Zeitenspiegel Reportagen

Königin der Meere

Erschienen in der Berliner Zeitung am 20.11.2019

Von Autor Bernd Hauser

Austern sind Luxus – selten und kostbar, von Feinschmeckern geschätzt. Fast alle dieser Schalentiere stammen mittlerweile aus Zuchtbetrieben. Nur im dänischen Limfjord wird die Europäische Auster noch gefischt. Doch langsam macht sich auch in Dänemark die Pazifische Auster breit. Das hat Folgen.

Die Mittagssonne steht tief, der Limfjord liegt in kaltem Blau vor uns. „Dann wollen wir den Schatz mal heben“, sagt Niels Nielsen, Skipper der „Egon P“, ein Forschungsboot, feuerrot und klein. Seit Nielsen 20 ist, arbeitet er auf Schiffen, er fing mit dem eigenen Kutter Kabeljau, verlegte als Schlepperkapitän vor Brasilien Stromkabel. „Aber kleine Kinder vertragen sich nicht mit dem Seemannsleben“, sagt Nielsen, ein 45 Jahre alter Hüne. Also kehrte er zur Familie an den heimischen Limfjord zurück. 1500 Quadratkilometer groß ist der Sund im Norden Dänemarks.

Das Fanggeschirr taucht aus den Fluten auf, der Inhalt ergießt sich schwarz und schwer aufs Heck: Tausende Miesmuscheln, dazwischen aufgepumpte Seesterne, sie leben offenbar prächtig von den Schalentieren. Zwischen den Muscheln zieht der Skipper die wahren Goldstücke hervor, hart und handtellergroß: drei Dutzend Prachtexemplare der Limfjord-Auster, die exklusivste Speise der nordischen Küche. Schon ein einziges Exemplar kann in Kopenhagener Restaurants acht Euro kosten.

94 Prozent der weltweit verzehrten Weichtiere sind Pazifische Austern aus Aquakulturen, die Europäische Auster macht nur einen winzigen Anteil von 0,2 Prozent aus. Und der Limfjord ist eine Ausnahme: Hier wird die Europäische Auster nicht gezüchtet. Die Fischer fördern weiterhin nur wildlebende Exemplare vom Grund des seichten Sundes. Einst fischte man auch vor Sylt und anderen Nordseeinseln nach ihnen. Genauer: Man überfischte sie. Deshalb sind sie im deutschen Wattenmeer schon lange verschwunden. Am Limfjord jedoch passen Niels Nielsen und seine Kollegen vom Schalentierzentrum von Dänemarks Technischer Universität (DTU) auf den einzigartigen Bestand auf. „Auf der Basis unserer Probefischzüge werden die Quoten festgelegt“, sagt Nielsen. Im Jahr 2018 beispielsweise wurden nur rund 300 Tonnen des Schatzes gehoben, etwa zehn Prozent der insgesamt angenommenen Menge.

Bislang wird nur eines von hundert Limfjord-Exemplaren in Dänemark verspeist. Der Großteil wird ins spanische Galicien, nach Madrid und Barcelona geflogen, wo Restaurants ungeduldig darauf warten. Zwar haben die Küsten in Dänemark eine Länge von 7400 Kilometern, Schalentiere gehören aber nicht zu den Nationalgerichten. Stattdessen gebratener Schweinebauch – die Dänen waren immer viel mehr ein Volk der Händler als der Gourmets. Das ändert sich langsam durch den Einfluss der neuen nordischen Küche. Der Trend, von Spitzenchefs wie René Redzepi aus dem Kopenhagener Restaurant Noma begründet, erreicht die Küchen selbst in abgelegenen Ecken des Landes: Überall setzen sie auf regionale und saisonale Zutaten und deren Wieder- oder Neuentdeckung, etwa Tang von den flachen Küsten oder Sanddorn aus den Dünen – eine Rückbesinnung darauf, was die einheimische Natur zu bieten hat.

Weiter nördlich als im Limfjord kann die Europäische Auster die Winter kaum überleben. Die niedrige Wassertemperatur sei auch der Grund dafür, sagt René Redzepi, warum sie die beste der Welt sei: Je kälter das Wasser, desto langsamer das Wachstum und desto intensiver der Geschmack. Niels Nielsen legt eine Auster in ein gefaltetes Küchentuch. Das schützt ihn, falls er mit dem Messer abrutscht. Geübt sticht er am Scharnier zwischen die Schalen, durchtrennt den Schließmuskel, entfernt die Oberschale – und das Weichtier liegt in seinem Perlmutt-Bett appetitlich vor uns. Etwas Limettensaft darüber, dann schlürft man es roh.

Eine Auster macht in ihrem Leben nichts anderes, als an einem Ort zu hocken, Wasser durch ihre Kiemen zu pumpen und Kleinstlebewesen herauszufiltern. Man kann sagen: Sie konzentriert den Geschmack der See. Die Limfjord-Exemplare fühlen sich auf der Zunge überraschend fleischig an. Sie schmecken sanft salzig, etwas nussig und vor allem: frisch. Als hätte man Meer im Mund. Neulinge kostet es oft ein wenig Überwindung, das Tier aus seiner Unterschale zu lösen und quasi mit noch schlagendem Herzen zu probieren, auch wenn man weiß, dass das gehirnlose Weichtier dabei nichts fühlt. Für Erwin Lauterbach, Chef im Kopenhagener Restaurant Lumskebugten, ist es wie bei anderen raffinierten Genüssen auch: Erfahrung erzeugt Erlebnistiefe. „Die erste Auster schmeckt nicht. Sie erfordert Gewöhnung“, sagt Lauterbach. Dabei müsse sie gar nicht die Hauptrolle spielen. Sie entfalte ihre Kraft ganz allein. Ein Alltagsgericht können zum Beispiel Sahnekartoffeln mit zwei, drei Weichtieren als Beilage sein: „Es darf gerne einfach und festlich gleichzeitig sein – so sind Austern.“

Klaus Louring dagegen genießt sie am liebsten auf Art der Steinzeitmenschen. Doch bevor wir diese Zubereitungsart ausprobieren können, müssen wir auf der Insel Fanø im dänischen Wattenmeer selbst zu Jägern und Sammlern werden. Louring, 56 Jahre alt, war in seiner Jugend Seemann, fuhr auf Containerschiffen zwischen Europa und Asien. Als Küstenführer auf Fanø weiht er nun Schulklassen und Touristen in die Geheimnisse des Wattenmeers ein. Bei Ebbe führt er seine Zuhörer zu den jungen Bänken der Pazifischen Auster. Seit den Neunzigerjahren beobachten die Wattwanderer, wie sich die besonders robuste invasive Art an der dänischen Küste ausbreitet. Sie hat besonders feste Schalen mit scharfen Kanten. Die freilebenden Weichtiere dürften Nachkommen zahlreicher Zuchtbetriebe rund um die Nordsee sein: Eier und Samen befruchten sich im Wasser, die Larven werden mit der Strömung weit getragen. Wo sich die Austern festsetzen, kann niemand kontrollieren. „Und im Wattenmeer hat die Pazifische Auster nur einen Feind“, erklärt Louring, als wir die ersten Exemplare im Schlick finden. „Den Homo sapiens mit einem guten Appetit.“

Noch ist nicht genau erforscht, was die invasive Art für die Ökologie im Wattenmeer bedeutet. Aber es scheint, dass sie einheimische Arten wie die Miesmuscheln ausbremsen kann. „Man beobachtet mancherorts, dass die Muschelbestände und die einzelnen Exemplare kleiner werden“, sagt Louring. Das könnte damit zusammenhängen, dass Austern wie Muscheln auf die gleiche Nahrung angewiesen sind, die ihnen mit den Gezeiten vor die Kiemen gespült wird. „Eine Auster filtert zwölf Liter Wasser pro Stunde nach Kleinstlebewesen ab“, erklärt Louring. Eine Miesmuschel schafft dagegen maximal sechs Liter.

Gäbe es aber keine Muscheln mehr oder deutlich weniger, kämen die Millionen Zugvögel in Bedrängnis, die im Watt Station machen und sich für den Weiterflug stärken: Muscheln können sie knacken, Austern nicht. „Je mehr Austern wir sammeln, desto besser“, sagt Louring. Wir gehen fast zwei Kilometer weit ins Watt hinaus, an Hunderten „Spaghetti-Fabriken“ vorbei, wie Louring die Häufchen der Wattwürmer nennt. Dann plötzlich liegen etliche Austern-Exemplare halb bedeckt und scharfkantig im Schlick vor uns, geduldig auf neue Nahrung wartend, die mit der Flut heranrollen wird.

Einige Austern werden dann gleich am Strand probiert, dort hat der Wattführer ein Lagerfeuer entzündet. „In der Steinzeit gab es nur Messer aus Feuerstein. Damit kriegst du keine Auster auf“, sagt Louring und legt einige Exemplare auf die Glut. Nach einigen Minuten auf dem Feuer kocht die Flüssigkeit in der Auster, dehnt sich aus, und die Schalen ploppen auf. „Gedämpft in der eigenen Schale, wird die Konsistenz des Fleisches fester“, sagt Louring. „Das erinnert dann an Miesmuscheln.“ Es ist ein Genuss, wie ihn die Menschen von Ertebølle am Limfjord schon vor 7400 Jahren kannten. Das bezeugt ein riesiger Haufen aus Austernschalen, den Archäologen entlang der einstigen Küstenlinie ausgruben. Er ist 140 Meter lang, 20 Meter breit und zwei Meter hoch: Über den Zeitraum von 1500 Jahren sammelten und knackten Steinzeitmenschen die Meeresfrüchte am Strand über ihren Feuern. Zwischen den Schalen finden sich Fischknochen und Tonscherben mit Überresten angebrannter Bouillabaisse. Auch Reste menschlicher Skelette haben die Archäologen in dem Haufen entdeckt. Durch die Untersuchung der Knochen weiß man, dass die Menschen damals gesünder waren als später, als sie Bauern wurden und von Getreide- und Viehwirtschaft lebten.

Wie viele Limfjord-Austern es in Zukunft in Dänemark geben wird, hängt auch von deren bemerkenswertem Geschlechtsleben ab. Ein Stubenhocker, der sich in härtestem Calciumcarbonat verpanzert, muss kreativ sein, wenn er sich vermehren will: Austern können ihr Geschlecht wechseln. Die meiste Zeit sind die Limfjord-Austern männlich. Nur in schönen Sommern, wenn die Wassertemperatur längere Zeit über 18 Grad steigt und viel Plankton im Wasser ist, werden die Austern weiblich und produzieren Eier.

In Dänemark waren die vergangenen beiden Sommer außergewöhnlich warm. Teils betrug die Wassertemperatur an der Limfjord-Oberfläche schon im Mai erstaunliche 23 Grad. Drei Jahre brauchen die Limfjord-Austern, bis sie auf 100 Gramm Verzehrgröße herangewachsen sind. Es sieht so aus, als ob die Liebhaber der besten Auster der Welt guten Zeiten entgegenblicken.