Zeitenspiegel Reportagen

Rede von Harpprecht zum Mieth-Preis

18.05.2012

Zur Verleihung des diesjährigen Hansel-Mieth-Preises hielt der renommierte Publizist Klaus Harpprecht die Laudatio. Hier seine Rede vom 3. Mai 2012 in Fellbach:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Damen und Herren. Um dies vorweg zu gestehen: der Tagungsort Fellbach hätte genügt, mich aus der Frühlingssonne des midi zu locken, um hier einige passende Worte zu sagen, denn ich bewundere seit langem, welchen Reichtum an kulturellen Ereignissen diese kleine – nein, verzeihen Sie, mittelgroße Stadt ihren Bürgern und den durchziehenden Fremden bietet. Fellbach beweist aufs schönste, wo die Wurzeln deutscher und gottlob nicht mehr nur-deutscher oder gar teutonischer Kultur zu suchen sind: in den Gemeinden, den Städten, den Regionen – in der föderalen Tradition, die wir zu unserem Unglück ein braunes Jahrtausend lang unterdrückt hatten – und nicht in einer nebulösen Berliner „Leitkultur“, die keine klareren Umrisse gewinnt, wenn uns der Begriff schwäbisch-breimäulig in die Ohren geschmiert wird, weil man ja seit neuestem „in Europa wieder deitsch spricht“. Wilhelminischer Flachgeist spukt noch immer in der Hauptstadt umher, samt den simplistischen Lockungen des preußischen Zentralismus.

Es ließe sich noch ein anderes, eher persönliches und ein bisschen eitles Motiv für meine Willfährigkeit nennen: zehn Kilometer von hier, in einer halb vergammelten Flakbaracke, begannen vor beinahe sechseinhalb Jahrzehnten meine journalistischen Lernjahre (die bis heute nicht abgeschlossen sind): für den kleinen Volontär, der sich die Hacken abgelaufen hatte, um seine ersten Geschichten bei irgendeiner Redaktion anzubringen (vergebens, das versteht sich), nebenbei Vorlesungen hörte, die nicht alle langweilig waren, und am schwarzen Markt Geld genug verdiente, um sich gelegentlich ein Stück Speck und ein halbes Dutzend Ami-Zigaretten – also: den schieren Luxus - leisten zu können. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich eines Tages vor den Toren von Stuttgart das Vorwort zur Verleihung eines hoch angesehenen Journalisten-Preises und eines wichtigen Stipendiums aufsagen dürfte.

Die Bände freilich, die Sie mir zur Vorbereitung meiner kleinen Rede geschickt haben, trieben mir sehr rasch den Anflug von autobiographischer Eitelkeit aus. Bilder und Texte holten mich aus den sentimentalen Erinnerungen eines Veteranen in die Realität der Gegenwart zurück. In die Realität der fremden Schicksale, die so oft Konzentrate des Elends der Menschheit sind. Des Elends der Kriege und der ganz „normalen“ Armut in Afrika, in Lateinamerika, in Asien. Auch in Nordamerika, das niemals nur das gottgesegnete Land ist, das von den glücklichen seiner Kinder gepriesen wird: von den Schatten zeugten die Reportagen von Hansel Mieth in „Life“, der großen Bildreporterin, die dem Preis seinen Namen gab. Elend auch in Europa, das den Sozialstaat erfand, nicht bloß im befreiten Osten, zum Beispiel bei den Kanalkindern von Bukarest. Armut, die sich – trotz allen Fortschritts – als ein immer höher wachsendes Gebirge vor der Menschheit aufzutürmen scheint, keineswegs überwunden im rotkapitalistischen China mit seinen hundert oder zweihundert Millionen Wanderarbeitern, trotz der strotzenden Verkaufserfolge von Mercedes, Audi und BMW und was sonst noch teuer ist, erst recht nicht in Indien, dessen Bevölkerung ungebremst wächst – angeblich die größte Demokratie der Welt samt Kastensystem, wenigstens einem Drittel Analphabeten, wenigstens einem Drittel Demokraten, das unter dem Existenzminimum vegetiert.

Natürlich ist die große Reportage nicht dazu verurteilt, nur die Not- und Sündenbücher der Menschheit zu füllen. Es gibt keine Themen und keine menschlichen Beziehungsfelder, die sie nicht erobern könnte – sogar das Glück, das freilich den Nachteil hat, rasch blass zu werden und zu langweilen. So oder so: die Reportage konfrontiert uns mit den Wirklichkeiten. Sie redet uns nicht ins Gewissen (das unterscheidet sie vom Leitartikel). Aber sie erinnert uns daran, dass wir eines haben. Haben sollten. Damit sollte es nicht getan sein. „Mitleid ist das erste Unrecht“, sagte die kluge Hansel Mieth. Manche der wichtigen Reportagen setzten sich – ohne Mahnung der Autoren – in materielle Hilfe um. In die humane Tat. Vielleicht sogar in eine Änderung der Verhältnisse. Das ist allemal der schönste Lohn, der Journalisten zuteil werden kann.

Ob in Wort oder Bild: die Reportage ist, nach meiner Einsicht, die höchste Form des Journalismus, den ich – wohl nicht als einziger – den schönsten und den schrecklichsten aller Berufe genannt habe. Und den schwierigsten. Die Mühsal der Recherche, nicht nur vor Ort, sondern auch in den Archiven, in denen so oft die Wahrheit einer Begebenheit vergraben ist, die zu finden, nicht nur die Geduld des Archäologen, sondern einen kriminalistischen Spürsinn verlangt. Die Recherche „vor Ort“. Die Beobachtung des Dramas, das sich immer wieder in den Zonen der Gefahr für Leib und Leben vollzieht: die in Ihren Bänden angezeigten Reporter-Geschicke beweisen es auf bewegende Weise. Die Passion, die der Beruf verlangt, wird in der Kriegs-, der Konflikt-Reportage gnadenlos geprüft. Der Mut. Die Zuverlässigkeit bei der Arbeit im Team. Auch die Vernunft, die von Tollheiten abrät.

Manchmal fordert die unstillbare Neugier – die andere Grundvoraussetzung des Berufes – auch nur die ruhige Beobachtung des Alltags. Nur? Die Entdeckung der Besonderheit, die sich in jeder Alltäglichkeit verbirgt, verlangt von den Autoren und den Photographen die höchste Sensibilität. Die im Glücksfall zur Kunst wird: zur Reportage, die Literatur ist, zum Photo-Essay, dem wir hernach bei Ausstellungen begegnen mögen, seit es sich herumgesprochen hat, dass die Photographie hohe Kunst sein kann. Ohnedies halte ich die in Deutschland immer noch übliche Unterscheidung von Journalismus und Literatur, von Journalismus und Kunst für schieren Krampf. Manchem unserer Roman-Autoren wünschte ich, er hätte das Handwerk der Beschreibung in journalistischen Diensten gelernt.

Journalismus ist, schrieb ich an anderer Stelle, die Chance, viele Leben zu leben. Gibt es einen anderen Beruf, fragte ich, in dem Passion und Plaisir so nahe beieinander wohnen, allzu oft auch in der Nachbarschaft des Todes, öfter an der Tür zum Paradies, zur schieren Lust am Leben. Es ist ein Beruf, der dankbar macht.

Ach, der Dank beginnt mit dem Glück, seine Arbeit gedruckt zu sehen – ein Glück, das sich auch noch dem alten Handwerker mitteilt (und davor die Angst, nicht gut genug geschrieben und photographiert zu haben, die uns niemals verlässt). Gedruckt, sagte ich. Ich weiß nicht, ob sich ein gleiches Glück durch die Präsentation unserer Arbeit im Internet mitteilt. Das mag eine Generationsfrage sein. Ich selber glaube nicht, dass die Wirkung am Bildschirm die gleiche Intensität gewinnt wie die Betrachtung bedruckter Seiten. Mag mich täuschen. Doch ich bin davon überzeugt, dass das Zeitalter Gutenbergs nicht zu Ende geht. Die Magie des bedruckten Papiers erschöpft sich nicht so rasch.

Dennoch, es steht derzeit nicht gut um unser Gewerbe, das noch keine verlässliche Strategie entwickelt hat, der elektronischen Revolution zu begegnen. Sie lässt sich nicht aufhalten. Aber wir müssen Wege zu einer vernünftigen, vielleicht sogar produktiven Ko-existenz finden. Vielleicht wird die elektronische Publizistik eines Tages eine Art Mäzenatentum für die gefährdete Gutenberg-Konkurrenz übernehmen. Das setzte die Einsicht voraus, dass das gedruckte Wort, das gedruckte Bild eine Kultur bewahren, die durch die Elektronik nicht zu ersetzen ist. Das schön gebundene Buch à la „Anderer Bibliothek“, die sorgsam komponierten Bildbände, die mit solch bewundernswerter Nuanciertheit gedruckt werden, aber auch die altmodische Qualitäts-Zeitung, die anspruchsvollen Zeitschriften werden überleben, gewiss in veränderter Form – aber sie werden in einem halben Jahrhundert, womöglich einem ganzen noch existieren. So rasch rennt die Menschheit Gutenberg, Luther, Calvin, der St. James-Bible nicht davon. Die Zeitungen von hoher Qualität werden, kein Zweifel, teurer sein als heute (und womöglich besser), vielleicht hält sich auch eine gewisse Boulevard-Presse, deren einziger moralischer Auftrag es ist, die Qualitäts-Blätter zu subventionieren, und es werden einige regional fest verwurzelte Zeitungen weiter bestehen.

Die Rettung setzt freilich voraus, dass sich alle Beteiligten in einem neuen Geist der Solidarität zusammenfinden – im besten Fall mitsamt den Aktionären, aber auch gegen die Aktionäre, wenn es nicht anders geht. Ich wiederhole hier einen Vorschlag, den ich aus Anlass der Verleihung des Theodor-Wolff-Preises schon einmal präsentiert habe. Er fand ein meist positives Echo bei den Kollegen – und er stieß bei den Verlegern und Managern auf ein kollektives Schweigen, das nicht so rasch gebrochen wird - darüber keine Illusionen.

Die Einkommensschere klafft sperrangelweit, auch in unserer Zunft, und sie ist nicht immer durch Leistung und Talent gerechtfertigt. Tarifpolitische Regulierungen können die geforderte Solidarität nicht herbeizwingen. Sie sollte innerhalb der Betriebe, der Konzerne, vielleicht auch in regionalen Bereichen verabredet werden. Das Verfahren wäre einfach: wer das Glück hat, zwischen dreihundert Tausend und fünfhundert Tausend Euro im Jahr zu verdienen, zahlt in die Solidaritätskasse fünf Prozent des Gehaltes ein, zwischen einer halben und einer ganzen Million zehn Prozent, bis zu zwei Millionen zwölf Prozent, von dieser Stufe an fünfundzwanzig Prozent. Mit den verbleibenden Bezügen lässt sich immer noch ganz hübsch leben und sogar ein Häusle bauen.

Der Gewinn aus dem Solidaritätsfond dient der Aufstockung der Honorare zu einem Normalsatz von zwei Euro pro Zeile und – ich weiß nicht wie viel pro Bild. Ferner der Anhebung der niederen Redaktions- und Sekretariatsgehälter zu einem Stand, der sich nach der Kaufkraft im Jahre 1989 errechnet. Er hilft bei der Korrektur einer unverantwortlichen „Ausdünnung“ der Redaktionen und der Technik. Er unterstützt die Einrichtung von „Kitas“, die es den Kolleginnen mit Kindern ersparen, sich in eine Halbtagsarbeit abdrängen zu lassen. Entsprechende Regelungen sollen für die Öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten gelten, dabei die sogenannten Quotenkönige und vor allem ihre lukrativen Produktionsbetriebe nicht schonend. Dringend verlangen die brutal gekürzten Radio-Honorare eine Aufbesserung. Der Ausbeutung kleiner Produktionsfirmen müssen Grenzen gesetzt werden. Nebenbei: Parteien und Regierungen sollten aus den Gremien verschwinden – und dies besser heute als morgen.

Bitte diskutieren sie diese Vorschläge – und, das versteht sich, andere, vielleicht bessere Ideen. Verlieren Sie keine Zeit. Fordern Sie, wenn es nicht anders geht, Abstimmungen in den Betrieben und Konzernen. Nicht mehr und nicht weniger als das Geschick der seriösen Medien steht zur Debatte – mithin Ihr eigenes Geschick, ob Verleger, Manager oder Journalisten. Danke, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, dieses offene Wort noch einmal zu sagen. Dank fürs tolerante Zuhören. Dank fürs kleine deutsche Solidarnosz – wenn es denn zustande kommt.