen versucht – ein Meer, das seine versteiften Muskeln für ein paar Stunden entkrampft, ihn entspannt, ihm Momente der Lebendigkeit und der inneren und äußeren Beweglichkeit zurückgibt.

Damit komme ich – vielleicht etwas abrupt – zu der Kernthese meines kleinen Vortrags. Warum rede ich, so werden Sie sich vielleicht fragen, an dieser Stelle nicht über den Journalismus im allgemeinen? Warum erwähne ich Christian Bredholt im Meer und Susanne Leinemann auf dem Nachhauseweg in Berlin-Wilmersdorf? Warum mache ich Familie Breuninger mit ihren geliebten Kühen zum Thema, warum Paul Mann und warum den Tod von Dana Wenzke, die 33 Jahre alt wurde und dann auf so eine eigene Art und Weise aus dem Leben gegangen ist?

Ich würde sagen: Weil in der Konkretion, die eine gute Reportage auszeichnet, selbst eine Botschaft steckt, die nicht überwältigen will, aber e-ben gerade deshalb wirkt. Meine These lautet: In der Sprache und den Bildern der guten, der wirklich guten Reportage ist ein eigenes Ethos angelegt, ein Regelsystem aus Handwerk und Weltbeschreibung, das da heißt: Verzichte auf Großbegriffe! Sei genau! Respektiere die Nuance und nimm Dir Zeit! Mache im Mikrokosmos der kleinen Welten den Makrokosmos der großen Fragen erfahrbar! Warte auf den richtigen Moment für das stimmige Bild! Lasse die Botschaft, um die es geht, auf eine stille, eine skrupulöse Art und Weise hervortreten! Wähle den indirekten Weg und vertraue Deinen Leserinnen und Lesern! Sie werden schon verstehen und begreifen!

Entscheidend ist – und hier wird die Gattung der Reportage zur symbolischen Form und zum Reservoir der kritischen Auseinandersetzung: Ein solches Ethos steht quer zu einem Schnell-Schnell-Journalismus, pro-grammiert die Entschleunigung und wirbt implizit für einen Realismus mit klarer Relevanz. Ein solches Ethos verzichtet auf Plastikprominente und hektisch arrangierte, auf den schnellen Effekt hin getrimmte Bilder und verweigert sich der handelsüblich gewordenen Tendenz zur künstlichen Dauer-Erregung.

Warum ist dieses Ethos der Genauigkeit so wichtig, warum ist das journalistische Programm, für das Hansel Mieth, Gabriel Grüner und dieser Preis stehen, gerade in diesem Moment, in diesem Stadium der Medienentwick-lung so bedeutsam und zentral? Meine Antwort ist: Es geht hier um eine dokumentarische Kunst, eine Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, die inzwischen als gefährdet und bedroht gelten muss. In vielen Re-daktionen fehlt es an Geld und Zeit für die große Geschichte und die aufwendige Recherche. Für die herrliche Irrationalität des kreativen Experiments, das auch einmal schief gehen kann, für die Detailstudie und für die Langzeitbeobachtung, für die Allmählichkeit des genauen Verstehens, ist im real existierenden Journalismus heute nur noch sehr wenig Platz.

An dieser Stelle nur einige wenige Daten und Hinweise zur allgemeinen Situation – Schlaglichter der aktuellen Entwicklung: Deutsche Tageszeitungen haben in den letzten zehn Jahren etwa fünf Millionen Käufer verloren, zahlreiche Magazine sind vom Markt verschwunden oder ächzen unter der Anzeigenflaute und müssen die Preise erhöhen. Das Netz sorgt dafür, dass existenziell wichtige Einnahmen wegbrechen, Anzeigen abwandern, die nicht mehr zurückgewonnen werden können. Und die User sind (dies er-weist sich als nicht mehr korrigierbarer Fehler) längst an die Gratiskultur gewöhnt und wollen für hochwertige publizistische Angebote und damit auch für die große Reportage nicht mehr selbstverständlich bezahlen. Kurzum: Der Qualitätsjournalismus hat ein echtes Refinanzierungsproblem und droht seine Basis zu verlieren – ohne dass ökonomisch robuste Alternativen in Sicht wären, ohne dass sich das Trägermedium der Zeitung oder der Zeitschrift einfach austauschen ließe und man mit ein paar Multimedia-Slides auf einer Website echte Abhilfe oder ernst zunehmende Alternativen schaffen könnte.

Gleichzeitig regiert in der Branche eine längst kontraproduktiv gewordene Lust an der Apokalypse und ein modernisierungshungriger Opportunismus, der das Medium des Gedruckten und die mit ihm eng verbundene Kultur der allmählichen, der notwendig verzögerten Produktion und Reflexion vorschnell verloren gibt. Der Printmarkt wird längst als „Dead Tree Industry“ verspottet. Der Medieninvestor David Montgomery hält das ge-samte Business inzwischen – ich zitiere – für eine „sinnlose, egoistische Obsession mit toten Bäumen.“ „Wozu noch Zeitung?“, fragt man sich in einer ganzen Serie auf der Medienseite der Süddeutschen Zeitung. Um dann gleich mit der nächsten Serie fortzufahren – diesmal mit dem Titel: „Wozu noch Journalismus?“ Das ist in etwa so, als ob ein Gärtner seinen Leuten die Frage entgegen schleudert: „Wozu noch Blumen? Warum noch Pflanzen?“

Blogger und Medienjournalisten und auch Medienwissenschaftler überbieten sich inzwischen wechselseitig in ihren oft euphorisch-brüllenden Prognosen, wann die letzte Zeitung gedruckt wird – und sie übersehen dabei: Noch gibt es kein publizistisches Forum, das in ähnlicher Weise Themen von allgemeiner Relevanz auf die Agenda zu setzen vermag, sie überhaupt professionell auszuwählen und publikumsgerecht zu arrangieren verstünde. Deshalb muss man ihnen entgegen halten: Der Qualitätsjournalismus der Zeitungen und Zeitschriften wird – trotz aller sehr realen Schwierig-keiten – gegenwärtig viel zu leichtfertig und viel zu früh ins Grab geredet. Und die Allianz der Grabredner, die sie da versammelt, ist mehr als kurios.

Und ich möchte hinzufügen: Wir müssen – aus meiner Sicht – die gesamte Debatte über die Zukunft der Printmedien und des Journalismus im allgemeinen aus ihrer rein ökonomisch bestimmten Umklammerung befrei-en, uns als Gesellschaft über den kulturellen Wert des Gedruckten, den kulturellen Wert der großen, der aufwändig gemachten Geschichte und Reportage verständigen. Diese Frage darf – bei allem Respekt – nicht den Controllern in den Medienunternehmen überlassen bleiben; sie sind mit ihr unvermeidlich überfordert. Es kann gar nicht mehr nur darum gehen, was Qualitätsjournalismus kostet und ob am 17. Januar 2043 tatsächlich die letzte Zeitung gedruckt wird, ob das Netz alle Medien schluckt und David Montgomery Recht behält. Es geht um etwas anderes – es geht um den Schutz des kulturellen Kapitals, das Journalistinnen und Journalisten, Fo-tografinnen und Fotografen auf ihren Streifzügen durch die Welt erarbeiten.

In einer Phase echter ökonomischer Schwierigkeiten, in einer Phase der brancheninternen Selbstzerknirschung und der vorschnell herbei geredeten Untergangsszenarien braucht es vor allem eines: Ermutiger, die unsere Perspektive erweitern, die eine gefährliche Blickverengung durch die Kraft des Gegenbeispiels auflösen. In einer solchen Phase braucht es Schutzzonen und Oasen für Experimente, braucht es Preise und Qualitätszirkel, die immer wieder neu beweisen, was eben doch machbar ist – und was auf dem Spiel steht, welchen Schaden sich diese Gesellschaft zufügt, wenn sie auf diese Möglichkeiten der Selbstbeobachtung leichtfertig verzichtet, wenn sie diese Formen, sich selbst zu sehen, sich selbst zu spüren und mit den Ausgestoßen in Kontakt zu kommen, nicht mehr pflegt und sich nicht mehr leisten will.

Insofern hat der heutige Abend eine eigene Symbolkraft, die über die Stunden dieses Festes hinausweist. Insofern besitzen der Hansel-Mieth-Preis, das Gabriel-Grüner-Stipendium der Agentur Zeitenspiegel und das Engagement der Stadt Fellbach einen doppelten Wert: Sie zeichnen herausragenden Journalismus und eine herausragende fotografische Leistung aus, das ist das eine. Und sie lenken die Aufmerksamkeit auf das gefährdete Kulturgut des Qualitätsjournalismus und der großen Reportage, das ist das andere. Solche Preise und solche Feste werben für das Ethos des Indirekten und eine Form der genauen Gesellschaftsanalyse, die unterschiedliche Sphären und unterschiedliche Schichten miteinander in Kontakt bringt. Sie verhelfen der Gegenwelt des Authentischen im Moment ihrer Bedrohung wieder zu ihrem Recht. Harry Frankfurt, der Philosoph aus Amerika, hat Recht: Bullshit gibt es wirklich genug.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt veröffentlichte er – gemeinsam mit Wolfgang Krischke – das Buch Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien.