Zeitenspiegel Reportagen

Der neue Nahe Osten

Erschienen in "Mut - Magazin für Lösungen", 2. September 2016

Von Autor Jan Rübel

Zwischen Tunis und Aleppo leisten Bürger Widerstand gegen Zwist und Krieg - gewaltfrei und demokratisch. Sie bauen an einem Orient, der anders ist als unser Klischee von ihm

Als sie ihren Vater geholt hatten und Rajaa Altalli sich dann vor ihren zweiwöchigen Besuchen im Gefängnis fragte, wie oft man ihm diesmal auf das gebrochene Bein geschlagen hat – da schwor sie sich, nie in die Öffentlichkeit zu gehen, nie in die Politik wie er. Da war sie zwölf und fühlte Ohnmacht. Wir sind so wenige, dachte sie.

Es war das Jahr 1991. Ihr Vater ein Kommunist in Syrien. Heute zündet sich Rajaa Altalli eine Zigarette an, während sie spricht, vieles muss gleichzeitig geschehen, denn ihren Eid hat sie gebrochen. „Als ich 2011 im Fernsehen die Bilder sah, da dachte ich: Wir sind so viele. Und so viele werden verhaftet.“ Eines ihrer beiden Smartphones liegt immer in der linken Hand, bereit für eine Nachricht. Rajaa Altallis Finger huschen übers Display, sie wirft langes schwarzes Haar in einem Ruck zurück – 2011 sah sie die Bilder der syrischen Demonstranten gegen das Regime Baschar al-Assads, da war an Forschen nicht mehr zu denken; sie unterbrach ihre Promotion in angewandter Mathematik an der Boston University und flog ihren Gedanken hinterher, die schon längst in Syrien und bei der „Arabellion“ waren. Und gründete in Gaziantep, 60 Kilometer von der Grenze Syriens entfernt, das Zentrum für Zivilgesellschaft und Demokratie in Syrien (CCSD) – ein Netzwerk von mittlerweile 5000 gewaltfreien Aktivisten im Land. Während der Bürgerkrieg kein Ende nimmt, halten diese Standhaften und Prophetinnen an der Zivilgesellschaft von heute fest und bauen an der von morgen. Altallis Leben gestaltet sich seitdem so verrückt wie der Nahe Osten gerade ist. Ihr Tagesrhythmus, die wenigen Stunden Schlaf und das Fast Food, das sie nebenbei isst - nichts folgt einer Ordnung. Nur die Bedürfnisse ihrer Freunde in ganz Syrien zählen.

Die arabischen Länder hat eine Verunsicherung erfasst. Alte Ordnungen werden in Frage gestellt. Manche zerfallen, und die Alternative zu ihnen ist oft keine Ordnung. Mittendrin agiert die Zivilgesellschaft. Frieden im Nahen Osten, das erscheint wie ein schlechter Witz. Und doch gibt es ihn, überall wird an ihm gearbeitet, man muss nur genauer hinschauen. In jedem Land der Region leben Menschen ihn vor, geben Vorbild und wirken mächtiger auf die Zeitläufte, als das Dröhnen der Waffen glauben lässt; der Frieden erwächst aus den Zivilgesellschaften des Nahen Ostens, noch nie waren sie so umkämpft wie heute, und noch nie waren sie so wichtig.

Die Aufbauer

In einem mehrstöckigen Betonbau Gazianteps drängen sich 25 junge Leute in den weitläufigen Büroräumen des Zentrums für Zivilgesellschaft und Demokratie. Laptop unterm Arm, laufen sie von Tisch zu Tisch, reden und lachen, rufen laut ins Handy – der Empfang in Syrien ist mal wieder schlecht. An einem kahlen Schreibtisch starrt Rajaa Altalli aufs Handy. Per What’s App spricht sie mit Muhammad aus Aleppo. „Das System hat die Castello Road eingenommen“, schnarrt es nach langer Pause aus dem Lautsprecher. Das System – so nennen die Aktivisten hier das Assad-Regime. Jeder von ihnen hier opponierte gegen die Diktatur, bis es ums eigene Leben ging und nur noch die Flucht blieb. Rajaa Altalli: „Das System hat auch woanders Interessen, vielleicht kann man schon verhandeln?“ Nach einer Weile Muhammad: „Noch fallen nur Bomben, wir müssen warten.“

Das Zentrum für Zivilgesellschaft und Demokratie gehört keiner Miliz an, es arbeitet in allen Teilen Syriens, ob in vom IS, vom Regime oder anderen militärischen Gruppen kontrollierten Gebieten. Vielerorts füllen die Aktivisten Löcher, die Kämpfer zuvor gerissen haben: Sie verhandeln lokale Waffenstillstände, bauen Verwaltungen auf und dokumentieren den Alltag der Zivilgesellschaft.

Nebenan rücken drei Mitarbeiter vor einem Bildschirm zusammen – eine Skype-Konferenz mit den Kontaktleuten aus der Idlib-Provinz. Es gibt drei verschiedene Verwaltungen in der Region, die Geburt eines Kindes etwa muss bei allen drei angemeldet werden, „das nervt“, sagt eine Stimme aus dem Computer. Die drei nicken. „Wir wissen, ihr denkt über eine Fusion nach“, sagt Omar vom Zentrum. „Aber bedenkt: Bei einem Zusammenschluss wird jene Verwaltung dominieren, die am wenigsten auf Toleranz und Vielfalt setzt“ – weil sie von einer entsprechenden Miliz mit entsprechender Macht kontrolliert wird. Zustimmendes Schweigen. Inmitten der Wirren des Bürgerkriegs ist diese Übersicht von großer Hilfe, die Altalli und ihre Mitstreiter über das gesamte Konfliktgebiet haben. Sie können vergleichen und abwägen, die Fragen, die in einem Landesteil auftauchen, mit den Erfahrungen aus einem anderen beantworten. Ihr Rat bewahrt vor Fehlern, die im Zweifel tödlich sein können.

Es dunkelt draußen. Eigentlich hat Nur Burhan, 37, Feierabend, aber noch schickt sie Audionachrichten per What’s App an Frauengruppen in Syrien. „Nehmt die beiden Sitze und fordert später mehr“, schlägt sie ins Handy vor. Frauen in der Zawiya-Bergregion wollen in den Stadtrat – der will ihnen nur beschränkte Aufgabenfelder überlassen: für Erziehung und weibliche Gefangene. „Ein Haupthindernis für Demokratie ist Marginalisierung“, erklärt Nur Burhan ihr Coaching für mehr Frauenbeteiligung. „Und Frauen werden marginalisiert.“

Gegenüber berät die vierköpfige Redaktion vom Monatsmagazin „Suwwar“, „Bilder“, die Themen der kommenden Ausgabe: ein Artikel über regenerative Energiequellen für die stromarme Idlib-Region, ein anderer untersucht, wie viele Kinder im Kriegschatten noch in die Schule gehen und wie viele arbeiten müssen, ein Dossier macht eine Bestandsaufnahme vom Leben Schwuler in Syrien, „vier lange Interviews haben wir schon im Kasten“, sagt Kamal Oskan. „Seit dem Krieg reden die Leute mehr darüber, es ist weniger ein Tabuthema“. Früher war der 38-Jährige Reporter bei einem syrischen Magazin, musste fliehen. Heute arbeiten „Suwwar“ 160 Journalisten und Fotografen in Syrien zu, manche under cover, je nach Region und Gefährdungslage. Das Magazin wird in Gaziantep layoutet und in Syrien gedruckt. Auflage: 5000 Exemplare. Einen Raum weiter sortiert eine Mitarbeiterin Selfie-Videos aus allen Regionen Syriens – Glückwünsche zum Ende des Ramadan, die gesammelt auf Facebook gepostet werden.

Die Aktivisten des Zentrums für Zivilgesellschaft und Demokratie arbeiten am neuen Syrien, oder dem, was von ihm übrig bleiben wird. Der ganze Nahe Osten ist im Aufbruch, dieser politische Wandel ist voller Widersprüche. Vor 2011 wurde die Region als politisch gelähmt, die Herrschaftsstrukturen wie gemeißelt wahrgenommen. Seitdem oszillieren sie zwischen wilden Experimenten und der Rückkehr zu autoritären Mustern. Sicher dabei ist: Die alten Grenzen erodieren. Die Staaten, mehr oder weniger am Reißbrett durch eine Einigung zwischen Briten und Franzosen 1916 geformt, sind in ihren Grundfesten erschüttert. Damals ordnete das sogenannte Sykes-Picot-Abkommen den Orient neu, benannt nach dem britischen Außenminister Mark Sykes und seinem französischen Amtskollegen François Georges-Picot.

Dass die „Arabellion“ im Jahr 2011 ausbrach, überraschte viele, nur die Demographen nicht. Die hatten längst den Strukturwandel berechnet: Fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen die arabischen Staaten und Iran (siehe Karte seite 36), am Weltsozialprodukt ist die Region dagegen nur mit zwei Prozent beteiligt, Tendenz sinkend. Nur 40 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter finden eine Beschäftigung. Und weil es an innovativen Unternehmungen und damit neuen Jobs mangelt, wird die Gruppe der Arbeitslosen weiter wachsen. Von den Frauen im Erwerbsalter gehen sogar nur 25 Prozent einer Lohnarbeit nach. Gleichzeitig gehören die Länder der Region zu den Staaten mit den weltweit höchsten Rüstungsausgaben.

Letztlich haben die Staaten der Region es nicht geschafft, aus dem „demografischen Bonus“ Kapital zu schlagen: Die Gesellschaften sind jung, es gibt mehr Erwerbsfähige als Kinder und Rentner, viele von den Jungen sind zudem gut ausgebildet. Dieses Potenzial für Entwicklung kann aber wegen der fehlenden Arbeit nicht genutzt werden. Das schafft Frustration. Der alte Gesellschaftsvertrag funktioniert nicht mehr, Junge haben heute weniger Chancen als die Alten früher hatten.

Das ist die Ausgangslage. Die Zivilgesellschaft als Brückenbauer zwischen der Privatsphäre und dem Staat begleitete diese Entwicklung wie ein Puffer. Entgegen einigen orientalistischen Denkschulen hat es sie im Nahen Osten immer gegeben. Der Islam trage zu despotische Züge, das Gehorsamsprinzip auch gegenüber schlechten Herrschern erlaube keinen Platz für Zivilität, hieß das Argument; eine generalisierende und herablassende Sicht, die all die Gilden und Stiftungen übersah, die seit Jahrhunderten in den Gesellschaften wirken – nicht zu vergessen die Organisationen der Sufi-Bruderschaften, interne Verbände der religiösen Minderheiten und Religionsgelehrte, die gegenüber den Herrschern als Mahner und Vermittler auftraten.

Die Zivilgesellschaft im Nahen Osten erlebte gegen Ende des Osmanischen Reiches, zu Anfang des 20. Jahrhunderts, einen Boom mit zahllosen Klubs und Bürgerorganisationen, die dann mit Beginn des Arabischen Nationalismus und seinem Einparteiensystem auf Misstrauen stießen. Gerade diese sich modern gebenden Herrscher verboten oder regulierten privates Engagement. In den ölreichen Monarchien erkauften sich die Regenten die Sympathie ihrer Untertanen mit Wohltaten – um gleichzeitig die Bürgergesellschaft klein zu halten. In dieses Vakuum stießen islamische Fundamentalisten mit ihrer Überzeugung, die Umma, die islamische Gemeinschaft, sei Demokratie und Zivilgesellschaft in ihrer ursprünglichen Form und damit die Alternative zu den herrschenden Verhältnissen.

Und die Regime wackelten, 1967 legte die arabische Niederlage im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel ihre Großmäuligkeit und Schwäche offen. Die Idee des Arabischen Nationalismus verblasste. Die Zivilgesellschaft dagegen gewann wieder an Einfluss, auch im Zuge der Urbanisierung seit den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts: Traditionelle Bindungen lockerten sich, die Zahl der Hochschulabsolventen stieg, das Informationsmonopol der Staaten bröckelte. Auch das Internet emanzipierte die Gesellschaft gegenüber dem Staat. Eine Mittelklasse hatte sich herausgebildet, mit dem Ausland vernetzt und durchaus interessiert an Freiheit und Rechtsstaatlichkeit – in sozialistisch gefärbten Staaten ebenso wie in Monarchien. Doch das Chaos, das mit der Arabellion hereinbrach, lässt die Menschen in ihrer verzweifelten Suche nach Ordnung wieder stärker hin zu konfessionellen, Stammes- oder ethnischen Bindungen streben als früher. Das ist die aktuelle Herausforderung für die Friedensmacher im Nahen Osten. Doch machtlos sind sie nicht.

Die Mahner

Von Gaziantep aus führt der Weg durch die Hochebene bis zum Mittelmeer und endet nach 400 Kilometern in Beirut, das schon vor 120 Jahren mit dem 100 Kilometer entfernten Damaskus über eine Eisenbahnlinie verbunden war. Im Beirut von heute lenkt Assad Shaftari sein Auto durch den Mittags-Stau, er ist unterwegs zu einer Oberschule im Hamra-Viertel. „Vor Terminen können wir uns kaum retten“, sagt er und reißt das Steuer um, er weicht über eine kleine Gasse dem Verkehr aus. Eher kleiner Statur, die Augen immer groß, wusste Assad Shaftari schon immer mehr als andere; das machte ihn im Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 zum Geheimdienstchef der berüchtigsten Miliz, der Forces Libanaises. Wie viele Menschen nach seinen Verhören getötet wurden, weil er sie als Risiko einschätzte, weiß er nicht mehr genau. Es waren viele. Heute aber führt er einen anderen Kampf: Gegen die Gefahr eines neues Bürgerkriegs.

Er parkt an einer weißen Schule mit großem Innenhof. Im ersten Stock haben sich vier Klassen versammelt, Assads Freund Ziad Saab ist schon da, sie umarmen sich und beginnen mit einem Spiel.

Die Runde „Stille Post“ endet mit einer vollkommen verfälschten Botschaft, statt „Ich werde heute drei Eis für meine Freunde kaufen“ verkündet ein 15-Jähriger: „Ich esse am Abend drei Bananen.“ Assad Shaftari schmunzelt und schaut im nächsten Moment ernst. „Hört im wirklichen Leben nie auf Dritte”, appellieren die beiden Männer an die Jugendlichen. „Hört nur darauf, was der Nächste sagt. Und haltet Ausschau nach gemeinsamen Interessen.“ Sie blicken, als wollten sie die Kids hypnotisieren. Denn die berichten von Waffen im Schrank, von Schusswechseln in der Nacht – und von ihren Ängsten. „Die syrischen Flüchtlinge nehmen uns alles weg. Eines Tages werden sie hier wieder herrschen“, sagt ein Schüler.

Früher waren Shaftari und Saab Todfeinde und jagten sich; Saab leitete die „militärische Abteilung“ der Kommunistischen Partei. Gemeinsam haben sie vor drei Jahren eine Gruppe gegründet: die „Fighters for Peace“, Friedenskämpfer aus allen Milizen, die aus Sorge vor einem neuen Waffengang in Schulen gehen, in Jugendzentren und auf die Straßen.

Der Bürgerkrieg brach vor 41 Jahren aus, weil die Libanesen keine Antwort auf zwei Fragen fanden, die simpel erscheinen, es aber nie sind: Was hält unseren Staat zusammen? Was sind seine Aufgaben? Heute ist man einer Lösung nicht näher. Nach wie vor sind die Bindungen an die Familie, den Clan und die Konfession tiefer und fester als die Identifikation mit einer „Nation”. 17 Religionsgemeinschaften leben als Staaten im Staate nebeneinander, und keine ist stark genug, um alle anderen zu dominieren. Über den Krieg warf man den Mantel des Schweigens und Vergessens. Der große Historiker Kamal Salibi sprach von den Konfessionen als „maskierten Stämmen”, vom Libanon als „Haus aus vielen Wohnungen”. Seit dem Krieg in Syrien sind zu den vier Millionen Einwohnern eine Million Flüchtlinge mit ins Haus gezogen. Das schafft Spannungen.

„Der Rassismus wächst“, sagt Shaftari, als er nach dem Workshop wieder ins Auto steigt. Ein Blick auf die Uhr. Am Abend wird er in der Beqaa-Ebene erwartet, ein Workshop soll Libanesen und Syrer zusammenbringen; derzeit leben die meisten aneinander vorbei. Doch Männern wie Shaftari, die aus den erlebten und begangenen Gräuel der Vergangenheit Visionen für die Zukunft ableiten, hört man zu, ihre Gruppe von Ex-Milizionären wächst.

Die Öffner

Vorhänge schirmen die schmalen Fenster gegen die gleißende Sonne, aber längst ist es hitzig geworden. Ein Stuhlkreis, zwei Dutzend Teenager, sie keifen sich an: „Solange Palästinenser Zivilisten in die Luft sprengen, wird es nie Frieden geben.” Antwort: „Die israelische Armee tötet jeden Tag Zivilisten.” Verteidigung: „Das sind Unfälle, keine Absicht.”

Drei Tage lang wird es so gehen, hier in der „School for Peace“ im Dorf Neve Shalom/Wahat as-Salam, der „Oase des Friedens”, auf halbem Weg zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Von Beirut aus wären es nur 230 Kilometer südlich das Meer entlang, aber die Grenzen zwischen Libanon und Israel sind dicht. Hier im Raum mit der schneidenden Luft geht es darum, sich zu öffnen. Junge Palästinenser und Juden sollen reden, sich anschreien und anschweigen. Obwohl alle im gleichen Staat leben, haben sie noch nie in ihrem Leben mit jemandem von der „anderen Seite” ein Gespräch geführt.

„Unser Gefühl sagt uns, Menschen müssten sich nur richtig kennenlernen, um Hass und Vorurteile abzubauen”, sagt Nava Sonnenschein, Gründerin der School for Peace, „doch Verständnis und Mitgefühl allein können Konflikte zwischen Gruppen nicht lösen.” Die Pädagogin diente selbst als Soldatin während des Yom Kippur-Kriegs und gründete fünf Jahre später die Schule, weil zu viele ihrer Freunde sinnlos ihr Leben lassen mussten. Streiten lernen sollen sie auf der School for Peace, gerade über schmerzhafte Themen. Die Dynamik des Konflikts soll spürbar werden, niemand braucht einen anderen Teilnehmer nach dem Kurs „eigentlich ganz nett” finden. Oft hat sich die emotionale Kluft zwischen den Gruppen am Ende sogar vertieft. „Wir erreichen trotzdem unser Ziel”, behauptet Nava Sonnenschein, „die Teilnehmer machen sich bewusst, dass sie im Konflikt eine aktive Rolle spielen. Danach können sie sich nicht länger nur als Opfer sehen.”

60.000 Juden und Palästinenser haben seit 1979 die Schule besucht, die Nachfrage ist ungebrochen. Die „Oase des Friedens“ gibt selbst eine Antwort auf die Frage, ob ein Zusammenleben gelingen kann. Zwanzig jüdische und zwanzig palästinensische Familien haben in den frühen Siebzigern das Dorf gegründet. Ihre Vision: eine friedliche Balance zwischen beiden Gruppen vorleben. Der Bürgermeister ist abwechselnd jüdisch oder palästinensisch. Kindergarten und Schule sind gemischt. Seit Gründung wächst die Dorfgemeinschaft kontinuierlich. Die Prophetinnen Keine 30 Kilometer östlich der Friedensoase erschließt sich eine andere Welt. In Ostjerusalem legt Randa Siniora den Hörer auf. Im Frauenhaus in Jericho gibt es einen neuen Gast. „Eine 18-Jährige, jung zwangsverheiratet, in der Ehe vergewaltigt“, fasst Randa Siniroa knapp zusammen, „der Ehemann klagt sie an wegen angeblicher Beziehungen zu anderen Männern, ihre Familie glaubt ihr nicht – und nun kommen wir“. Wir – das ist das Frauenzentrum für Rechtshilfe und Beratung (WCLAC), das palästinaweit arbeitet. „Wo keine Demokratie, da keine Frauenrechte“, bilanziert die Soziologin. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich die Fälle: In Nablus kämpft das Frauenzentrum für die Wiederaufnahme eines Prozesses, bei dem ein Mann für den Mord an seiner Frau nur zwei Jahre Gefängnis erhalten hatte – weil die Richter jordanisches Recht aus den Sechzigern übernahmen, ohne die Rechtsänderungen Ammans seitdem zu berücksichtigen. Und die Hotline klingelt immer wieder. „Die Leute haben mehr Mut, es wird weniger geschwiegen“, sagt Siniora.

Das Frauenzentrum berücksichtigt, was die Konfliktforscherin Thania Paffenholz vom Graduate Institute in Genf empfiehlt (siehe Interview Seite 20): Bei Friedensprozessen sollten Frauen stärker eingebunden werden; werden deren Interessen missachtet, führe dies langfristig zu gewaltsamen Konflikten.

Die Standhaften Ägypten, ein Jugendzentrum, an einem Ort, der anonym bleiben soll. Muhammad eilt durch die Reihen, 70 Jugendliche sind gekommen, Frauen schüttelt er die Hände, Männer umarmt er. Sofort fängt Muhammad an laut zu reden, es hört sich an wie eine Predigt: über Demokratie, Verfassung, „checks and balances“, Mut zu Kompromissen, Respekt gegenüber Andersdenkenden. Große Worte, wie ein Schutzschild gegen politische Hetze und religiösen Wahn. Ein junger Mann steht spontan auf und rappt dazu. Dann formiert sich die Menge im Saal in Kleingruppen, sie üben in Rollenspielen gemeinsam Lösungen zu finden, ohne sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Gemischte Gruppen, Männer und Frauen, Andersdenkende und Gleichgesinnte. Es klingt so einleuchtend, so einfach.

Doch nichts ist gerade einfach in Ägypten. Obwohl offziell Frieden herrscht, wird der Zivilgesellschaft der Krieg erklärt. Muhammad heißt auch anders, sein richtiger Name in einer Zeitung könnte ihn gefährden. Seit sich das Militär 2013 endgültig an die Macht geputscht hat, bläst eine politisierte Justiz mit Hilfe einer bewusst vage formulierten Gesetzgebung zur Treibjagd gegen engagierte Bürger. Nichtregierungsorganisationen müssen sich regimetreu geben und fürchten dennoch, von heute auf morgen angeklagt zu werden. Muhammad ist solch ein Nimmermüder, der weit über 1000 Workshops in allen Landesteilen gehalten hat, wo er besonders die frustrierten Jugendlichen aktivieren und vernetzen, sie aus ihrer politischen Lethargie reißen und lehren will, Fragen zu stellen.

Ägypten ist nur ein Beispiel für den „enger werdenden Raum“, den der US-Thinktank Carnegie Endowment for International Peace weltweit ausmacht: Immer mehr Regierungen errichten Hindernisse legaler und logistischer Art gegen Bürger, die sich für Demokratie und Rechtsstaat einsetzen. Muhammad jedenfalls macht weiter, schlüpft bisher durchs Netz des auf vielen inneren Rivalitäten fußenden Regimes. Was tun? Wo liegt der Spielraum, um von außen zu helfen? Wichtig ist vor allem, so sieht es Nina Prasch, Leiterin der Jungen Islam Konferenz in Deutschland, Haltung. „Unsere Abgeordneten und Regierungsmitglieder sollten ihre autokratischen Gesprächspartner nicht permanent unterschätzen. Sie sollten viel kritischer hinsehen, wen sie vor sich haben und sich - aus falsch verstandener Höflichkeit oder aus Bequemlichkeit - nicht immer wieder über den Tisch ziehen lassen“, sagt die ehemalige Leiterin des Büros der Hanns-Seidel-Stiftung in Kairo. „Die Ägypter sind unglaublich verhandlungsstark, von deutscher Seite müsste hier kräftig nachgelegt werden, um mithalten zu können. Letztendlich ist das eine Frage des politischen Willens.“

Ähnlich sieht es Rajaa Altalli vom CCSD: „Deutschland spielt eine starke Rolle in der EU. Es könnte viel mehr Druck auf die internationalen Akteure des Kriegs ausüben.“ Und Randa Siniora: „Die deutsche Politik sollte mehr Druck ausüben und nicht nur das Scheckbuch zücken.“

Auch den Hilfsorganisationen könnte ein neuer Ansatz helfen. „Gerne wird viel Geld in den Aufbau einer lokalen Zivilgesellschaft gesteckt, von der erwartet wird, dass sie Brücken über die Gräben schlägt und eine Alternative zu den auf Konflikt programmierten Eliten bildet“, sagt Heiko Wimmen, er ist Konfliktforscher an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Wenn sich dann solche Erwartungen als völlig überzogen herausstellen, weisen die Geldgeber oft ihren lokalen Partnern die Schuld zu, ziehen sich zurück und hinterlassen ein finanzielles Loch, in dem viele dieser Organisationen verschwinden. Sinnvoller für internationale Helfer ist der Blick auf jene, die schon aktiv sind und sinnvolle Arbeit leisten. Da steht Geldhilfe nicht zwingend an erster Stelle, sondern auch Assistenz mit Kontakten und Netzwerken ist wichtig.“

Wie könnte solch eine Hilfe aussehen? „Stellen Sie sich eine salafistische Moscheegemeinde in einem der Vororte von Tunis vor, die deeskalierend auf religiös orientierte Jugendliche einwirkt und sie mit theologischen Argumenten davon abbringt gewalttätig zu werden oder als Kämpfer nach Libyen oder Syrien zu gehen. Damit trägt sie zu lokalen Lösungen bei. Solche Gruppen sind für externe Akteure nicht zugänglich. Aber aus deutscher Sicht könnte man darüber nachdenken, mit der tunesischen Polizei zusammenzuarbeiten, um sie für die positiven Aspekte solcher lokalen Strukturen zu sensibilisieren.“

Die Erntenden

Tunis, Stadt am Meer, Ausgangspunkt der Arabellion. Schon vor 2011 erlebte das Land Unruhen; die Diktatur stand noch, scheiterte aber jeden Tag mehr. Und der Aufstand der Zivilgesellschaft zeitigte ihren größten Erfolg: Der Diktator floh, eine religiös-konservative Partei kam an die Macht. Dann nahmen die Konflikte erneut zu, und die Zivilgesellschaft rettete 2013 ein weiteres Mal das Land, indem der Gewerkschaftsbund UGTT, die Arbeitergebervereinigung Utica, die Anwaltskammer und die Menschenrechtsliga einen Dialog organisierten, an dessen Ende freie Wahlen standen, eine Aussprache und Kooperation; 2015 erhielten sie dafür den Friedensnobelpreis.

Probleme gibt es nach wie vor: Die Wirtschaft stockt, Reformen bei der Polizei kommen nur langsam voran, allein 6000 Tunesier haben beim IS angeheuert. Immer wieder neu versucht das Land den Balanceakt zwischen Stabilität und Sicherheit, Freiheit und Perspektive. Aber die Gesellschaft stellt sich ihrer Vergangenheit, hat eine Wahrheitskommission eingerichtet zur Aufarbeitung der Diktatur. Es geht voran: Der Nobelpreis habe ihn in seiner Überzeugung bestärkt, sagte Menschenrechtsligapräsident Abdessatar Ben Moussa jüngst der „Neuen Zürcher Zeitung“, dass Konflikte nur durch Dialog gelöst werden könnten. „Es gibt kein Zurück in die Diktatur!“ Zivilgesellschaften im Nahen Osten verankern Pluralismus und Toleranz, oft erst beim zweiten Blick sichtbar. Die alten Beruhigungspillen der Eliten jedenfalls wirken immer weniger. SWP-Präsident Volker Perthes zitierte einmal ein frustriertes Mitglied des bahrainischen Königshauses: „We have already given them democracy, but now, they want participation.“ Genauso sieht es aus.