Zeitenspiegel Reportagen

Afrikas entschlossene Kinder

Erschienen in "Berliner Zeitung Magazin", 22./23. August 2015

Von Autor Jan Rübel

Mehr als die Hälfte der Einwohner Ugandas ist unter 18. Ein Land voller Menschen, die ihre Träume verwirklichen wollen - und wissen, dass Staat und Wirtschaft ihnen dabei nicht helfen werden. Also nehmen sie die Sache selbst in die Hand.

Zur Zukunft Ugandas führt ein sandiger Weg. Holzhütten reihen sich entlang der Piste aus rostrotem Staub, doch die kleinen Wolken, die jeder Schritt aufwirbelt, sieht man in der Abenddämmerung kaum. Die Dunkelheit kommt schnell, keine Laternen beleuchten die Straße in Makerere, einem Viertel auf einem der sieben Hügel Kampalas, der Hauptstadt Ugandas. Dann, nach langer Strecke, das erste Haus aus Ziegelsteinen. Joshua Okello, 26, öffnet ein Metalltor. „Wir sind vor kurzem eingezogen“, sagt er und zeigt auf den ersten Stock. „Willkommen in unserem Labor.“

Hinter der Treppe erstreckt sich ein dunkler Raum, erhellt von sechs Computerbildschirmen. Vor einem sitzt Edmund Aynebiona, 25, er bastelt an der Grafik einer neuen Website. „Zu minzgrün“, murmelt Joshua Okello im Vorbeigehen. Das „Labor“ ist Herzkammer von cipher 256, einem kleinen Start-up in der Millionenmetropole. Dahinter schließen eine Küche, Okellos Schlafzimmer und ein Raum „zum Chillen“ an, „da spielen wir auf der X-Box“. Die Firma ist eine von vielen winzigen Internetfirmen, die gerade das Land verändern – allesamt betrieben von jungen Leuten. Die Möglichkeiten der neuen Technologien scheinen in Uganda besonders verheißungsvoll. Sie versprechen eine Perspektive da, wo sonst keine ist. Uganda ist jung. 56 Prozent aller Einwohner des Landes sind unter 18 Jahren und 78 Prozent unter 30 Jahren – im Vergleich zu Deutschland eine Art krasses Gegenteil demografischen Wandels. Zwar erlebt der ostafrikanische Staat seit 2002 ein jährliches Wirtschaftswachstum von rund 6,4 Prozent. Aber jede Frau bringt im Schnitt sechs Kinder zur Welt. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Einwohnerzahl von 38,8 Millionen auf 104,1 Millionen fast verdreifachen. Das hat Folgen. Denn die jungen Leute treffen auf einen Staat mit starren Strukturen, seit 1986 regiert Youweri Museveni autoritär. Das verleiht Uganda Stabilität, aber führt auch zuKasten, die ihre Privilegien verwalten. Die afrikanische Entwicklungsbank schätzt die Jugendarbeitslosigkeit in Uganda auf 86 Prozent. Für die jährlich 40?000 Absolventen der Universitäten hält der Arbeitsmarkt 8?000 Stellen bereit. Sollte das Land einen wirklichen Aufschwung nehmen, bräuchte es ein Wirtschaftswachstum, das dreimal so hoch ist wie das Bevölkerungswachstum.

Das Handy von Edmund Aynebiona klingelt. Er hebt den Daumen. Ein neuer Kunde, eine Möbelfirma bestellt ein Bezahlsystem für ihre Website. „Kriegen wir das in der Zeit hin?“, fragt Okello mit Blick auf die Auftragslage. „Holen wir einen Programmierer hinzu“, schlägt Edmund Aynebiona vor.

60 Kunden hat die kleine Firma. Mit dem Design von Internetseiten und Webhosting, also der Bereitstellung von Speicherplatz, verdienen sie jetzt ihr Geld, bald hoffen sie das auch mit den Apps zu tun, die sie entwickeln. Gerade sitzen sie an einer zum Anmieten von Motorradtaxis – den wahren Fortbewegungsmitteln im stets vor einem Verkehrsinfarkt stehenden Kampala. Nur Motorräder können sich durch die Staus schlängeln; auch gibt es viele Gassen, durch die kein Auto passt. Allerdings sterben in Kampala jeden Tag 20 Fahrer dieser Boda-Boda genannten Taxen im Verkehrschaos – oder ihre Gäste. „Wir nehmen nur Fahrer in unsere App auf, die in defensivem Fahren geschult sind“, sagt Okello. „Und die einen zweiten Helm für ihre Passagiere haben.“ Per GPS kann man sie orten. „Unsere Boda-Bodas sind teurer, aber dafür sicherer.“

Apps genießen in Uganda den Ruf von Allheilmitteln. Sie zu programmieren ist ein Volkssport geworden. Uganda gilt zwar nicht wie Kenia als Silicon Savannah, nicht wie Lagos als Silicon Lagoon. Aber die Hauptstadt Kampala holt auf, und zwar gewaltig: Die Region gehört zu den am stärksten wachsenden Märkten für Mobiltelefone, Tablets und Laptops südlich der Sahara. Seit Kenia vor fünf Jahren 17?000 Kilometer Glasfaserkabel im Meer verlegte und Ostafrika so mit dem Internet Europas und Asiens verband, surft man in Kampala schneller als in vielen Straßen Berlins. Das Internet ist Teil des Alltags geworden, und Apps sollen die fehlende Infrastruktur überbrücken: Jobbörse? Aktuelle Marktpreise für Getreide? Wo ist der Stau am schlimmsten? Das Netz dirigiert.

Die Ausgangslage für junge Leute schildert Okello so: „Wir alle suchen Arbeit, die es nicht gibt. Also sind wir gezwungen, unsere Jobs selbst zu schaffen.“ Okello und Aynebiona zahlen sich 120 Dollar im Monat aus, das reicht zum Leben. Die vier, fünf Grafiker und Programmierer erhalten projektbezogenen Lohn, zwölf bis 20 Prozent der Gewinne.

Alle zusammen haben sie einen Traum, den sie „Winsenga“ nennen. Okello stöpselt ein Mikro an sein Handy, hält es in die Luft. „Das wird unser Durchbruch. Irgendwann.“ Die Idee kam ihm vor ein paar Jahren, als er hörte, wie viele Totgeburten es in Uganda gibt. „Oft liegt es daran, dass ärztliche Hilfe nicht rasch erreichbar ist.“ Es müsste doch eine Technik geben, die, wenn nötig, den Arzt ersetzt, dachte er . Die Lösung: Eine Art Stethoskop wird an ein Smartphone angeschlossen. Die Kombination aus Hardware, Software und App ermöglicht es, den Herzschlag von Embryos jederzeit und überall zu überprüfen. Mit der Arbeit überzeugten Okello und Aynebiona 2012 beim Imagine Cup, einem Technologiewettbewerb von Microsoft – und erhielten 50?000 Dollar für die Entwicklung. „Wir sind mit der Summe sehr sparsam umgegangen“, sagt Okello. „Wir wollen nicht das Rad neu erfinden. Eher modifizieren wir existierende Technologien, um alte Probleme zu lösen.Winsenga – „Win“ steht für „Windows“, Fenster, und „Senga“ für „Tante“ in der ugandischen Sprache Luganda – ist noch nicht im Einsatz. Für den Feinschliff benötigt (weg) fehlt noch das Knowhow von Toningenieuren, die gibt es in Uganda aber nicht. „Und die aus dem Westen können wir derzeit nicht angemessen bezahlen.“

Überhaupt, die Finanzierung: Banken haben die rasante Entwicklung des Internets wenig nachvollzogen; Kredite an die Start-Ups ihres Landes vergeben sie kaum. „Ich traf einmal Präsident Museveni bei einer Ausstellung“, erinnert sich Joshua Okello. „Er sagte: „Ruf mich an, wenn ihr den ersten Computer selbst gebaut habt“.“ Dem Staat scheint es bei der Förderung neuer Technologien mehr um nationales Prestige zu gehen als um konkrete Schübe für den Arbeitsmarkt. Während zum Beispiel Gründerkredite für die Regierung ein Fremdwort sind, will sie 350 Millionen Dollar in die Entwicklung eines Elektroautos stecken; die Zukunft dieses Projekts ist mehr als ungewiss. Doch ein Auto erscheint wohl greifbarer als die virtuellen Weiten des Internets.

Dabei sieht man es überall. „Fastest net ever“, das schnellste Netz alles Zeiten, wirbt ein lastwagengroßes Plakat für ein Telekommunikationsunternehmen. Oder: „I live life online“, ich lebe mein Leben online. Ostafrika überspringt bei seiner digitalen Revolution ein paar Etappen, Computer bleiben abseits, das Internet findet in Uganda zu 95 Prozent auf dem Handy statt. Wer nie ein Bankkonto oder einen Festnetzanschluss hatte, bezahlt nun die Stromrechnung mobil, oder die Schulgebühren. Längst haben mobile Zahlungssysteme konventionelle Bankkonten hinter sich gelassen – rund 17,6 Millionen Menschen nutzen sie in Uganda. Und der Markt wächst. Im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas gibt es rund 635 Millionen Mobiltelefonbesitzer, in gut vier Jahren sollen es 930 Millionen sein.

Für ihre tägliche Verabredung brauchen Sarah Birungi, Roger Kiwanuka und Sewat Sharif kein Handy – der Termin steht, sechs Uhr unterm Mangobaum. Dort, auf einem Hügel in Kajjansi, einem Vorort Kampalas mit Blick auf den Viktoriasee, beginnen sie den Feierabend. Zuerst vergleichen sie ihre Tageseinahmen. Sarah Birungi hat eine Korbtasche verkauft, aus selbst geknüpftem Plastik, für 10?000 Schilling. Das sind drei Euro. Roger Kiwanuka hat Gemüse verkauft, 15?000 Schilling, und Sewat Sharif hat mit seinem Boda-Boda 30?000 Schilling eingefahren. „Drehen wir noch eine Runde in Kajjansi, mit ein paar Kondomen?“, fragt die 19-jährige Sarah. Sewat, 24, steigt langsam vom Motorrad. „Lasst uns heute einfach nur fernsehen“, sagt er müde. Manchmal, wenn sie nicht zu erschöpft sind, streifen sich die drei weiße T-Shirts über, gehen von Haus zu Haus und verteilen Kondome an die Bewohner, reden über Verhütung und darüber, wie man sich mit dem HI-Virus anstecken kann. Die Aufklärungsarbeit machen sie als Mitglieder eines Jugendclubs, in dem sie sich auch kennengelernt haben. Drei Gleichgesinnte, die genug hatten von dem Graben, der sich auftat zwischen ihren Träumen und dem, was die Gesellschaft ihnen bot. Von den Traditionen, die ihnen nicht halfen, sondern lediglich einen Platz zuwiesen: Junge gehorchen den Alten, Frauen den Männern. Sie sind so viele in diesem Land, woanders sagt man zur Jugend auch schon mal: Randgruppe. Hier in Uganda prägt sie das Bild. Und tut sich schwer mit ihren Vorstellungen vom Leben.

Tagsüber verdienen Sarah Birungi, Roger Kiwanuka und Sewat Sharif auf eigene Faust ihr Geld. Abends treffen sie sich, reden, träumen. „Wir wollen etwas neues starten“, sagt Roger, 23, „es gibt so viele Bevormundungen“. Da gebe es den Druck, früh zu heiraten, rasch einige Kinder zu kriegen. „Das verbaut einem die Berufschancen“, sagt Sarah, „ich will noch nicht heiraten“.

In Uganda erscheinen Kinder als eine nötige Altersvorsorge. Nicht die Rente versorgt die Alten, sondern der Nachwuchs. Die Bevölkerung wächst aber so schnell, dass das Land trotz der vielen jungen, arbeitsfähigen Menschen weit von einem so genannten demografischen Bonus entfernt ist: Der ergibt sich, wenn es mehr Arbeitsfähige als Kinder und Alte gibt. China kam so zu Wohlstand. Auch Südkorea oder Deutschland. In Uganda, so erzählen es Sarah, Roger und Sewat, sind die Jungen nicht nur auf sich allein gestellt. Sie müssen nicht nur ihr Berufsleben selbst planen, sondern auch gegen Widerstände ihre Zukunft in einer Familie – ob und wann sie Kinder kriegen wollen, wie viele. „Je mehr wir selbst für uns entscheiden“, sagt Sewat Sharif „umso besser“. Die Aufklärungsarbeit in den Dörfern gehört zu dieser Selbstbefreiung. Damit ecken sie an, manchmal würden sie vertrieben, sagt Roger und lächelt. „Aber das schweißt uns zusammen. Und wir haben das Gefühl, etwas Sinnvolles zu machen.“

Heute aber ist Abhängen abgesagt. Sewat schlendert zum Fernseher, den das lokale Gesundheitszentrum dem Klub spendiert hat. Dessen Arbeit hat einst die deutsche Stiftung Weltbevölkerung angeschoben. Sie werden ihn unterm Vordach des Zementbaus aufstellen, dazu ein paar Plastikstühle. Ein Fußballspiel aus England wird übertragen. Sewat greift zum Handy und ruft Freunde eines anderen Klubs an – die haben sich zusammen getan und betreiben gemeinsam einen Friseursalon und einen Hühnerstall. „Kommt vorbei“, lädt er ein.

Am nächsten Tag rückt Solomon King Benge seine schwarze Hornbrille zurecht. Er schaut etwas unschlüssig, aber das tut er immer. Was er dagegen sagt, klingt umso handfester: „Die Jugend wird dieses Land auf den Kopf stellen. Noch scheinen die Gesellschaftsstrukturen wie in Stein gehauen, aber vieles wird sich ändern.“ King ist einer, dem man zuhört in der Internetgemeinde Kampalas, er ist einer ihrer Pioniere. „Auch ohne Bildung und Geld streben die Jugendlichen in die private Wirtschaft, versuchen irgendetwas.“ Mit ähnlichem Entrepreneurgeist in Europa, vermutet er, würde man weit kommen.

King ist das auch in Uganda gelungen. Mit Anfang 20 gründete er seine erste Firma, zwölf Jahre ist das her. Heute hat er drei Firmen, eine für Multimedia-Arbeiten, eine für Weblösungen und ein Eventportal. „Das Internet zog mich einfach an, es hatte magnetische Kräfte.“ Er drückt seinen schmalen Rücken in den schwarzen Bürostuhl. Ein Schreibtisch, ein Laptop, mehr gibt es hier nicht.

Eigentlich sollte Solomon King Benge Elektrotechnik studieren. Die Schulnoten reichten nicht für ein Stipendium, aber an die Uni sollte der Sohn eines Buchhalters schon. Doch dann waren da sechs Monate Ferien vor Studienbeginn. „Ich arbeitete in einem Internetcafé, sog vieles auf.“ Irgendwann blieb er auch nachts, entdeckte Blogs, all die Möglichkeiten sich kreativ auszudrücken. Nach dem ersten Semester schmiss er hin, „ich wollte direkt in die Weiten des Internets“. Überhaupt sei das Netz ein einziger globaler Gleichmacher. „Irgendwann werden auch unsere Politiker merken: Irgendwo da draußen im Internet sind die Antworten auf Fragen, die wir erstmal formulieren müssen.“

Bis dahin aber sei es noch ein langer Weg – für die alte Kaste. „Wir Jungen haben uns längst abgewendet, wir erwarten von der Politik nichts mehr.“ Apathie beherrsche die Agenda, „das Gefühl wächst, dass die eigene Stimme keinen Einfluss hat“. In Uganda, so scheint es, driften Jugend und Politik auseinander. Zwar habe selbst Staatschef Museveni einen Twitter-Account. „Aber die zuständige Behörde drohte erst vor kurzem, die Sozialen Medien zu schließen – wegen Nacktfotos. Dabei wissen die gar nicht, was alles Soziale Medien sind.“ Den Aufbruch jedenfalls, den das Land erlebe, werde nichts mehr aufhalten.

Dazu werden auch Fehler und Misserfolge gehören. „Eine App für Boda-Bodas?“, fragt King. „Mir fallen auf Anhieb vier Apps ein, die so was für Kampala anbieten wollen – das sind drei zuviel.“ Brillante Ideen gebe es zuhauf. Aber es mangele nicht nur an Geldgebern, sondern an nachhaltigen Geschäftsmodellen, an der Disziplin, eine Idee zu langfristigem Erfolg zu bringen. Solomon King Benge hat, abseits von Politik und Start -Ups, einen eigenen Weg gefunden, um der Jugend zu helfen: 2011 gründete er eine Initiative namens Fundibots. „Als Kind habe ich aus Elektromüll kleine Maschinen gebastelt. Das half mir, die Welt der Technik zu erobern.“ Bei Fundibots werden Kinder in Robotik unterrichtet, in Schulen und in Ferienlagern. „500 Kinder haben wir bisher direkt erreicht.“ Robotik fördere lösungsorientiertes, logisches Denken und zeige technologische Wege auf, kurz, „alles, was die neue Generation Afrikas an Problemlösern und Innovatoren braucht“.

Neben Solomon King Benges Büro lötet ein junger Mann an einem Schaltkreis, im Regal stehen Barbiepuppen auf Rädern, in der Ecke ein Rollstuhl mit Elektroantrieb, daneben alte Computer. „Eine Molkerei will die Temperatur in ihren Milchkesseln besser kontrollieren“, sagt Henry Masiriwa, „nun entwickeln wir ein Regelteil“. Der 22-Jährige hat vor zwei Jahren einen Fundibots-Workshop besucht. Nun schaut er hin und wieder vorbei und bastelt. Viele Kinder haben vor den Seminaren von Fundibots noch nie einen Computer gesehen. „Nach zwei Wochen fangen sie an, selbst Programme zu schreiben“, lächelt King.

Ugandas Jugend, so scheint es, hat ihr Leben selbst in die Hand genommen. Und die Zeit drängt. Vier demographische Megatrends hat der Soziologe Jack Goldstone ausgemacht, welche die Geschicke der Menschheit maßgeblich bestimmen werden. Erstens wird die Weltbevölkerung bis 2050 auf 9,2 Milliarden Menschen anwachsen. Zweitens wird bis 2050 die Zahl der über 60-Jährigen von heute 780 Millionen auf zwei Milliarden Menschen steigen. 80 Prozent dieser älteren Menschen werden in Entwicklungs- und Schwellenländern leben. Drittens wächst genau dort die größte Gruppe junger Menschen heran, die es jemals gab. Da es zunehmend schwieriger für sie wird, ihre Zukunftserwartungen zu erfüllen, erhöhen sich Frust und Gewalt; sie wandern dorthin, wo sie für sich mehr Zukunft sehen. Der vierte Trend schließlich ist die Urbanisierung. Bis 2050 wird die Menschheit zu über zwei Dritteln in Städten leben, ein großer Teil davon in Megacities in Schwellen- oder Entwicklungsländern.

Auch Slivia Alikoba würde am liebsten in eine Stadt ziehen. Mit 20 hat sie das Leben ja noch vor sich, sie hat einen Plan. Zuerst soll ein weiteres Ferkel her, dann noch eins und noch eins. Sie wird sie großziehen und dann verkaufen. Von dem Erlös und dem, was sie mit dem Verkauf von Pullovern verdient, will sie eine eigene Strickmaschine kaufen. Die, die vor ihr steht, darf sie nur benutzen, sie gehört ihr nicht. Alikoba fädelt blaue Wolle ein, insgesamt 34 Nadeln halten den Faden. Dann rauscht der Bogen der manuell betriebenen Maschine entlang einer Leiste und unten wachsen Reihen aus Maschen. „Vier Pullover mache ich in der Woche“, sagt Silvia Alikoba. Pro Sweater verdient sie 1?000 Schilling. Zu wenig, findet Alikoba.

Vergangenen November hat sie das Stricken mit der Maschine gelernt, hier im Women and Girls Empowerment Centre, kurz WOGE, nahe Jinja, einer Stadt im Südosten Ugandas. Nicht weit von hier entspringt die Quelle des Nil. Schon 1988 hatten sich die Frauen der umliegenden Dörfer im Kamuli-Distrikt zusammengetan, sie wollten etwas gegen ihre Armut und die Abhängigkeit von den Ehemännern unternehmen. Mit den Jahren haben sie einen kleinen Trainingsbauernhof geschaffen, Schulabbrecherinnen können hier zum Beispiel lernen, wie man Gemüse anbaut. Die Strickmaschine ist eine gemeinsame Investition in die Zukunft, mit ihr verdienen zehn Frauen wie Alikoba eigenes Geld. Es ist auch ein Schritt hin zu einem selbstbestimmteren Leben.

„Wir müssen preiswert sein“, sagt Alikoba, „sonst werden wir unsere Pullover nicht los“. Die Frauen von WOGE verkaufen jeden Sweater für 17?000 Schillinge. Ugandische Produkte sind im eigenen Land weniger angesehen als ausländische. Also müssen die Textilien billiger sein als die Konkurrenz aus China. Einige Schulen der Umgebung haben die Frauen von WOGE mit dem günstigen Preis überzeugt, sie beziehen die Sweater als Teil der Schuluniform von ihnen. Alikoba hält ein Wollknäuel fest in ihrer rechten Hand. „Es ist nicht viel Geld. Aber damit bezahle ich die Schulgebühren für meine Kinder und lege einen Grundstock an. Und ich bin es, die über dieses Geld verfügt. Nicht mein Mann.“

Silvia Alikoba war 15, als sie ihrem späteren Ehemann auf der Straße begegnete. Sie flirteten miteinander, wenig später wurde sie schwanger und verließ die Schule. Heute ist Alikoba 20 und hat vier Kinder. „Von Familienplanung hatte ich keine Ahnung“, sagt sie. Früher träumte sie davon, Krankenschwester zu werden; aber dafür müsste sie noch sechs Jahre lang die Schulbank drücken, „wer bezahlt das?“

Ihr Mann ist Bauer und Gelegenheitsbauarbeiter, aber von dessen Geld sehe sie kaum etwas, sagt sie. Eine Million Schillinge kostet die eigene Strickmaschine. Oder tausend Sweater. Silvia Alikoba hat sich auf einen langen Weg gemacht. Sie geht ihn Schritt für Schritt. „Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, sagt ein ugandisches Sprichwort, „war vor zwanzig Jahren. Die nächstbeste Zeit ist jetzt.“