Zeitenspiegel Reportagen

Die Großstadtbauern

Erschienen in "ENORM" /09/2012 und "FAS"/ 11/2012

Von Fotograf Sascha MontagAutorin

In den Favelas von São Paulo werden ungenutzte Grundstücke zu Gemüsegärten umfunktioniert. Für viele verarmte Rentner und Arbeitslose die einzige Chance auf ein regelmäßiges Einkommen.

Hans Dieter Temp humpelt, als er zwischen den prächtigen Wirsingkohlköpfen hindurch stapft, dem zartgrünen Mohrrübenlaub, den Salatköpfen. Ein schwerer Verkehrsunfall vor acht Jahren zerschmetterte ihm die Hüften, die Knie, den rechten Fuß. Seitdem schmerzt jeder Schritt. Am Weitergehen hindert ihn das nicht. Schließlich hat er eine Mission.

Mit seinen blonden Pony über der Stirn, seinen kleinen, blauen Augen und kräftigen Unterarmen könnte man sich den 48-Jährigen gut in Latzhose und mit festem Schuhwerk an den Füßen vorstellen, wie er auf dem elterlichen Hof bei den Kühen hilft. Doch Temp, brasilianischer Staatsbürger mit schwäbischen Vorfahren, will mehr. „Ich habe Courage“, sagt er. Und: „Wenn ich ein Problem sehe, will ich es lösen.“

Probleme gibt es viele in São Paulo, der größten Stadt Lateinamerikas. Die Metropole ist Hoffnung für Tausende, die Jahr für Jahr ihr Land verlassen. Getrieben von Hunger und Verzweiflung, angezogen von der Hoffnung, einen Job zu finden, der sie und ihre Familie ernährt. Doch stattdessen landen die meisten in erbärmlichen Hütten am Stadtrand, in denen die Fernseher vom Glück der anderen erzählen. Ohne Arbeit, ohne regelmäßiges Essen, ohne Perspektive.

Das Projekt „Cidades sem Fome“ („Städte ohne Hunger“), das Temp vor neun Jahren ins Leben rief, hilft zumindest rund 150 von ihnen. Viele müssen überhaupt nicht mehr einkaufen, so gut sind die Erträge der Äcker, die Temp zusammen mit ihnen errichtete. Kartoffeln bauen sie an, Salat, Bohnen und Kürbisse, manche auch Obst, Kräuter und Heilpflanzen. Was sie nicht selbst verbrauchen, verkaufen sie ihre Nachbarn, oder sie beliefern Supermärkte und kleine Restaurants.

Geld und ein voller Magen würden vielen schon genügen. Doch die Gärten bringen den Stadtbauern noch viel mehr: Sie geben ihnen ihre Würde zurück. Den Ackerbau kennen die meisten von ihnen aus ihrer Kindheit auf dem Land. Der 74-jährige José Dandrade zum Beispiel, der mit 17 Jahren zusammen mit seiner Freundin die Heimat verließ – der kleine Acker der Eltern hätte nicht gereicht, um ihn, seine fünf Geschwister und alle ihre Nachkommen zu ernähren. Sechs Kinder habe er groß bekommen, erzählt er, „und alle haben Arbeit“. Er stützt sich auf seine Hacke und richtet sich noch etwas weiter auf. Erst später erzählt er, dass er selbst unterwegs auf der Strecke geblieben ist. Jahrzehntelang schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch, oft hatte er Hunger. Auch seine Rente reicht zum Leben nicht aus. „Aber jetzt bin ich wieder Bauer“ sagt er, und strahlt. „Lieber schinde ich meine Knochen auf dem Feld, als in meiner Hütte zu sitzen und auf den Tod zu warten.“ 21 Gemüsegärten haben Temp und seine drei Mitarbeiter bisher in der östlichen Peripherie der Stadt aufgebaut, wo die Armut São Paulos am größten ist. Auch Temp wohnte bis vor kurzem in einer ärmlichen Gegend, im Viertel Jardim Laranjeiras, das vor 15 Jahren noch eine Favela war. Aufgewachsen ist er in Agudo im Bundesstaat Rio Grande do Sul in einer deutschstämmigen Enklave. Er spricht fließend Deutsch, doch mit einem merkwürdigen Akzent. Wenn er „Landwirtschaft“ oder „Löhne“ sagt, hängt das „L“ tief in seiner Kehle. Das „Ö“ klingt nach „E“ – so dass man manchmal nachfragen muss, wenn er „Erlese“ sagt oder „Ferdergelder“.

Fördermittel einzutreiben ist Temps Hauptbeschäftigung, denn noch kostet Cidades sem Fome Geld. Vergangenes Jahr erwirtschafteten die Bauern zusammen rund 150 000 Euro – in derselben Zeit gab zahlte die Organisation rund 200 000 Euro für Vertrieb, Landmaschinen, Dünger und Setzlinge, die die meisten Gärten noch gestellt bekommen. Der wichtigste Sponsor ist ein Sozialfonds des brasilianischen Ölkonzerns Petrobras, dazu kommen Gelder von Banken, ausländischen Botschaften und der US-amerikanischen Inter-American Foundation. Der Agrarkonzern Syngenta spendet Saatgut, der Erdöllogistiker Transpetro und der Stromanbieter Eletropaulo stellen kostenlos Grundstücke auf unterirdischen Pipelines und unter Hochspannungsleitungen zur Verfügung.

Der Konzern Syngenta vertreibt gentechnisch verändertes Saatgut, das ihre Kunden jedes Jahr neu kaufen müssen, denn die Samen, die daraus entstehen, sind unfruchtbar. Auch die Banken- und Energiebranchen gelten nicht gerade als Flaggschiffe humanistischer und ökologischer Werte. Natürlich weiß auch Temp, dass er sich von ihnen instrumentalisieren lässt – ihr Einsatz ist nichts weiter als „social washing“, Soziales Engagement als moralisches Feigenblatt. „Klar würde ich lieber nur Spenden von korrekten Firmen annehmen. Doch es sind nun mal die Großen, die Geld übrig haben.“ Anstatt darüber lange nachzudenken, sieht er es lieber pragmatisch: „ Ich will, dass die Leute was auf dem Tisch haben. Da fange ich nicht an, groß über Syngenta zu diskutieren.“

Langfristig aber will Temp die Gärten unabhängiger machen von Almosen anderer. Drei von ihnen stehen bereits auf eigenen Beinen, unter ihnen der Acker in der Favela Jardim Tietê, zwanzig Kilometer südöstlich vom Zentrum, den der alte José Dandrade und ein Dutzend seiner Nachbarn bewirtschaften. Sie kennen sich gut genug mit den unterschiedlichsten Gemüsesorten aus, um das ganze Jahr über anbauen zu können, der Vertrieb funktioniert reibungslos, und neben rund 230 Euro monatlich für jeden wirft der Betrieb so viel ab, dass sich die Kooperative bei Bedarf neue Wasserhähne, Schläuche und Setzlinge leisten kann.

Grundstücke für den Ackerbau im Kleinformat finden sich schnell in São Paulo. Im Zentrum reiht sich Wolkenkratzer an Wolkenkratzer, doch an den Rändern franst die Stadt aus, viele Flächen liegen brach. Nicht nur Firmen, auch Privatleute, denen das Geld zum Bauen ausgegangen ist, stellen ihr Land zur Verfügung. Auch ohne Pacht profitieren sie, denn auf vernachlässigten Flächen wird in São Paulo schnell illegal gesiedelt. Niemand aber würde ein sorgsam angelegtes Gemüsebeet verwüsten, um dort seine Hütte zu aufzustellen.

Von den Bauvorhaben der Grundbesitzer abhängig zu sein, macht die Verhältnisse für die Bauern zwar unsicher. Sie wissen nie, wann sie fort müssen von ihrem Land. Zweimal ist ihnen schon passiert, doch wurden die Bauern damit nicht arbeitslos: Beide Male fand sich schnell neues Terrain in der Nähe. „Ich habe eine ganze Excel-Tabelle voll mit Grundstücken, auf denen wir jederzeit anfangen könnten“, so Temp. Anfangen, das bedeutet Bodenproben zu nehmen und die Erde auf Schadstoffe testen zu lassen. Einen Zaun zu ziehen und Müll und Steine fortzuräumen.

Temps Projekt erscheint im Nachhinein so zwingend, dass man sich unweigerlich fragt, wieso vor ihm keiner darauf kam. Ähnlich wie mit seinen Gewächshäusern: 9000 Euro kostet ein handelsübliches Exemplar aus Aluminiumgestell. Zu viel, befand er, und entwarf er sein eigenes Modell: ein Gerüst aus Abwasserrohren. Durch jedes schob er eine Eisenstange, dann goss er die Rohre mit Beton aus. Zusammen mit einer Dachkonstruktion aus Holz kostete ihn die Eigenbau-Variante halb so viel wie das Alumodell.

Fast täglich bekommt Temp E-Mails aus Ländern wie Bolivien, Südafrika, Mosambik oder Indien. Die Leute wollen, dass er zu ihnen kommt und auch ihnen hilft, Gewächshäuser zu bauen und Gemeinschaftsgärten einzurichten. Doch zum Reisen fehlt ihm das Geld. Den Bau der Gewächshäuser hat er inzwischen dokumentiert, und die Anleitung auf seine Website gestellt. Fragen, die er beantworten kann, beantwortet er. „Schön wäre es, im Gegenzug dafür Spenden zu bekommen“, sagt er, „Aber die Leute haben ja selbst keinen Speck.“

Temps größte Hoffnung ist, dass die brasilianische Regierung Cidades sem Fome eines Tages im großen Stil nachahmt. Erste Anzeichen gibt es schon: Vertreter der Stadtverwaltung waren zu Besuch, die sich für sein Modell interessieren. Kurz darauf schrieb das Umweltamt von São Paulo einen Förderwettbewerb aus, in dem es zehn städtische Landwirtschaftsprojekte mit je 30 000 Euro unterstützen will.

Helfen – damit hatte Temp nichts am Hut, als er, genau wie sein heutiges Klientel, mit 18 Jahren nach Rio de Janeiro zog, weit weg vom Acker und den Kuhställen der Eltern. Er sprach schon damals gut Deutsch, und wollte daraus zusammen mit einem Abschluss in Betriebswirtschaftslehre Kapital schlagen. Um sich die Uni zu finanzieren, jobbte er als Kellner und Touristenführer. Beim Servieren lernte er eine reiche Witwe kennen, die so beeindruckt war von seiner Willenskraft, dass sie ihm die Hälfte der Studiengebühren dazuschoss: Umgerechnet 200 Euro im Monat, unfassbar viel Geld für den Jungen vom Land. „Ich bin nicht gläubig“, sagt Temp. „Aber diese Frau hat mich geprägt. Also, anderen zu helfen.“

Das Leben eines Samariters führte er nach dem Studium dennoch nicht. Er arbeitete bei einer Bank, einem Reisebüro, einer Krankenversicherung. Vier Jahre lang lebte er in Deutschland, um in Tübingen Landwirtschaft zu studieren, sein Deutsch zu verbessern und um die Heimat seiner Großeltern kennenzulernen. Danach zog er in den Bundesstaat São Paulo, dort gab es gute Jobs. In den Neuzigern leitete er zwei Jahre lang ein S.O.S.-Kinderdorf. Eine Personalfirma hatte ihn dort hin vermittelt, das Gehalt stimmte, also willigte er ein. In dieser Zeit lernte er seine heutige Frau kennen, eine Sozialarbeitern. Er wunderte sich über ihr Engagement: „Wie kann man sich so aufopfern?“, fragte er sie: „Damit verdienst du doch nichts, und Anerkennung bekommst du auch keine.“ Hilfe zu leisten war auch nicht sein Ansinnen, als er seinen ersten Gemeinschaftsgarten in São Paulo aufbaute. Er wollte bloß nicht länger diesen fürchterlichen Schandfleck ansehen müssen, jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ins Rathaus fuhr: Ein unbebautes Nachbargrundstück gegenüber seiner Wohnung, auf dem sich einen halben Meter hoch die Abfälle türmten: Bauschutt, Küchenreste, kaputte Möbel. Einmal wurde an der Ecke ein Hund überfahren. Irgendjemand warf auch den über den Zaun, und das Tier rottete vor sich hin. Temp machte den Besitzer des Gartens ausfindig. Bot ihm an, das Grundstück frei zu räumen, im Gegenzug wollte er darauf Gemüse anpflanzen dürfen, solange der Nachbar nicht baute. Ungläubig willigte dieser ein.

Weil ihm die Gartenarbeit über den Kopf wuchs, bot er Jugendliche aus der Nachbarschaft ein paar Reais für ihr Hilfe an: „Eure T-Shirts sehen ganz schön abgerissen aus. Wenn ihr hier mitmacht, könnt ihr euch nächsten Monat neue kaufen.“

Mütter kamen vorbei um zu schauen, was ihre Söhne so trieben an den Wochenenden. Woher sie auf einmal frische Karotten und Kürbisse mitbrachten. Und ob es wahr war, was sie erzählten: Dass da ein Mann im Viertel ein Feld bestellte. Irgendwann boten auch sie ihre Hilfe an. Ganz von selbst wurde der Garten zum Treffpunkt, zu etwas, an dem alle gemeinsam arbeiteten. Und in Temps Kopf keimte eine Idee: „Wäre es nicht großartig, wenn die Stadtbauern mit der Feldarbeit auch ihren Lebensunterhalt verdienen würden?“

Zu dieser Zeit, im Jahr 2002, hatte er mal wieder einen neuen Job: „Finanzkoordinator“ in einem internationalen Büro des Rathauses. Er schaffte es, sich ins Umweltamt versetzen zu lassen, wo man ihn mit städtischer Landwirtschaft experimentieren ließ. Sechs gemeinnützige Gärten baute er auf, bis die Regierung wechselte und er seinen Job verlor. Die Gärten wurden abgeschafft. „Ich stand da wie der Ochs’ vorm Berg“, erzählt er heute. „Aber ich wollte es wenigstens versuchen.“ Also setzte er sich hin und schrieb er das Konzept für eine Organisation, die heute zum Erfolgsmodell werden könnte – nicht nur für São Paulo, sondern für Städte auf der ganzen Welt.

2010 nahm Temp in Dubai eine große Auszeichnung entgegen: Den „International Award for Best Practices to Improve the Living Environment“ des Programms der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen (UN-HABITAT). Im Herbst vergangenen Jahres wurde er nach Montréal eingeladen, um dort beim „Internationalen Forum für solidarische und soziale Ökonomie“ einen Vortrag vor Teilnehmern aus über 60 Ländern zu halten. Und dieses Jahr stellte er sein Projekt im brasilianischen Florianópolis vor, wo sich Interessierte aus ganz Lateinamerika versammelten. Bei solchen Gelegenheiten verschont Temp das Publikum mit Zahlen. Lieber spielt er einen Film ab, der „seine“ Bauern bei der Arbeit zeigt. „Ich höre so viel Gejammer, dass die Regierung diesem oder jenem Projekt nicht hilft. Was soll das helfen? Lieber zeige ich den Leuten, was man auch ohne staatliche Unterstützung auf die Beine stellen kann.“

Er selbst will sich nach und nach herausziehen aus Cidades sem Fome, auch aus privaten Gründen. Seine Familie ist schon fortgegangen aus der Stadt. Bis zu fünf Stunden Stau am Tag hatten seine Frau krank gemacht. Als sich dann noch eine Drogengang in ihrem Viertel ausbreitete, und sie begannen, sich um ihren siebenjährigen Sohn zu sorgen, stand der Entschluss der Familie fest, nach Agudo zu ziehen, zurück in die Heimat seiner Eltern. Noch pendelt Temp, verbringt die Hälfte seiner Zeit in der Stadt. Doch will er bald dafür sorgen, dass seine Mitarbeiter Cidades sem Fome allein weiterführen können.

Doch Temp wäre nicht Temp, würde er sich in Zukunft nur noch um sich und seine Familie kümmern. „Warum ziehen die Leute denn in die Stadt, in die Favelas?“ fragt er und meint es natürlich rhetorisch: „Schuld sind Monokulturen, Monokulturen, Monokulturen.“ Tausende Bauern fallen auf die schnellen Gewinne herein, die ihnen der industrielle Rohstoffanbau verspricht. Darüber geht in vielen Familien das Wissen verloren, wie man sich mit einem Stück Land selbst versorgen kann. Sinken die Weltmarktpreise für Soja oder Tabak, treibt das ganze Dörfer in den Ruin.

Also ist Temps nächste Mission definiert: zusammen mit den Bauern von Agudo legt er Gemüsegärten auf deren Höfen an. Nach und nach will er möglichst vielen von ihnen helfen, wieder komplett auf traditionelle Landwirtschaft umzusteigen. Damit, eines Tages, sein Projekt in São Paulo überflüssig wird.