Zeitenspiegel Reportagen

Kalt und alt

Erschienen in "Berliner Zeitung", 13. Mai 2017

Von Autor Bernd Hauser

Der Grönlandhai galt lange als träger Müllschlucker der arktischen Meere. Doch er ist ein gefährliches Raubtier – und wird mehr als 270 Jahre alt.

Es war im Jahr 2002, als der Grönlandhai John Fleng Steffensens Forscherleben in neue Bahnen lenkte. Der Meeresbiologe tuckerte mit dem Forschungskutter Porsild den Uummannaq-Fjord an der Westküste Grönlands hinauf, als vor dem Bug die Jolle eines einheimischen Jägers auftauchte. Das offene Boot lag schwer im Wasser, der Jäger hatte einen riesigen Fisch gefangen: Ein betongraues Tier, dreieinhalb Meter lang, mit kleinem Kopf und merkwürdig trüben Augen. „Ein Grönlandhai“, sagte der Kapitän der Porsild zu Steffensen. „Der ist zu nichts zu gebrauchen, außer als Hundefutter. Aber selbst das nur getrocknet – von frischem Haifleisch werden die Hunde völlig besoffen! Übrigens können die Viecher sehr alt werden. Vielleicht 200 Jahre oder noch älter, wer weiß das schon?“

Steffensen horchte auf. Sein ganzes Arbeitsleben hatte er sich mit dem Stoffwechsel von Fischen beschäftigt. Aber dem Grönlandhai nachzustellen, der auch als Eishai bekannt ist, das kam ihm nun zum ersten Mal in den Sinn. Haifleisch, das Rauschzustände auslösen kann? Und hatte der grönländische Kapitän Recht, war dieser Hai älter als alle anderen Wirbeltiere? Bislang hielt ein Säuger den Rekord, der im gleichen Biotop heimisch ist wie der Eishai: der Grönlandwal mit 211 Jahren.

In der Fachliteratur fand Steffensen nicht viel über den Grönlandhai. Der arktische Großfisch ist dem Menschen bis heute ein großteils unbekanntes Wesen. Immerhin aber stieß der Meeresbiologe auf einen alten Aufsatz von Paul Marinus Hansen, eines dänischen Fischereibiologen, der sich seit den 1930er-Jahren in Grönland für den Eishai interessierte. „Im Laufe der Jahre maß Hansen die Länge von 425 lebend gefangenen Haien, markierte sie und ließ sie wieder vom Haken“, erzählt Steffensen in seinem Büro am Meeresbiologischen Laboratorium der Universität Kopenhagen. Er erzählt mit einer Freude, als stünde er vor einem großen Auditorium. Der 62-Jährige ist einer jener Professoren, die sich ihre jungenhafte Neugier und Begeisterung über ein langes Forscherleben hinweg bewahren. Sicherlich müssen die Haken riesig sein, um den zweitgrößten fleischfressenden Hai der Erde fangen zu können? „Moment“, sagt Steffensen, springt auf und eilt aus der Tür. Eine Minute später kommt er wieder und lässt eine Kette aus Edelstahl auf den Tisch klirren, an der Spitze ein Haken, groß wie ein Handteller. „Eine Angelschnur bis zum Haken könnte der Hai abbeißen, deshalb die Kette.“ Als Köder kann man praktisch alles nehmen, was für den Hai fressbar und gerade zur Hand ist. „Aber je mehr es stinkt, desto besser: Speck gestrandeter Wale, Seehund-Aas, Hundekadaver von der lokalen Müllkippe“, zählt Steffensen auf. Von letzteren gibt es in Grönland tatsächlich einige, denn viele Einheimische sehen Schlittenhunde als reine Arbeitstiere. Wenn sie zu aggressiv sind und sich nicht ins Gespann einfügen, werden sie erschossen.

Einer der Haie, die Fischereibiologe Hansen im Jahre 1936 markierte, wurde nach 16 Jahren wieder gefangen – und war in dieser Zeit lediglich um acht Zentimeter gewachsen, also von 262 auf 270 Zentimeter Länge. Fische wachsen ihr Leben lang. „Wenn aber die Haie weniger als einen Zentimeter pro Jahr wachsen, braucht es keine großen Rechenkünste, um zu erahnen, wie alt sie bei rund fünf Metern Länge werden können“, sagt Steffensen. Doch Hansen lieferte nur ein paar spannende Indizien, keine wissenschaftlichen Belege. Bei Knorpelfischen sind Altersbestimmungen extrem schwierig.

Ein Physiker und Spezialist für die Radiokarbon-Methode an der Universität Aarhus brachte Steffensen auf die Idee, wie man dem Knorpelfisch das Geheimnis seines Alters entlocken kann. Die Jungen der Eishaie kommen voll entwickelt zur Welt, der Kern der Augenlinse entsteht bereits im Mutterleib – und unterliegt danach keinen Stoffwechselprozessen mehr. Damit sind die Linsen eine Zeitmarke, die sich mit der C14-Methode zumindest ungefähr datieren lässt. Weil man die Halbwertszeit des radioaktiven Isotops C14 kennt, kann man durch die Messung der noch vorhandenen Menge des Isotops in einem Gewebe Rückschlüsse auf dessen Alter ziehen. Doch die Ergebnisse der C14-Methode sind nicht immer eindeutig. So ist beispielsweise ein Unsicherheitsfaktor, dass die Mutterhaie der untersuchten Tiere durch verschiedene Tiefen schwammen. Das Isotop im Tiefenwasser kommt aber in anderen Konzentrationen vor als nahe an der Meeresoberfläche. Deshalb nahmen die Forscher die Körpermaße und Augenlinsen von insgesamt 28 weiblichen Haien in ihre Berechnungen auf. Dabei half ihnen die unter Biologen berühmte Bertalanffy-Gleichung. Sie beschreibt, wie Fische wachsen: ihr ganzes Leben lang, aber mit zunehmendem Alter immer langsamer. Mit Hilfe dieser Gleichung setzten sie die Daten der gefangenen Fische zueinander in Beziehung. So konnten sie schlussfolgern, dass der mit 502 Zentimetern größte der untersuchten Haie wahrscheinlich seit 392 Jahren durch die Meere schwimmt. Jedoch ist dieses Alter mit einer statistischen Unsicherheit von 120 Jahren behaftet. Es ist also möglich, dass der Hai bereits wenige Jahre nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus geboren wurde. Mit großer Sicherheit wurde das Tier aber zumindest 272 Jahre alt – weltweiter Rekord bei den Wirbeltieren.

Wer so alt wird, lässt es offenbar mit der Vermehrung gemächlicher angehen als andere Arten. Nach den Untersuchungen des Teams um Steffensen werden die Weibchen erst in einem Alter von rund 150 Jahren geschlechtsreif. Für die langsame Entwicklung der Tiere ist ihr stark reduzierter Stoffwechsel verantwortlich – bedingt durch die niedrigen Temperaturen in ihrem Lebensraum. Der Fisch passt seine Körpertemperatur der Wassertemperatur an, die bei 5 Grad Celsius bis minus 1 Grad Celsius liegt.

Überhaupt scheint ein gewisses Phlegma für den Hai typisch zu sein, wie man auch in einem alten Schmalfilm sehen kann. „Ein fantastisches Zeitdokument“, sagt Steffensen und klickt auf seinem Computer auf „Play“. Man sieht einen grönländischen Jäger im Kajak auf Hai-Jagd. Als er einen Grönlandhai am Haken hat und aus der Tiefe zieht, liegt dieser völlig passiv neben dem Kajak an der Wasseroberfläche. Seelenruhig sitzt der Jäger in seiner Nussschale und stößt dem Tier einen Speer ins Rückenmark, um es zu lähmen. Dann dreht er den Hai und schlitzt ihm mit einem kleinen Messer die Bauchdecke auf. Den Ärmel des Anoraks hochgeschoben, verschwindet der Arm des Jägers bis zum Ellenbogen im Bauch des Hais, um eine längliche helle Masse herauszuziehen: Die Leber, die bis zu 15 Prozent des Körpergewichts ausmachen kann.

Bis in die 1960er-Jahre wurden die Lebern von jährlich 10?000 bis 30?000 Eishaien nach Dänemark verschifft – sie waren wertvoller Grundstoff für Lebertran, für Lampen- und Maschinenöl. Dann machten andere Vitaminquellen und neue synthetische Schmierstoffe dem Export ein Ende – und damit auch dem ökonomischen Interesse des Menschen am Grönlandhai.

Lange Zeit glaubte man, das Tier sei vor allem ein Müllschlucker, der auf der ewigen Suche nach herabsinkendem Aas durch die Tiefen schleicht. Doch wenn Steffensen vor Grönland mit einem Dutzend Haken an einer Langleine nach Haien fischt, darf die Leine nur wenige Stunden in der Tiefe bleiben: „Sobald ein Hai angebissen hat, besteht ein hohes Risiko, dass er Kannibalismus zum Opfer fällt.“ Im Jahr 2012 wollten der Biologe und sein Team den Speiseplan von 40 gefangenen Eishaien erkunden. Doch die Mägen von 19 Haien konnten nicht ausgewertet werden – weil sie nicht mehr da waren. Artgenossen hatten sie angegriffen und halb aufgefressen. In vielen der 21 vorliegenden Mägen war Kabeljau, Rochen und Seewolf in einer Zahl, die darauf deuten, dass der Eishai ein aktiver Jäger ist. Einer der Seewölfe hatte selbst noch einen Beutefisch im Schlund, als der Hai ihn fraß. Besonders erstaunlich ist, dass sich auch komplette Sattelrobben in den Hai-Mägen fanden. Wie der Grönlandhai Robben überwältigt, ist völlig ungeklärt. Bislang zeigten Messungen mit Sendern, dass der Hai gewöhnlich mit einer Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Stunde durch das Wasser schleicht. Als Höchstgeschwindigkeit soll er 2,6 Kilometer pro Stunde erreichen – er ist also viel langsamer als Robben. Hinzu kommt, dass die Haie wahrscheinlich alle blind sind. Dafür sorgt ein bis zu acht Zentimeter langer Ruderfußkrebs, der sich als Parasit an der Hornhaut des Hai-Auges festsetzt und seinen Sehsinn zumindest stark einschränkt. Doch dafür soll das Riechvermögen des Tieres phänomenal sein. „Möglicherweise erwischt er die Robben im Schlaf“, sagt Professor Steffensen. Aus Angst vor Eisbären machen manche Robben ihr Nickerchen lieber im Wasser als auf dem Land. Die Forscher vermuten, dass der Hai seine Beute mit einem großen Sog ins Wasser zieht. „Die Zähne am Oberkiefer sind nach innen gerichtet“, sagt Steffensen. „Wer erstmal im Maul ist, kommt nicht wieder raus.“ Aber im Grunde seien das Spekulationen – die Haie könnten bei der Jagd auch für kurze Zeit sehr schnell sein. Eines immerhin ist durch die Forschung von Steffensen und seinem Team sicher: Der Grönlandhai ist ein Spitzenräuber und eine bislang unterschätzte Spezies im arktischen Ökosystem. Und was ist mit der vor der Westküste Grönlands an Steffensen herangetragenen Warnung, wonach ein Rausch drohe, sollte man Haifleisch kosten? Wer seinen Hunden frischen Hai zum Fraß vorwirft, hieß es, mache sie „shark drunk“, haitrunken, und zwei Tage lang unbrauchbar. Die Warnung ist kein Seemannsgarn. Der Grund für die taumelnden Schlittenhunde ist das Trimethylaminoxid, das im Haikörper in großer Konzentration vorkommt. Bei der Verdauung wird es zu Trimethylamin (TMA) abgebaut, das bei den Hunden zu Rauschsymptomen führt. Doch John Fleng Steffensen wäre kein guter Wissenschaftler, würde er nicht jede Weisheit anzweifeln, wenn neue Erkenntnisse auftauchen: Ein befreundeter Grönländer erzählte ihm, dass seine Hunde das frische Haifleisch genössen, ohne die Symptome zu entwickeln. Also brieten auch Steffensen und einige Teamkollegen frische Haifilets in der Pfanne. „Die Textur ist eine Mischung aus Krabben und Hühnchen“, erinnert er sich, und der Rausch sei ausgeblieben. „Die Hunde der Grönländer sind oft sehr ausgehungert. Wenn sie etwas zu fressen bekommen, können sie eine Menge verschlingen, die ein Zehntel ihres Körpergewichts ausmacht – in diesen Mengen beginnt das TMA dann tatsächlich zu wirken.“ Für die Grönländer war der Eigenversuch der Wissenschaftler so bemerkenswert, dass das grönländische Radio darüber berichtete, erzählt Steffensen und lacht: „Die verrückten Dänen essen Eishai!“ Dabei gilt Eishai anderswo im Nordatlantik sogar als Delikatesse – aber erst, nachdem das Fleisch im Boden vergraben oder in Kisten liegend mehrere Wochen verrottete: Der Stuttgarter Fernsehkoch Vincent Klink hat auf einer Exkursion nach Island ein Bröckchen dieser Spezialität namens Hákarl probiert. Der Geschmack des Gammelfischs erinnerte ihn an „überreifen Käse, Romadur im Endstadium zum Beispiel, mit einem Schuss Pferdeurin“.

Viel größer noch als nach der Hai-Mahlzeit von Steffensens Team war die Medienresonanz, nachdem die Wissenschaftler ihre Untersuchung zur Altersbestimmung der Haie in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht hatten. Weltweit berichteten die Zeitungen und Online-Newsportale – aber der Alltag habe ihn schnell wieder gehabt, meint Steffensen. Derzeit bereitet er eine weitere Forschungsfahrt vor. Auf dieser sollen Haie mit jeweils vier Satellitensendern ausgestattet werden, um mehr über die Wanderung der Haie zu erfahren. „Wir vermuten nämlich, dass sie Tausende von Kilometern zurücklegen und von der grönländischen Küste bis weit in die Tiefen der Baffin Bay, dem Randmeer zwischen Grönland und Kanada, vordringen“, erklärt der Biologe. Die geplanten Studien sind ein kostspieliges Unterfangen. Die Sender kosten rund 3?500 Euro pro Stück. „Es ist immer unheimlich mühevoll, das nötige Geld für Expeditionen aufzutreiben“, sagt Steffensen. „Mit Ruhm lassen sie sich leider nicht bezahlen.“