Zeitenspiegel Reportagen

Die sterbende Stadt

Erschienen in "The Germans", Nr. 3, März 2013

Von Fotograf Carsten Stormer und Autor Carsten Stormer

Im Juli 2012 kam der Krieg nach Aleppo, und die Stadt wurde zum Schlachtfeld. An den arabischen Frühling denkt keiner mehr. Szenen einer traumatisierten Stadt.

Im Innenhof eines Hauses, am Rande einer Kleinstadt in der syrischen Provinz Idlib, versammelt sich im Sommer 2012 eine Gruppe Männer in Tarnanzügen, denen Sturmgewehre an der Schulter und Handgranaten am Gürtel baumeln. In Inventurlisten tragen sie penibel den Inhalt der Säcke ein, die sich vor ihnen stapeln: Brandneue Scharfschützengewehre, Unmengen Munition, Panzerfäuste, belgische Sturmgewehre und Dutzende Nachtsichtgeräte, noch in Plastikfolien verschweißt. Als der Kommandeur eines dieser Geräte in die Luft hält, jubeln seine Männer und beginnen zu tanzen. „Allah U-Akbar! Alaah U-Akbar!“, rufen sie, Gott ist groß, und recken dabei ihre Kalaschnikovs über ihre Köpfe. Dann packen sie alles wieder in die Jutesäcke, verschnüren sie und verfrachten die Waffen in Kofferräume von Privatwagen, Taxis und Kleinbussen. Die Tarnanzüge tauschen sie gegen Zivilkleider, schlüpfen in Jeans und Hemden. Etwa dreißig Kämpfer quetschen sich in ein halbes Dutzend Fahrzeuge. Im Schutze der Nacht machen sie sich auf den Weg, auf Feldwegen und Umwegen umfahren sie die Checkpoints der syrischen Armee. Späher auf Motorrädern fahren voraus, kundschaften die Gegend aus, ob die Armee Straßensperren errichtet hat, stehen ständig per Funk in Kontakt mit den Kämpfern, die im Abstand von einigen Kilometern folgen. Das Ziel: Die Stadt Aleppo.

Als ich Syriens größte Stadt das erste besuche, bereiten Oppositionelle und Rebellen in konspirativen Wohnungen das Ende Regimes vor. Wochenlang haben die Aufständischen den Angriff auf Aleppo geplant. Bis Ende Juli 2012 war die Stadt von Kämpfen weitestgehend verschont geblieben. Nur in manchen Stadtteilen, wie Salah Eddine, kommt es täglich zu Massendemonstrationen und Zusammenstößen zwischen Regierungsanhängern und Opposition. Es ist eine seltsame Mischung aus Anwälten, Journalisten, Studenten, Kaufleuten und Rebellen, die sich täglich heimlich treffen. Tagsüber schlafen sie, die Nacht gehört der Revolution. Sie alle werden von der Polizei gesucht, stehen auf Fahndungslisten des Geheimdienstes, können sich nie länger als wenige Stunden an einem Ort aufhalten, meiden ihr Zuhause, um ihre Familien nicht zu gefährden und wechseln täglich den Schlafplatz. Zur gleichen Zeit sickern tausende Kämpfer, unbemerkt von den Spitzeln und Soldaten des Regimes in die Stadt ein. In den Außenbezirken Aleppos nehmen Rebelleneinheiten die Waffen in Empfang und verteilen sie auf die Stadtviertel.

In Aleppo teilen sich zu dieser Zeit die Anhänger und Gegner des Regimes Straßen und Wohnhäuser. Gerade in der Zweimillionen-Einwohnerstadt Aleppo wohnen viele Regimefreunde und reiche Kaufleute, die vom Regierungsapparat profitieren und ihn noch immer unterstützen. Im Zick-Zack fahren mich die Rebellen von Versteck zu Versteck, umkurven Checkpoints, nehmen kilometerlange Umwege in Kauf, wechseln mehrfach die Autos. Auf der Dachterrasse eines unscheinbaren Mietshauses, an einer Ausfallstraße in Salah Eddine, treffen sich an einem Abend Mitte Juli ein Dutzend Aktivisten mit Kämpfern der FSA. „Wir werden Aleppo bald befreien“, sagt Abu Hamid, ein 36-jähriger Anwalt, mit Stirnglatze und rot-blondem Kraushaar, in dessen Hosenbund eine Pistole steckt. Wie alle hier hat auch er Freunde verloren, weil Polizisten und Schabiha-Milizen in Demonstrationen schossen oder unter Folter in Gefängnissen gestorben sind. Mobiltelefone wandern von Hand zu Hand, darin die Bilder der Getöteten. Abu Kassim, ein 19-jähriger FSA-Kämpfer, zeigt Videos, die er auf seinem Telefon gespeichert hat. Auf einem schneiden Rebellen zwei jungen Männern bei lebendigem Leib die Köpfe ab und legen sie wie Trophäen einer Großwildjagd auf die Körper der Toten. Die Opfer sollen der Schabiha angehört haben und mehrere Menschen getötet haben. Der Richter der Männer ist gleichzeitig ihr Henker. Ein anderes Video zeigt die entstellten Leichen von 25 Männern. Auch sie sollen der Schabiha-Miliz angehört haben. „Wir haben sie getötet. Ich war dabei. Sie haben den Tod verdient“, sagt Abu Kassim und zündet sich eine Zigarette an. „Aber wir sollten ihnen nicht die Köpfe abschneiden. Das macht nur Al-Kaida und mit diesen Leuten wollen wir nichts zu tun haben.“ Ein Kämpfer, der neben Abu Kassim sitzt, schüttelt den Kopf. „Patronen kosten Geld, das wir nicht haben. Köpfen ist billig. Solange uns niemand hilft, sind alle Methoden gerechtfertigt.“

Stundenlang diskutiert die Gruppe darüber, wie man weitere Waffen in die Stadt schafft, unbemerkt Kämpfer einschleust und welche Viertel zuerst befreit werden sollen. Man streitet darüber, ob man Assad töten solle oder ob er vor ein Gericht gestellt gehört, was mit den Anhängern des Regimes geschehen soll. Die einen sind dafür, kurzen Prozess zu machen. Die anderen sagen, dass man so keinen neuen Staat aufbauen könne, in dem alle Syrier friedlich zusammen leben. „Wir müssen den Hass eindämmen. Wir haben immer mit Christen und Alawiten zusammengelebt. Sie gehören zu Syrien wie wir. Diejenigen, die Verbrechen begangen haben, stellen wir vor Gericht und erhalten ihre Strafe. In’schallah“, sagt Abu Tarb, ein weiterer Anwalt der Gruppe. Während sie diskutieren, rauchen, und mit viel Kaffee ihre Müdigkeit verscheuchen, ertönt von den Kasernen Aleppos das dumpfe Dröhnen der Artillerie, die Panzergranaten auf die befreiten Dörfer des Umlands abfeuern. Die Männer zucken zusammen. „Die Angst ist unser ständiger Begleiter“, sagt Abu Hamid.

Kurz nach Mitternacht fallen Schüsse in der Nähe. Die FSA-Leute postieren sich mit ihren Kalaschnikows an der Balustrade der Dachterrasse. Der Besitzer der Wohnung bringt seine fünf Kinder und seine Frau bei Nachbarn in Sicherheit. Abu Hamid, der Anwalt, entsichert seine Pistole und stellt sich neben die Eingangstüre, falls Armee oder Polizei die Wohnung stürmt. Erst in den frühen Morgenstunden schlafen die Männer erschöpft ein. Noch hat der Krieg die Stadt nicht erreicht, doch eine Mischung aus Angst, Misstrauen und banger Vorahnung lähmt die Menschen.

Lange war es ruhig in diesem Teil Syriens, nur zwanzig Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Die Nachrichten aus den Rebellenhochburgen Homs, Hama, Damaskus und Daraa kamen hier nur als Schauergeschichten an. Die Revolution erreichte Aleppo erst spät. Im Windschatten der Schreckensmeldungen aus anderen Teilen des Landes konnten sich immer mehr Orte des Nordens befreien, in denen der Aufstand gegen das Regime erst mit Demonstrationen begann. Erst waren es nur ein paar Dutzend, die sich auf die Straßen trauten, dann Hunderte, zum Schluss waren es Tausende, die mehr Freiheit und Reformen verlangten. Nach und nach verjagten die Menschen die Handlanger der Machthaber; die Bürgermeister, die Polizisten und die Schabiha, die Spitzel und Henker des Regimes. Dann war der Weg nach Aleppo frei. Die Stadt, von der viele glauben, dass das Regime zusammenbricht, wenn sie fällt. Diejenigen, die glaubten, einen schnellen Sieg zu erringen, täuschten sich.

Ende Oktober 2012 besuche ich Aleppo zum zweiten Mal. Der Krieg hat sich da lägst festgebissen wie ein Pitbull und das Leben atmet nur noch schwach in der Stadt: Aus den Bazaren sind die Händler verschwunden, die Gewürze, Zuckergebäck, Datteln und Stoffe anbieten. In den alten verwinkelten Gassen der historischen Altstadt tobt jetzt ein grausamer Häuserkampf, der die Menschen einschließt in einem Kokon aus verirrten Kugeln, Raketen und Granaten. Gemeinsam mit Zivilisten renne ich über Straßen, an deren Ende Scharfschützen auf jeden schießen, der sich auf die andere Seite wagt. Ich krieche durch in Wände geschlagene Löcher von Haus zu Haus, in vielen haben sich Rebellen verschanzt und in einem werde ich Zeuge, wie ein Scharfschütze der Rebellen von einem Scharfschützen der Regierung in den Kopf geschossen wird.

Seitdem die Rebellen den Krieg auch Aleppo getragen haben, hat sich die Stadt in eine Hochburg des Widerstands verwandelt und die Regierungstruppen belegen die von den Rebellen gehaltenen Viertel mit ununterbrochenem Beschuss aus Artillerie, Panzern, Kampfflugzeugen und Hubschraubern. Die Zivilisten sind dabei zwischen die Fronten geraten, Bauernopfer in dem brutalen Schachspiel, das in einem Patt fest hängt. Der Tod kommt willkürlich und überall. Jede Besorgung, jeder Gang zum Bäcker, eine Fahrt ins nächste Viertel birgt ein unkalkulierbares Risiko und kann tödlich enden. Die Bewohner sind es leid, ihre Angehörigen zu begraben, dass sie aus Angst vor Scharfschützen ihre Häuser nicht mehr verlassen können. Wer kann, flieht aus der Stadt. Wer Arbeit hat, arbeitet. Wer keine hat, döst die Zeit weg oder klaubt Informationen zusammen, die Leben retten können: Wo haben sich die Scharfschützen eingenistet, welche Straße ist sicher, wo gibt es Brot?

Doch selbst der Gang zum Bäcker ist lebensgefährlich. Seitdem sich Aleppo im Belagerungszustand befindet, ist Brot knapp geworden. Die Rebellen haben eigens dafür ausgebildete Einheiten zum Backen abgestellt, um die Menschen mit Fladenbroten zu versorgen. Doch das reicht nicht, um alle satt zu bekommen. Täglich bilden sich lange Schlangen vor den wenigen noch geöffneten Bäckereien in Aleppo.

Wie jeden Tag laufe ich stundenlang durch die Stadt, besuche Krankenhäuser, Leichenhallen, Bäckereien, Ärzte oder werde von wildfremden Menschen auf eine Tasse Tee eingeladen und höre mir ihre Geschichten an. Als ich eines Nachmittags durch die Straßen des Shaar Viertels laufe, donnert ein Kampfflugzeug über den Straßenzug und feuert zwei Raketen auf ein Wohnhaus ab. Die Welt versinkt in Dunkelheit. Dann sickert die Sonne wieder langsam hindurch. Ein fahler Strahl, der durch die Wolke aus Staub und Schutt einen Weg sucht. Mauerstücke und Möbel fallen vom Himmel, verkrüppelter Stahl hängt in Fetzen von Häuserfassaden. Eine schwere Stille hängt über der Straße wie ein Laken. Gestalten entsteigen aus diesem Inferno, wankende und hustende Schatten. Niemand spricht. Unglaube und Angst steht in ihren Gesichtern. Die Augen weit aufgerissen, erstaunt, noch am Leben zu sein. Der Staub verklebt Haare, er verkrustet auf schweißnasser Haut und streicht die Menschen grau.

Die Bewohner dieses Straßenzuges werden binnen eines Wimpernschlags aus dem Leben gerissen werden, mit der Wucht von zwei Raketen, abgefeuert aus einem Kampfflugzeug der syrischen Armee. Sie trafen das oberste Stockwerk eines Mietshauses, aus dem fünften Stock tänzeln Flammen. Die Explosion hat Balkone abgerissen, Fensterscheiben zerspringen lassen, Mauern geknackt. Der Kampf der Syrer für Freiheit und Gerechtigkeit ist nun ein Bürgerkrieg, täglich härter und unerbittlicher. Aleppo war einst, gemeinsam mit der Hauptstadt Damaskus, das kulturelle und kommerzielle Zentrum Syriens. Die Großstadt, die zum Weltkulturerbe zählt, weil sie architektonische Kleinode mittelalterlicher Baukunst beherbergt, ist im Oktober und November des vergangenen Jahres das Epizentrum von Kampf und Zerstörung, gleichermaßen belagert von Rebellen und Regierungssoldaten. Wo Scharfschützen den Tagesrhythmus dirigieren und so viele Menschen sterben, dass ihre genaue Zahl nicht mehr erfassbar ist.

Als sich der Staub legt und sich das Ausmaß der Zerstörung aus dem Dunst schält, beginnen die Menschen ihr Leben in den Trümmern zu sortieren. Sie blicken aus Löchern, die herumfliegende Trümmer in die Wände getrieben haben, schütteln Staub aus ihren Haaren. Sie rufen sich gegenseitig zu, ob jemand verletzt oder getötet wurde, schreien um Hilfe, werfen kaputten Hausrat nach unten auf die Straße. Ein einbeiniger Mann hüpft über Schuttberge, lehnt sich an den Kotflügel eines Autos, das unter Mauerresten begraben ist. Blut tropft aus einer Stirnwunde bei jedem Schritt auf den Boden, hinterlässt eine Spur. Menschen laufen panisch durcheinander, als am Himmel wieder ein Kampfflugzeug auftaucht - wie ein Raubvogel auf der Suche nach Beute. „Ja, es gab Tote“, sagt ein Mann und zeigt auf eine Wohnung aus der Rauch aufsteigt.

Ibrahim stand im Flur, als die Rakete das Wohnzimmer traf, in dem seine Eltern vor dem Fernseher saßen. Die Explosion schleuderte ihn gegen die Wand, doch er blieb unverletzt. Er steht im fünften Stock des brennenden Hauses, Rauch quillt durch das Treppenhaus, Freunde und Nachbarn hetzen die Treppen rauf und runter, in den Händen Eimer und Behälter gefüllt mit Wasser, in dem vergeblichen Versuch, die Flammen zu löschen. Deckenbalken glimmen, Hitze springt ins Gesicht, versengt Haare und Haut. Nebenan im Wohnzimmer verbrennen Ibrahims Vater und Mutter, der Geruch von verbranntem Fleisch hängt in der Wohnung. Ein junger Mann übergibt sich im Treppenhaus. „War mein Vater ein Terrorist? War meine Mutter eine Terroristin?“ ruft Ibrahim und beginnt zu weinen. „Baschar al-Assad hat meine Eltern getötet! Wofür? Wofür!“ Dann lehnt er sich an die verrußte Wand, schlägt die Hände vors Gesicht und rutscht langsam in die Hocke. Freunde knien neben ihm, um zu trösten, streichen ihm übers Haar, nehmen ihn in den Arm, schwören, Rache zu nehmen.

Nach einer Stunde ist das Feuer so weit unter Kontrolle, dass ein paar Männer über die Reste des Balkonsimses in das Wohnzimmer klettern können. Sie ziehen einen verkohlten Körper unter einem Tisch hervor, wickeln ihn in eine Plüschdecke und rufen: „Allahu Akbar, Allahu Akbar!“ Gott ist groß. Rauch quillt vom kokelnden Leichnam unter der Decke hervor. Ibrahim soll den Körper identifizieren, aber sie sind so entstellt, dass er nicht sagen kann, welcher zur Mutter, welcher dem Vater gehört. „Baba? Mama?“, flüstert er fassungslos.

Selbst die Würde der Toten hat in diesem Krieg keinen Platz. Die verbrannten Leichen von Ibrahims Eltern liegen keine zwei Stunden nach dem Angriff auf der Ladefläche eines weißen Kleinlasters, der hupend durch die Straßen Aleppos rast. Am Märtyrer-Friedhof, am Stadtrand von Aleppo, bereiten Totengräber in Schichtarbeit die Gräber zukünftiger Tote vor. Es muss schnell gehen, zu oft schon wurden Beerdigungen mit Granaten belegt. In der Ferne fliegen Hubschrauber und Kampfflugzeuge über Aleppo, schwarze Rauchsäulen steigen in den Himmel, als man Ibrahims Eltern in einem namenlosen Grab aus Baustoffziegeln ablegt. Ein Verwandter spricht ein kurzes Gebet. „Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass uns jemand zu Hilfe kommt. Amerika, Europa, die Türkei, die Arabische Liga, die sehen alle zu und tun nichts“, sagt Ibrahim, als er sich von seinen Eltern verabschiedet hat. Dann fährt er zurück nach Aleppo, zu den Bomben und Scharfschützen. Eine Stadt wie er selbst: obdachlos und Vollwaise.

Währendessen geht das Töten weiter. Die Opfer dieses Krieges werden in ein ausgebombtes Krankenhaus an der Front gebracht. Hier hetzt Doktor Osman zwischen Leben und Tod hin und her. Er ist einer von sechs Ärzten, die nicht geflohen sind, weil zweihundert Meter entfernt die Panzer von Präsident Baschar al-Assad stehen. Die Opfer kommen im Minutentakt herein, geladen auf Rückbänken, Ladeflächen und in Kofferräumen von Autos. Helfer bringen verwundete Zivilisten und Rebellen in den Warteraum, schleppen Tote über Fliesen, die eine breite Blutspur hinterlassen. In einer Ecke im Erdgeschoss operiert ein Arzt einem Mädchen Schrapnellsplitter aus der Hüfte, die Kleine kreischt vor Schmerzen. Daneben steht ihr Vater, hält ihre Hand in seiner, den Blick an den Deckenventilator geheftet, damit die Tochter seine Tränen nicht sieht. Ein Pfleger massiert das Herz einer alten Frau, die man unter den Trümmern ihrer Wohnung hervorgezogen hat. Menschen mit abgetrennten Armen, Händen, Füßen, Unterschenkeln liegen auf Bahren oder in den Fluren und warten auf Hilfe, weil es zu wenig Personal für zu viele Opfer gibt. Eine Frau trauert um ihren toten Ehemann, ein Mann um seinen Bruder. Ein kleiner Junge steht schockstarr in einer Blutlache und ruft nach seinem Vater, der bewusstlos auf einer Sonnenliege liegt, weil es nicht genügend Betten und Bahren gibt. Eine Schwester kniet am Boden und wischt apathisch Blutlachen mit einem Handtuch auf, bis nur noch ein hellrosa Fleck zurückbleibt. Menschen trauern um Freunde und Mütter, Brüder und Söhne. Vor dem Eingang des Krankenhauses liegen die Toten mit zusammengebundenen Händen und Füßen unter weißen Laken.

Inmitten des Chaos eilt Doktor Osman von Körper zu Körper, um seinen Hals baumelt ein Stethoskop, der Kittel ist blutverschmiert. Er geht zu einem Mann in Uniform, der auf einer Bahre liegt, von der Blut tropft und sich am Boden zu einer großen Pfütze sammelt. Es ist ein Regierungssoldat, aus einer Schusswunde am Oberschenkel sickert schwarzes Blut. Doktor Osman zieht eine Spritze mit Adrenalin auf, legt Kanülen, ein anderer pult die Kugel aus der Einschusswunde. Dann eilt er zum nächsten Patienten. Ein Schrapnell hat einen Teil des Hinterkopfes der Frau weggerissen. Sie ist tot. Doktor Osman schließt ihr die Augen, dann tragen Pfleger die Tote auf die Straße, bis sie von Verwandten abgeholt wird. Er sei erstaunt, sagt er, „wie viel die menschliche Seele ertragen kann“, und dass er sie täglich neu kalibrieren müsse, um nicht aufzugeben. Damals, vor drei Monaten, als die ersten Bomben fielen und die Opfer in die Intensivstation spülten, zitterten seine Hände so stark, dass ihm das Skalpell aus den Händen fiel. Seitdem erklimmt er jeden Tag den Gipfel des Erträglichen, und in den wenigen Ruhepausen versucht er, die Bilder zu vertreiben, die sich in seinem Kopf eingenistet haben und ihn nachts nicht schlafen lassen. Das dumpfe Krachen der Panzergranaten ist zum Soundtrack seines Lebens geworden.

Sechsmal ist das Krankenhaus direktes Ziel von Luftangriffen gewesen, mehr als zwanzig Mal schlugen Granaten in unmittelbarer Nähe ein. Die obersten Stockwerke sind zerstört, niemand wagt sich mehr dort hin, die Patientenzimmer sind leer, die Babystation mit den Brutkästen: zerstört. Die Einrichtung und Gerätschaften: zertrümmert. Die syrische Regierung sieht Krankenhäuser als legitimes Ziel ihrer Luftangriffe, genauso wie Ambulanzen, Bäckereien und Ärzte.

Doktor Osman ist ein schmaler Mann, der in einem grünen Arztkittel steckt, das Neonlicht der Deckenbeleuchtung zeichnet dunkle Ringe unter die müden Augen. Seine Haut wirkt fahl wie Milch. Er ist einer von sechs Ärzten, die nicht geflohen sind; immer müde und überarbeitet, immer in Angst. Seit Tagen hat er kaum geschlafen. Ein paar Stunden im Keller der Klinik neben sterbenden, schreienden und stöhnenden Patienten. „Wir haben hier täglich bis zu 150 Patienten. Etwa achtzig Prozent sind Zivilisten. Der Rest FSA-Kämpfer oder Regierungssoldaten.“ Erschöpft lehnt er sich gegen eine Wand, das Sprechen bereitet ihm Mühe, die Augen flackern vor Müdigkeit. Es dauert lange, bis er das Grauen in Worte fasst. Der Tod ist sein Begleiter geworden. „Die meisten Verwundeten benötigen Amputationen. Wir brauchen mehr Personal“, sagt er und reibt sich die Augen. „Gestern hatten wir viele tote Kinder“, weil ein Kampflugzeug eine Bäckerei in einem Vorort von Aleppo angegriffen hat, vor der hunderte Menschen für Brot anstanden. „Ich bin ausgelaugt vom Krieg. So viel Leid, so viele Tote. Wir werden beschossen, bombardiert und getötet, aber wir werden durchhalten bis zum Ende, bis Baschar al-Assad vertrieben ist.“ Er zuckt mit den Schultern, als draußen auf der Straße Maschinengewehre knattern. Rebellen versuchen einen Hubschrauber abzuschießen, der über dem Krankenhaus kreist. Kurz darauf schlagen Granaten ein, die nächste Welle von Verwundeten schwappt in Doktor Osmans improvisierte Operationssäle.

Im Februar 2013 ist aus dem arabischen Frühling ein syrischer Winter geworden. Von der Euphorie des Anfangs ist nicht mehr viel zu spüren. Die Hoffnung auf einen neuen Anfang ist Verzweiflung gewichen. Seit Wochen ist Aleppo von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten. Hungrige Menschen ziehen bettelnd durch die Straßen, wühlen im Müll nach etwas Essbaren. Menschliches Treibgut des Krieges, das niemand haben möchte, angeschwemmt aus den umkämpften Vierteln Aleppos und anderen Teilen Syriens; aus Azaz, Marea, Idlib, Atarib. Bäckereien sind oft geschlossen, weil es kaum noch Mehl zum backen gibt. Ein Kilo Brot kostet inzwischen fünfmal so viel wie noch vor sechs Monaten. Unerschwinglich für viele Menschen, die in einer Stadt ohne Arbeit und Einkommen leben. Die Temperaturen fallen auf null Grad und in den Häusern frieren diejenigen, die nicht wissen, wohin sie fliehen sollen. Um der Kälte zu trotzen verbrennen Anwohner Müll in ihren Wohnungen oder fällen die Bäume der Stadt. Das Krankenhaus, in dem Doktor Osman die Opfer versorgte, ist zerstört. Eine Rakete traf das Gebäude Ende November. Nichts ist, wie es einmal war. Das alte Leben versinkt im Grauschleier der Erinnerungen. Und ein Ende des Leidens ist nicht in Sicht.

Am Tag als die Rebellen der freien syrischen Armee Luftwaffenstützpunkte und Aleppos internationalen Flughafen angreifen und die Soldaten der Regierung immer weiter zurückdrängen, schlägt das Regime mit Kampfhubschraubern und Flugzeugen zurück. Wie wütende Insekten kreisen sie am Himmel, schießen wild auf Stellungen der Rebellen und treffen meist doch nur Wohngebiete und töten Zivilisten. Am Morgen explodiert eine Granate in einem Straßenzug und tötet neun spielende Kinder. Nachmittags trifft schlägt eine Rakete neben einem Kebab-Stand im Viertel Tarik al Bab ein. Nachts rollt das Donnern der Panzergranaten über die Stadt, ununterbrochen. Und in der Innenstadt ist ein Krieg der Scharschützen entbrannt.

Das Viertel Karm el Jebel, unweit der historischen Altstadt, wird seit Monaten verbissen von halbwüchsigen Rebellen gehalten, oft mit nicht mehr als ein paar Patronen in den Magazinen ihrer Kalschnikovs. „Wir können nicht mehr angreifen, weil wir kaum noch Munition haben“, sagt Ahmed, ein 22-jähriger Scharschütze, der sich in Zimmer im fünften Stock einer Ruine verschanzt hat und durch ein Loch in der Wand auf Stellungen der Regierung schießt, keine dreißig Meter von seinem Versteck entfernt. „Wir müssen Munition sparen, falls uns die Regierung angreift.“ Karm el Jebel ist nach sechs Monaten Häuserkampf eine Ruinenlandschaft, in der die Scharfschützen auf beiden Seiten den Tagesrhythmus bestimmen und in der mal die Rebellen ein paar Meter gewinnen, mal die Regierungssoldaten. Zerschossene Fassaden, gespickt mit Einschusslöchern. Eingestürzte Stockwerke, Schuttberge, ausgebrannte Geschäfte, entmenschtes Niemandsland. Ständig explodieren Granaten und in den ausgebombten Straßenzügen rosten Panzerwracks und liegen Tote, die niemand bergen kann und noch immer desertieren ständig Regierungssoldaten und schließen sich der Freien Syrischen Armee an. Als ein junger Mann in Uniform über eine Straße läuft, durchschlägt eine Kugel seine Wade. Er krümmt sich am Boden, ein Rebell zieht ihn aus der Schusslinie. „Allah u Akbar“, ruft der Mann im Schock. „Hätte er mich doch nur im Kopf getroffen. Dann wäre alles vorbei.“

Alltag in Aleppo, während Syrien längst Spielball im großen Armdrücken verschiedener Interessen geworden ist: Russland, China, Iran und die libanesische Hisbollah auf der einen Seite, Europa, die USA, Katar, die Türkei und Saudi Arabien auf der anderen. Der tägliche Überlebenskampf wringt die Kraft aus den Menschen, mit ausgezehrten Gesichtern hetzen sie durch die Gassen und Straßen der Millionenmetropole, in ständiger Angst suchen sie den Himmel nach Kampfflugzeugen ab und fragen an jeder Ecke, ob es sicher sei, die Straße zu überqueren, wo die Scharfschützen der Regierung lauern. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen, in die Verzweiflung mischt sich Hoffnungslosigkeit und Wut über die Gleichgültigkeit. „Die arabische Welt hat uns verraten, dem Westen sind wir gleichgültig und die Welt hat uns vergessen“, sagt Doktor Abdul, ein erschöpfter junger Kinderarzt mit müden Augen und buschigen roten Bart. Er steht im Erdgeschoss einer kleinen Einkaufspassage, die jetzt als notdürftiges Krankenhaus herhält. Doktor Abdul ist einer von sechs Ärzten, die nicht aus Aleppo geflohen sind, neben ihm liegt ein toter Mann mit offenem Schädel und abgerissenen Unterschenkel auf einer Trage. Doktor Abdul steht in einer Blutlache, seine Jeans ist mit Blut befleckt. „Warum hilft uns niemand“, fragt er verzweifelt, beschimpft das Regime, klagt Europa und Amerika an, dem Morden tatenlos zuzusehen. „Indem die Welt zusieht, hilft sie dem Regime, uns zu töten!“ Dann schimpft er auf die Dschihadisten und Islamisten, die der Westen als Terroristen ansieht und die immer mehr an Einfluss gewinnen, weil sie die Lücke mit Waffen und Kämpfern füllen, die andere offen lassen. „Das sind Verrückte, die die Revolution und den Islam verraten. Wir teilen deren Auffassung des Islam nicht, aber wir können es uns nicht leisten, wählerisch sein. Wir müssen die akzeptieren, die uns helfen wollen, weil es sonst niemand tut“, sagt er und fügt hinzu, dass das syrische Volk nicht die Diktatur Assads gegen eine islamistische austauschen möchte. „Dafür kämpfen und sterben wir nicht.“ Zur gleichen Zeit explodiert ein Granate im Viertel Hanao und kurz darauf kommen Menschen mit abgetrennten Gliedmaßen und klaffenden Wunden auf Bahren in die Einkaufspassage, in die die Einwohner Aleppos nur noch zum Sterben kommen.