Zeitenspiegel Reportagen

Im Land der Rhöner

Erschienen in "natur" 11/19

Von Fotograf Rainer Kwiotek und Autorin Rike Uhlenkamp

Wo Thüringen, Bayern und Hessen aufeinandertreffen, erhebt sich ein Meer sanfter Berge: die Rhön. Einst durch den Eisernen Vorhang getrennt, lädt die Region heute Naturfreunde, Abenteurer und Tierliebhaber gleichermaßen ein. Besuch in einem unterschätzten Mittelgebirge.

Im Land der Rhöner Wo Thüringen, Bayern und Hessen aufeinandertreffen, erhebt sich ein Meer sanfter Berge: die Rhön. Einst durch den Eisernen Vorhang getrennt, lädt die Region heute Naturfreunde, Abenteurer und Tierliebhaber gleichermaßen ein. Besuch in einem unterschätzten Mittelgebirge Dort über uns fliegt noch einer“, rufe ich Harald Jörges zu. Der Pilot sitzt hinter mir. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, starre ich in den Himmel. Drei Bussarde kreisen über uns, schrauben sich Runde für Runde in die Höhe – immer weiter Richtung Wolkendecke. „Wahnsinn“, platzt es aus mir heraus. Vergessen ist das mulmige Gefühl, mit dem ich vor wenigen Minuten in das Segelflugzeug gestiegen bin, vergessen die Furcht, sich ohne Motor, nur von der Energie der Sonne getragen, in die Luft zu begeben. Die Natur lässt uns nicht im Stich – nicht den Piloten Jörges und mich, nicht die Greifvögel. „Die wissen, wo die beste Thermik ist.“ Es sei ein idealer Nachmittag zum Fliegen, versicherte Jörges mir unten auf dem Flugplatz der Wasserkuppe, dem höchsten Berg Hessens, etwa 30 Kilometer östlich von Fulda. Die noch starke Herbstsonne trifft auf den abgekühlten Boden. „Die Luft heizt sich auf und die warmen Moleküle steigen nach oben – und wir mit ihnen“, erklärt Jörges. Er steuert das Segelflugzeug unter eine der weißen Schäfchenwolken, die den blauen Himmel übersäen und ein deutliches Zeichen für die Aufwinde sind. „Gleich zieht sie uns hoch!“ Vom Rand ins Zentrum Während wir immer höher steigen, schaue ich rechts und links nach unten. Aus der Luft hat man den besten Blick auf die Rhön. Auf etwa 1500 Quadratkilometern erstreckt sich das Mittelgebirge über die entlegenen Zipfel dreier Bundesländer: den äußersten Westen Thüringens, den Norden Bayerns und den Osten Hessens. Vor der Wende fiel die Rhön im Westen in das Zonenrandgebiet, lag im Osten in der Sperrzone. Diese Randlage ermöglichte es der Natur, sich an vielen Stellen ungestört auszubreiten. Doch das Mittelgebirge, das mit dem Ende der DDR plötzlich in das Zentrum Deutschlands rutschte und seit 1991 von der Unesco zum Biosphärenreservat ernannt wurde, blieb trotzdem lange eher unbeachtet. Zu bekannt sind die anderen deutschen Höhenzüge, wie die Alpen, der Schwarzwald oder der Harz. Doch wer sich wie wir auf eine Reise in das Dreiländereck aufmacht, trifft sie, die Menschen, die sich für ihre Region, die einzigartige Natur und Kultur einsetzen, um die Aufmerksamkeit der Touristen und Wanderer kämpfen. Dank ihnen feiern die Rhönschafe ein erfolgreiches Comeback, staunen Touristen auf den vielen Wanderwegen über den Fernblick, die Vielfalt an Pflanzen und Tieren, tapsen Besucher durch die stockdunkle Nacht, um Sterne und Planeten zu beobachten, oder sie schweben wie ich nahezu lautlos durch die Luft. Seit über 30 Jahren fliegt der 63-jährige Harald Jörges hauptberuflich Motor- und Segelflugzeuge, vor 18 Jahren übernahm er die Leitung der Segelflugschule. 1924 wurde sie gegründet und ist damit die weltweit älteste. Denn hier im Herzen der Rhön wurde das Segelfliegen geboren. Das Hochplateau und die sanften Hänge der 950 Meter hohen Wasserkuppe wurden wie viele Gebiete der Rhön im Mittelalter gerodet und als Weidefläche genutzt. Freie Felder und Sicht für Menschen, die sich Berghänge hinunterstürzen: Schon Anfang des 20. Jahrhunderts galt die Wasserkuppe als Mekka für Gleitsegler. Als die Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland den Motorflug verboten, zog es Flugzeugkonstrukteure, ehemalige Kriegspiloten und Flugbegeisterte erneut auf den Berg. Sie schraubten an den Flugzeugen, bauten die Motoren aus, experimentierten mit Materialien, übten Starts und studierten die Thermik. „Das Fliegen ohne Motor hatte niemand verboten.“ Heute starten die Segelflieger von der Wasserkuppe etwa 15?000 Mal im Jahr. „Dort rechts ist die ehemalige Grenze.“ Wo sie einst Deutschland teilte, erkennt man heute eine Schneise der Natur: das Grüne Band. Obwohl die Wasserkuppe keine 10 Kilometer von der Grenze entfernt lag, wurde hier auch vor 1989 geflogen. Jörges erinnert sich an die Zeit: „Es war ein beklemmendes Gefühl. Die Ortschaft da vorne war schon in der DDR.“ Die Grenze unten am Boden war hermetisch gesichert, doch in der Luft mussten sich die Piloten auskennen, um nicht versehentlich über den Eisernen Vorhang zu fliegen. Umso lieber denkt Jörges an die Zeit nach der Wende: An einem Sonntag im November boten er und seine Kollegen kostenlose Rundflüge „für die Neubürger“ an. „Es war ein regelrechter Boom. Sie wollten fliegen, endlich Freiheit erleben.“ Im hügeligen Reservat Jörges und ich segeln über das Feuchtgebiet Schwarzes Moor, den Rhönwald, über das Basaltblockmeer des Scharfsteins – sie liegen in den Kernzonen des 2400 Quadratmeter großen Biosphärenreservats. Hier wird die Natur sich selbst überlassen. In den weitaus größeren Pflege- und Entwicklungszonen werden die für die Region prägende Landwirtschaft, Handwerk und der naturschonende Tourismus geschützt und gefördert. Einer, der Besucher durch den thüringischen Teil des Biosphärenreservats führt, ist Rolf Orthey. Mit dem ausgebildeten Naturpädagogen laufen wir ein Teilstück des sogenannten Entdeckerpfades, eines 18 Kilometer langen Wanderwegs. Die Tour startet an der Erlebniswelt Rhönwald, einem interaktiven Besucherzentrum, für das Orthey arbeitet. Von dort wandern wir bergabwärts, seinen Erklärungen lauschend: „Die erste Besiedlung der Rhön gab es etwa 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung.“ Bandkeramiker lebten damals als Viehzüchter und Ackerbauern in dem Mittelgebirge. Auch in den folgenden Jahrhunderten besiedelten viele Volksgruppen das Gebiet, so wie zwischen 800 und 450 vor Christus die Kelten und um die Zeitenwende die Germanen. Der Name der Region geht auf sie zurück: „Hraun ist die germanische Bezeichnung für steinig, felsiger Grund“, erklärt der 61-jährige Orthey. Die Führung bietet er in seiner Freizeit an. Er ist begeistert von der Natur. „Schaut mal, der Baum dort ist mindestens 200 Jahre alt.“ Er deutet auf eine mächtige Buche auf der anderen Seite eines leise plätschernden Baches. Ihm folgend wandern wir weiter hinunter ins Tal. „Man kann annehmen, dass die Weidefläche früher bis hier hoch ging, denn das ist ein Hutebaum.“ Unter ihm weidete das Vieh, fraß die Bucheckern. Auch hier sieht man wie in vielen Teilen des Biosphärenreservats Rhön den Einfluss des Menschen auf die Natur. Die Krone des Baumes ist sehr tief, die Äste der Buche wurden heruntergebunden. „So spendeten sie noch mehr Schatten“, erklärt Orthey. Die Rhön, das raue, karge Gebirge, hat der Bevölkerung schon immer viel körperlichen Einsatz abverlangt. „Hier lebt ein ganz eigener Menschenschlag. Sie haben immer aus wenig etwas gemacht.“ Nach etwa zweieinhalb Stunden Wanderung kommen wir auf einem Parkplatz in Unterweid an. Mit dem Auto des Naturführers fahren wir zum Start der Tour zurück. Die Hauptattraktion der Erlebniswelt Rhönwald ist das Ausstellungszentrum Arche Rhön. „Es ist an die biblische Geschichte angelehnt. Wie Noah haben wir die Pflanzen und Tiere der Rhön mit in unser Schiff genommen, um über sie zu informieren, sie zu schützen.“ Ein großer Teil des Museums ist dabei dem Rhönschaf gewidmet. Schwarzer, hornloser Kopf, weißer Körper, lange Beine – sein spezielles Aussehen hat das Tier zum Aushängeschild der Region gemacht. Doch das Schaf ziert nicht nur die Cover zahlreicher Reiseführer: Die Nutztierrasse, eine der ältesten Deutschlands, pflegt die mageren Hänge und Wiesen des Mittelgebirges, verhindert, dass die Landschaft verbuscht. „Die Schafe sind unsere Gebirgsrasenmäher“, so Orthey. Der Kampf für das Rhön-Maskottchen Mehrere Hundert der Landschaftspfleger stehen auch auf einer Weide oberhalb von Oberelsbach-Ginolfs in Bayern. Sie gehören zu Josef Kolb. In ausgewaschenem Schäferhemd und mit Schäferschippe in der Hand beobachtet er seinen Strobel Rudi, der aufgeregt um die Schafherde hin- und herrennt. Seit fast 35 Jahren hält und züchtet Kolb die Rhönschafe. Er ist damit einer ihrer Lebensretter. Weideten einst mehrere Hunderttausend der Tiere auf den Rhönwiesen, waren es Mitte der 70er Jahre nur noch 300. Die Fleisch- und Wollimporte aus dem Ausland wurden immer billiger. Die Wolle der Rhönschafe ist dick und grob; sie eignet sich schlechter als andere für die Herstellung von Kleidung. Außerdem gibt die Rasse weniger Fleisch als andere. Um die Nutztierrasse zu retten und mit ihnen auch die Kulturlandschaft, startete der BUND 1985 das Rhönschaf-Projekt und gewann Landwirte dafür, eine kleine Herde zu übernehmen. So auch Josef Kolb. Neben Kolb gab es in Bayern und Hessen nur wenig andere Schäfer. Die Grenze stellte für das gesunde Überleben des Rhönschafs ein Problem dar. Hüben wie drüben gingen den Züchtern die Böcke aus, es drohte die Inzucht. „Nach der Wende sind wir sofort rüber, um unsere Böcke zu tauschen“, sagt Kolb. Insgesamt ist die Zahl der Rhönschafe in der gesamten Rhön heute wieder auf mehrere Tausend Tiere angestiegen. Gut für die Pflege der Landschaft. Doch auch für Kolb hat sich der Aufwand gelohnt: Seine Herde ist inzwischen auf 450 Muttertiere angewachsen, mit dem Verkauf von Lammfleisch und Wolle kann er sich und seine Familie ernähren. Er vertreibt seine Produkte in einem Hofladen und beliefert Restaurants in der Umgebung. Zum Schafabtrieb organisiert der Biolandwirt in seinem Dorf einen Bauernmarkt, er führt Besucher durch seinen Stall. „Sie erfahren mehr über meinen Alltag als Schäfer und werden mit allen Sinnen angesprochen: Bei mir können sie die Tiere anschauen, sie können sie füttern, sie riechen, hören, wie sie blöken, und zum Schluss können sie die Schafe schmecken“, sagt Kolb. Unter den Sternen Im hessischen Teil der Rhön, etwa 30 Kilometer von Kolbs Stall entfernt, kramt Bettina Herbst in ihrem großen Einkaufskorb und fragt: „Welche Sternenbilder seht ihr?“ „Den großen Wagen“, schallt es aus der Gruppe zurück. Mit Anorak, Schal und von einigen Gläsern Apfelwein gewärmt stehen etwa 20 Menschen vor ihr. Alle blicken in den Nachthimmel. „Genau, den erkennt fast jeder, aber wusstet ihr, dass man an ihm auch die Himmelsrichtung bestimmen kann?“ Herbst zieht eine große Taschenlampe aus dem Korb und leuchtet auf die zwei Sterne, die die Rückwand des Wagens bilden. „Wenn ich den Abstand fünffach nach oben verlängere, lande ich beim Polarstern, der steht im Norden.“ Das wenig besiedelte Mittelgebirge ist einer der besten Plätze, um in Deutschland Sterne, Planeten und den Mond zu beobachten. Die Lichtverschmutzung, also das Aufhellen des Nachthimmels durch künstliches Licht, ist hier vergleichsweise gering. 2014 wurde das Biosphärenreservat Rhön deshalb von der Dark-Sky Association offiziell als Sternenpark anerkannt. „Doch, dass wir hier so toll Sterne beobachten können, ist eigentlich nur der positive Nebeneffekt“, sagt Herbst. Die dunkle Nacht ist wichtig für viele Tiere und Pflanzen. Einige Insekten bestäuben nachts, viele Zugvögel fliegen überwiegend in der Dunkelheit. „Schaltet man den Tieren in der Nacht das Licht an, ist das so, wie wenn es für uns mitten am Tag stockdunkel wird. Sie verlieren die Orientierung und können nicht mehr so leben, wie es ihrer Natur entspricht.“ In den Gemeinden im Rhöner Sternenpark, der sich über alle drei Bundesländer erstreckt, wurde die Außenbeleuchtung so verändert, dass das künstliche Licht nicht mehr in den Himmel strahlt. Einige Dörfer schalten nachts für einige Stunden das Licht komplett aus. So auch die Kleinstadt Tann. Dort arbeitet Bettina Herbst bei der Touristeninformation. Seit drei Jahren leitet sie Besucher nachts durch die Natur. Der Strahl ihrer Taschenlampe, mit dem sie immer nur kurz auf die Sterne deutet, über die sie spricht, ist das einzige erlaubte künstliche Licht auf der Wanderung. „Unsere Augen können im Dunkeln besser sehen, als wir denken. Und wir haben ja auch noch einen sehr hellen Begleiter“, sagt Herbst. Wie ein Scheinwerfer strahlt der Halbmond auf uns hinunter. Wir laufen weiter einen Hügel hoch, lassen die beiden Ortschaften zurück, die soeben noch ein wenig der Dunkelheit gestohlen hatten. Oben präsentiert uns die Nacht ein funkelndes Himmelskino. „Als die Menschen noch nicht so viel über die Sterne wussten, dachten viele, sie stünden bei dem Blick in den Nachthimmel Auge in Auge mit den Göttern“, sagt Herbst. Die Menschen interpretierten die Sterne, begannen sich Sagen auszudenken. „Interessanterweise haben unterschiedliche Kulturen ähnliche Sternenkonstellationen zu Sternenbildern zusammengefasst“, sagt Herbst. „Der Teil des Sternenbildes Großer Bär, der bei uns als großer Wagen bezeichnet wird, ist in Amerika die große Suppenkelle.“ Noch eine ganze Weile stehen wir auf dem Hügel, wippen gegen die Kälte von einem Fuß auf den anderen, lauschen den Geschichten über die Sternenbilder. Die Segelflieger, die blökenden Rhönschafe, die Aussicht auf die Hügelwellen des Mittelgebirges und die Sternschnuppen, die an diesem Abend ab und an über das Firmament huschen – sie alle buhlen um die Aufmerksamkeit der Besucher für die Rhön. Mit Erfolg.