Zeitenspiegel Reportagen

Tu was für dein Geld, Leprakranker!

Erschienen in "brand eins" 09/10. Fotos: Sally Bierman

Von Autor Markus Wanzeck

Die Dortmunderin Marianne Grosspietsch gründet in Nepal spontan eine Hilfsorganisation. Und macht daraus mit Liebe, eisernem Willen und Humor ein Vorzeigeunternehmen. Denn Arbeit kann heilen.

Nepal ist die verarmte, liebenswert-chaotische WG hoch oben im Dachgeschoss der Welt. Meist kommt es in Nepal anders, als man denkt. Vielleicht lässt sich gerade deshalb dort so gut eine Geschichte über Glück erzählen. Und vielleicht steht es dieser Geschichte, dass sie ganz woanders beginnt: in der Hohen Straße in Dortmund, einer Nachkriegsklinker- und Betonbautenflucht.

Schräg gegenüber von Casino Royal und dem Buchmacher Schickle liegt der Laden der Shanti Leprahilfe Dortmund. Er heißt Ganesh, nach dem hinduistischen Elefantengott, dem Überwinder aller Schwierigkeiten. Von außen wirkt der Laden wie eine Apotheke auf Ecstasy: eine biedere, weiß gefasste Schaufensterfront, darin bunte, wild durcheinander wogende Wimpelketten mit buddhistischen Gebetssprüchen.

Im Verkaufsraum Himalaja-Kitsch und Handgearbeitetes. Im Hinterzimmer, neben einer Kiste voller Stoffengel, sitzt im flieder­farbenen Seidenblouson Herbert Grosspietsch und sagt: „Ich bin doch bei Shanti nur der Bleistiftstemmer.“ Der, der sich um die Verwaltung und Buchhaltung kümmert. Den Papierkram, die Briefe für die 4000 Freunde und Förderer des Hilfsprojektes. Es ist ein Vollzeitjob, der das Rentnerleben des ehemaligen Maschinen-Vertriebsingenieurs seit Jahren gut ausfüllt.

Das Geschäft wurde ebenso wie die Shanti Leprahilfe 1992 von Herbert Grosspietschs Ehefrau Marianne gegründet. Doch während der Laden in Dortmund klein und unscheinbar blieb, ist Shanti gewachsen, zu einer der größten privaten Hilfsorganisationen Nepals – einem an vielem, aber nicht an Hilfsorganisationen armen Land. Um die 1500 Menschen werden mittlerweile von dem Verein unterstützt; sie sind Teil der Shanti-Familie.

Shanti ist tatsächlich eine Familien-Hilfsorganisation. Mit Marianne Grosspietsch als treibender Kraft. Ihrer Tochter Dori als Geschäftsführerin des Ganesh-Ladens. Und Vater Herbert als „Bleistiftstemmer“. Dazu eine Handvoll Freunde sowie ein kleiner Partnerverein in Nepal. So gelingt es seit mehr als 200 Monaten, die laufenden Kosten für den jeweiligen Folgemonat zusammenzubekommen – rund 40000 Euro inzwischen.

40000 Euro sind wenig. Nur etwa 27 Euro pro Kopf pro Monat für jedes Familienmitglied. In Nepal kann man mit wenig Geld viel bewegen. 40000 Euro sind andererseits eine enorme Summe für eine kleine Hilfsorganisation ohne finanzstarke Stiftung im Rücken. Wie schafft sie das, all die Jahre?

„Ja, ja, manchmal wird es eng“, sagt Herbert Grosspietsch, der oft das Kinn in die hagere Hand stützt, selbst wenn er steht. Er lächelt hinter seiner Hand. Seine Frau spricht das Wort aus: „Wunder“ seien es, die den Weg von Shanti säumen. Auch Herbert Grosspietsch ist gläubig. Doch das Wort „Wunder“ kommt ihm an diesem Nachmittag nicht über die Lippen. „Shanti ist eben ein eigener Kosmos“, sagt er.

Ein paar Wochen später. Eine andere Welt. Es ist Herbst, doch angenehm warm, als die Wolken der Regenzeit schwinden und den Blick auf die immerweißen Gipfel des Himalaja freigeben. Kathmandu, Nepal. Rund eine Million Einwohner. Bunte Saris und staubige Polo-Shirts. Kühe, Mönche, Trekkingtouristen. Zu viel Verkehr. Zu wenig Strom. Ganze Straßenzüge ungeteerte Schlaglochpisten. Meditationsgesänge und Räucherstäbchenschwaden wabern durch die Gassen. Sinnsucher von überall her strömen hier zusammen. Manche bleiben hängen.

Unten am heiligen Fluss Bagmati, nicht weit vom Pashupatinath-Tempel, wo die Toten in dünnen blau-grauen Rauchsäulen gen Himmel aufsteigen, das Herz des Shanti-Kosmos: ein neu erbautes Zentrum mit Werkstätten und eigener Klinik. Klinker und Beton, dazu traditionelle nepalesische Holztüren mit Schnitzereien. An den Fenstern, kreischend bunt, Bildnisse hinduistischer Gottheiten, die über den Innenhof wachen.

Die Fensterrahmen ließ Shanti von Lepra-Patienten zimmern. Einer der hauseigenen Schreiner ist Ishaq Mansoor. 35 Jahre. Verkrüppelte, aber kräftige, zupackende Hände und ein noch zupackenderer Blick. Nicht geschwätzig, doch ein guter Erzähler.

Mansoors Geschichte steht für die unzähliger Shanti-Bewohner. Sie sagt einiges darüber, warum Lepra sich in einem Land wie Nepal bis heute halten kann. Die Geschichte beginnt, als er zwölf Jahre alt war: „Da zog ich zu Hause aus und ging zusammen mit meinem Bruder nach Indien, um auf den Feldern der Provinz Punjab Geld zu verdienen.“ Bald schon zog sein Bruder weiter.

Eines Tages weiße Flecken auf der Haut. Einzelne erst. Dann überall. Doch, ohne Bruder, wem davon erzählen? Und wem berichten von den unheimlichen schmerzlosen Blasen an den Füßen, die platzten und Mansoor in seinen Schlappen herumschlittern ließen wie im Matsch nach heftigem Monsunregen? Als die Füße wie Ballons anschwollen, wurde das Arbeiten auf dem Acker unmöglich. Die Kündigung. Er humpelte los. Egal wohin.

Glück, das ist für viele: ein Leben ohne Schmerzen. Doch wer keinen Schmerz empfindet, lebt gefährlich. Lepra ist eine Nerven-krankheit, die das Gefühl aus den Gliedern treibt. Wer sich verletzt, spürt nichts. Wer barfuß in eine Glasscherbe tritt, erschrickt beim Blick zurück über die Fußspur, die ihm blutrot folgt. Hände und Füße werden zuerst taub. Druckstellen und Blasen entstehen, dann Wunden und Entzündungen, die schwelen und schließlich faulen. Und nichts gibt Nachricht von der Gefahr.

Nepal und Lepra passen gut zueinander, findet Dr. Rameshwar Singh, ein glatzköpfiger rundlicher Mann mit eckiger Brille. Er war Mitbegründer des nepalesischen Shanti-Vereins. Seitdem ist er der Arzt der großen Familie, er behandelte in 18 Jahren mehr als 200000 Patienten. „Die Armut, der Analphabetismus, die mangelhafte Hygiene, die Fehlernährung“, zählt er die Risikofaktoren auf. Lepra ist nicht hoch ansteckend. Aber in Nepal wird es der Krankheit leichtgemacht.

Ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation vom August 2009 listet das Land als lepra-endemische Region auf. Fast 5000 neue Erkrankungsfälle wurden 2008 in Nepal offiziell registriert. Dass die Plage sich so lange halten kann, hat auch mit der Abgeschiedenheit vieler Täler zu tun. Manchmal, sagt Singh, kommen Menschen aus mehrere Tage entfernten Dörfern zur Shanti-Klinik.

In einem Land wie Nepal wäre es wenig aussagekräftig, Entfernungen in räumlichen Distanzen zu messen. Ein paar Kilometer von größeren Orten entfernt leben die Menschen wie in einem anderen Jahrhundert – und viele Familien in einem einzigen Raum. Diese Nähe begünstigt Lepra. Die Krankheit wird bakteriell übertragen. Aber davon wissen diese Menschen ebenso wenig wie von den Heilungsmöglichkeiten. Seit Anfang der achtziger Jahre kann man die Lepra mit einem Antibiotika-Cocktail kurieren. Ohne Behandlung jedoch zerstören die Bakterien Haut und Nerven – manchmal erst Jahrzehnte nach der Ansteckung. Wie aus dem Nichts attackieren sie dann den Körper, lähmen seine Glieder, überziehen ihn mit Beulen und Geschwüren, bisweilen nehmen sie das Augenlicht.

Hin und wieder, sagt Singh, lockt das faulig-süße Entzündungsaroma nachts Ratten an, die den Leprakranken im Schlaf das taube Fleisch von den Extremitäten knabbern. Wenn nichts mehr zu retten ist, wird der Finger oder Fuß, der kaum mehr aussieht wie ein Finger oder Fuß, amputiert. Überall auf den Straßen Kathmandus kann man sie sehen, die Bettler, die auf dem Markt des Mitleids mit dem hausieren gehen, was sie nicht mehr haben.

Ishaq Mansoor, der Schreiner, weiß, wie es sich anfühlt, wenn man sich das letzte bisschen Stolz nicht mehr leisten kann. Er walkt seine weiße Filzkappe zwischen den Fingern und versucht, jene Verlorenheit in Worte zu fassen, als er auf zwei gefühllosen Ballons durch das indische Niemandsland stakste.

Ein Alter aus einer Gruppe nordindischer Wanderarbeiter nahm den umherirrenden Jungen schließlich auf. Drei Jahre reiste Mansoor mit den Männern von Dorf zu Dorf. Konnte kaum eine Hilfe sein und wurde auf Geheiß des Alten dennoch mit durchgefüttert. Und bekam Medizin, bewährtes Heilwissen der Stammesväter. Doch die Salben wirkten nicht. Seine Beine wurden lahm, die Finger immer krummer.

Die Angst vor dem Verfall trieb ihn wieder allein weiter. Durch Zufall, sagt er, und mit Allahs Hilfe, fügt er hinzu, landete er erst in einem Bus nach Nepal und bald in einem Dorf, wo Verwandte wohnten. Sie erkannten ihn nicht sofort. Die Jahre hatten aus ihm einen Mann gemacht. Die Lepra hatte diesen Mann entstellt. Verkrüppelt die Füße, die Haut voller heller Flecken. Die Tür fiel ins Schloss. Sie warfen ihm eine Schlafmatte vors Haus, ein paar Brocken Brot. Er wollte vom Erdboden verschluckt werden, vor Scham und Verzweiflung.

Lepra ist seit je auch ein soziales Gebrechen. „Eine Strafe Gottes“ in Europa im Mittelalter. In vielen Winkeln Nepals auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch, ganz ähnlich metaphysisch aufgeladen, eine karmische Krankheit: gerechte Konsequenz eines sündhaften, vor der Wiedergeburt geführten Lebens.

Der schlimmste Schmerz, den diese Krankheit der Schmerzlosigkeit verursacht, ist die Ächtung durch die anderen. Es sind die Mitmenschen, die das Leben mit Lepra zur Hölle machen. Außer, sie sind selbst krank – und wissen, dass ein verstümmelter Körper kein moralischer Defekt ist. In der Shanti-Familie ist Mansoor kein Leprakranker wie draußen. Hier ist er Schreiner. Der, der das Zuhause trocken und warm und wohnlich macht. Seit elf Jahren leben er und seine Frau, die ebenfalls unter Lepra litt, bei Shanti. Sie haben sich ein Häuschen gebaut, zwei gesunde Söhne bekommen, Ismael und Islam. Er hätte, wie alle glücklichen Familienväter, noch vieles zu erzählen. Aber es ist Zeit. Mit unrundem, aber flinkem Schritt verschwindet er zu seinem Gebetsteppich. Allah ist groß und wartet nicht gern.

Allah ist groß, findet auch Marianne Grosspietsch. Buddha ist groß. Shiva ist groß. Eines der Erfolgsgeheimnisse der Gemeinschaft ist es, das, woran ihre Mitglieder glauben, wohlwollend ernst zu nehmen. „Es bringt doch nichts, den Nepalesen eine westliche Kultur überzustülpen“, sagt Grosspietsch.

Ob nicht Entwicklungshilfe per se ein kolonialistisches Moment in sich trage, indem sie in ein bestehendes kulturelles Gefüge eingreife? Das werde sie immer wieder gefragt. Aber da fängt es ja schon an! Entwicklungshilfe? Also, diesen Begriff verwendete sie am liebsten gar nicht. „Das ist zu plakativ. Wir wollen den Menschen ihre Würde wiedergeben, die Freude am Leben. Ist das Entwicklungshilfe?“

Es ist gewiss eine Art von Entwicklungshilfe, was Shanti praktiziert. Aber eine unkonventionelle, ohne Fünf-Jahres-Pläne, PR-Abteilung, Mission Statement, ohne Strategie, der sich das tägliche Tun unterordnet. Das mag erklären, warum Shanti sich schon so lange so gut halten kann. Was in Nepal allein weiterhilft, ist der Tanz mit dem täglichen Chaos, und in der Shanti-Familie beherrschen sie diesen Tanz inzwischen meisterlich.

Sie hatten lange genug Zeit zu üben. 1974 reisten Marianne und Herbert Grosspietsch das erste Mal nach Nepal – damals noch eine uneingeschränkt hinduistische Monarchie. Es sollte eine Reise werden, die ihr Leben veränderte und das unzähliger anderer. Eigentlich hatten die beiden lediglich Puskal, ihr nepalesisches Patenkind, in Kathmandu besuchen wollen. Doch dann sahen sie, unter welchen Umständen dessen Familie im staatlichen Lepra-Ghetto leben musste. Schließlich flogen die Grosspietschs zu dritt zurück nach Deutschland – zusammen mit Puskal, ihrem neuen Sohn. Mit dem Segen der leiblichen Eltern. Und mit dem Segen einer nepalesischen Prinzessin. Es war die erste Adoption gewesen, die man einer ausländischen Familie gestattete.

Als sie Mitte der Achtziger, der Adoptivsohn hatte gerade sein Abitur bestanden, zum ersten Mal nach Nepal zurückkehrten, gab es ein tragisches Wiedersehen. Puskals Eltern waren von der Lepra völlig entstellt. Der Vater erblindet. Keine Hände mehr, um den Sohn wenigstens ertasten zu können. Tränen flossen. „So kann das nicht weitergehen“, sagte Marianne Gross­pietsch zu ihrem Mann. Und dann habe sie einfach angefangen, „etwas zu tun“. Einen ersten Schritt zu gehen. „Mit nichts. Außer mit der Hoffnung, dass es schon irgendwie klappen wird.“ Sie mietete ein verfallenes Schulgebäude, sie ging hinunter zum Bagmati-Fluss und nahm dort die ersten leprakranken Bettler auf.

1992 dann die Gründung der „Shanti Leprahilfe“. Von Anfang an war der Name ein kleiner Etikettenschwindel. Nie ging es nur um Lepra. Immer ging es darum, das Leid von Menschen zu lindern. „Ich halte nichts von Reißbrettentwürfen“, sagt sie. „Shanti ist ohne einen Plan entstanden und gewachsen.“ Eine Frau aus Bangladesch, die von ihrem Mann mit siedendem Öl übergossen worden und geflohen war, fand genauso Unterschlupf wie Waisen und Aids-Kranke, verstoßene Greise, verstümmelte Bürgerkriegsopfer. Inzwischen sind die meisten Menschen, die unterstützt werden, keine Leprakranken.

Shanti ist für viele in Nepal ein Ort der letzten Hoffnung. Eines Morgens vor 16 Jahren lag bei Sonnenaufgang ein Junge auf der Türschwelle. Der Körper klein und verkrüppelt. Der Kopf überproportional groß. Die Beine verkümmert und nach hinten gekrümmt wie ein Taschenmesser. Fünf Jahre hatte er nach einem Unfall ununterbrochen im Bett gelegen. Eine schwere Wirbelsäulenverletzung. Tuberkulose. Tika Ram Khadka, so hieß er, würde bald sterben. Davon waren die Ärzte ebenso überzeugt wie er selbst. Krishna Gurung jedoch, Physiotherapeut und damals Manager bei Shanti, machte ihm Hoffnung. Und über mehrere Jahre täglich Streck- und Kraftübungen mit ihm. Irgendwann sagte er: „Steh auf! Du kannst laufen.“ Wie ein Baby stolperte Khadka drei, vier Schritte, dann plumpste er zu Boden. Er lernte laufen. Und als er laufen konnte, lief er jeden Morgen zur Schule.

Heute, mit 26, ist er immer noch der Kleine mit dem großen Kopf. Doch er hat eine hervorragende Sicht über das ganze Gelände von seinem Arbeitsplatz in der zweiten Etage aus. Er ist der Vize-Manager des nepalesischen Shanti-Vereins, erledigt Bürokratie und Buchhaltung ebenso auf Nepali wie auf Englisch. „Ein echtes Organisationstalent“, sagt Marianne Grosspietsch, „schwer auf Zack.“

Immer wieder stieß Shanti an Kapazitätsgrenzen. Doch wenn ein Mitarbeiter Verzweifelte abweisen wollte mit dem Verweis, das Boot sei leider voll, fand Grosspietsch einen Weg, das Boot zu vergrößern. Die Arche der Ausgegrenzten wuchs, „organisch“, wie sie betont. Man könnte auch sagen: „planlos“. Wenn Grosspietsch erklären soll, wie das gut gehen konnte, antwortet sie knapp: „Ich habe Eingebungen.“

Einst hatte sie Theologie studiert, dann abgebrochen. Zu lebensfern. Sie habe „einfach Menschen und vor allem Kinder ganz doll gerne“. Fest steht: Ohne ihre ansteckende Herzlichkeit gäbe es das Projekt nicht. Und ohne ihren starken Willen auch nicht. Grosspietsch hat die Menschen gern, und sie liebt es, sie zu führen. Spricht sie mit Journalisten, fallen Sätze, die mit „Schreiben Sie …“ und „Es wäre mir lieb, wenn Sie …“ beginnen.

Kürzlich wurde sie erpresst. Die Maoisten, die in Nepal bis zur ihrem Wahlsieg 2008 einen blutigen Guerilla-Krieg führten, verlangten 15000 Euro „Kostenbeteiligung“ für den Ausbau einer öffentlichen Straße, die am Shanti-Dorf vorbeiführt. Statt zu zahlen, wandte sie sich an die Polizei und die deutsche Botschaft. Traf sich persönlich mit den „Maos“ und teilte ihnen mit, was sie von der Kostenbeteiligung hielt: „Sie haben geschrien, bis sie müde wurden. Als ich trotzdem unbeeindruckt blieb, haben sie sich heillos zerstritten.“ Grosspietsch lächelt. „Teile und herrsche.“

Es ist diese Mischung aus Charme, Tatendrang und Machtbewusstsein, mit dem Marianne Grosspietsch Shanti zu dem gemacht hat, was es heute ist: die größte, nichtstaatliche Lepra-Hilfsorganisation Nepals. Und, ja, ein eigener Kosmos.

Rabi Moktan, Manager des nepalesischen Shanti-Vereins, führt durch das neue Zentrum am Bagmati-Fluss. Noch keine zwei Wochen ist es her, dass sie eingezogen sind. Es riecht nach frischer Farbe. Und nach Knoblauch. „Hier, in der halb fertigen Hauptküche, werden in riesigen Blechtöpfen mehr als 1600 Mahlzeiten täglich gekocht“, sagt Moktan. Nachts um halb zwei beginnt die erste Schicht, damit alles rechtzeitig fertig ist.

Gegenüber ist die Schreinerei, in der Ishaq Mansoor mit drei Kollegen das Rohholz zu Türen, Tischen und Fenstern zimmert. Und da unten die kostenlose Klinik, im Erdgeschoss Singhs Behandlungszimmer. Daneben eine Apotheke. „In den oberen Stockwerken liegen und leben 80 Patienten“, sagt Moktan. „Viele dauerhaft: schwere Pflegefälle oder Waisenkinder.“

Das ganze Klinikgebäude ist eine Spende. Erbaut mit Geldern des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Und mit Unterstützung des bekanntesten deutschen Glücksuchers und Pilgers: Hape Kerkeling. Er verschaffte Shanti eine halbe Million Euro, die er beim TV-Quiz „Wer wird Millionär?“ erspielt hatte.

Neben der Klinik Werkstätten, wo bunte Seidenschals gewebt und Stoffengel genäht werden, Christbaumschmuck für Deutschland. Zu Hunderten werden die Engel im Hinterzimmer des Dortmunder Ladens landen, bevor sie auf Weihnachtsmärkte im Ruhrgebiet, in Berlin und der holsteinischen Provinz ausschwärmen. Die Kranken und Hilfsbedürftigen für ihr Geld arbeiten zu lassen gehört zum Konzept. So wurde aus Shanti mehr als eine Adresse für Westler mit schlechtem Gewissen: ein Unternehmen. Und aus Almosennehmern wurden Arbeitnehmer.

Zum Glück gehört, den Menschen von der Angst vor Hunger und Krankheiten zu befreien, sagt Marianne Grosspietsch. Und: „Sie müssen ihre Talente entfalten können.“ Arbeit gibt Sinn, Würde und heilt. Wer etwas zu tun hat, hat keine Zeit, an sein Leiden zu denken. Wer sein eigenes Geld verdient, wird anerkannt. Herbert Grosspietsch sieht darin die „heilsame Seite des Kapitalismus“: Der Wirtschaftskreislauf bringt die Aussätzigen zurück in die Gesellschaft.

Auf dem Balkon vor einer der Werkstätten schleifen zwei Männer auf einem Schleifstein Scherben bunter Glasflaschen in Form. „Polio-Patienten“, erklärt der Manager. „Leprakranke wären wegen der Taubheit ihrer Hände dafür ungeeignet.“ In Silber gefasst, wird aus dem Glasmüll modischer Schmuck. Schmuck aus Altglas, auch eine Idee von Marianne Grosspietsch. Typisch, finden die, die sie kennen. Seit 2005 haben sie bei Shanti eine eigene Biogas-Anlage. Das Wort „Abfall“ – ist das nicht oft nur ein bequemes Eingeständnis von Ideenlosigkeit? In der ganzen Stadt sammeln Shanti-Bewohner inzwischen Altpapier, stampfen es mit Wasser zu einer Zellulosesuppe, um es, zu Rädern gerollt, auf langen Eisenstangen in der Sonne zu trocknen. Beste Heizbriketts.

Um als kleine Familien-Hilfsorganisation bestehen zu können, sind solche Ideen überlebenswichtig. Selbstversorgung spart Spendengelder. Und schafft Arbeit. Zum Kosmos gehören darum neben der hauseigenen Schreinerei auch eine Hühnerfarm, eine Imkerei sowie Bioplantagen, auf denen Tag für Tag mehr als 100 Kilo Obst und Gemüse geerntet werden. Genug, um einen Teil davon auf dem Markt weiterzuverkaufen.

Fünf Kilometer flussaufwärts – vorbei an den brennenden Toten des Tempels, vorbei an einem aufgedunsenen Schweinekadaver, der seit Tagen seine grotesken Runden in der braunen Brühe dreht. Fünf Kilometer der Himalaja-Skyline entgegen, am Rand des Dörfchens Sundarijal: die beiden großen Plantagen. Die eine fünf, die andere 13 „Ropari“ groß – 13 mal 510 Quadratmeter. Vier Familien, rund 20 Menschen leben hier von und für Shanti.

Auf der Terrasse vor dem Backsteinhaus sitzt ein Mann im Strickpullunder. Khadka Shahi, neben ihm seine Frau Kauli, zählt fröhlich auf, womit sie ihre Tage zubringen: „Auberginen und Guaven, Kohl und Spinat, Äpfel, Papayas, Kürbisse, Zuckerrohr …“ Von den Orangenbäumen weht ein Duft herüber, so intensiv, dass man meint, ein Bonbon auf der Zunge zu haben.

Shahi stammt eigentlich aus einem Dorf des Jumla-Distriktes, im unwegsamen Westen Nepals. Mit zehn Jahren wurde er zwangsverheiratet, seine Frau war neun. Acht Kinder waren sie, fünf kamen durch. Seine Eltern erkrankten an Lepra. Irgendwann auch er. Die Nachbarn trieben ihn aus dem Dorf, in eine Höhle im Wald, aus Angst vor Ansteckung. Auch seine Familie ging auf Abstand. Und so floh er mit dem Bus nach Pokhara, 200000 Einwohner, die drittgrößte Stadt Nepals.

„Als er das Krankenhaus erreichte, sah er gar nicht gut aus“, sagt Kauli, Khadkas zweite Frau. Sie war damals seine Krankenschwester. Sie hatte selbst Lepra gehabt, wusste, was er durchmachte. Sein Mut zu einem Neuanfang gefiel ihr. Ihre Zuneigung gefiel ihm. Als Khadka das Hospital verlassen konnte, gingen sie gemeinsam in die viele Tage entfernte Hauptstadt. Sie hatten von Shanti gehört. Am Totentempel Pashupatinath in Kathmandu wies ihnen ein Holzschild die letzten Meter.

Sie heirateten. „Eine Liebesheirat“, sagen sie, glücklich gackernd – in der hinduistischen Kastengesellschaft Nepals ist das ungewöhnlich. Auch das kann Glück sein: Erst die Lepra machte für sie die Liebe möglich. Und die gab ihnen Kraft, eine neue Familie zu gründen. Außer all dem Gemüse haben sie in den 14 Jahren, in denen sie auf der Plantage leben, auch einen gemeinsamen Sohn großgezogen. Und zwei kleine Adoptivtöchter angenommen, Waisenkinder aus der Shanti-Familie.

Neben dem Selbstanbauen gehört auch das Selbstbauen zur Familienphilosophie. Zwei Hügelketten weiter, am Rand des Shivapuri-Nationalparks, schmiegt sich die sogenannte Außenstation an einen steilen, dicht bewaldeten Berghang. Zusammen mit den Bewohnern wurde hier 1994 ein eigenes Dorf errichtet: zweistöckige, pastellfarben gestrichene Wohnhäuser. Eine Weberei. Eine Waldorf-Grundschule, 120 Schüler, zehn Lehrer. Ein Wohnheim für schwer behinderte Kinder. Eine Mensa. Alles verbunden durch Treppen und Terrassen.

„Dass die Dorfbewohner all das mit erschaffen haben, hat sich doppelt ausgezahlt“, sagt Santosh Chhetri, der an der Schule Englisch unterrichtet. „Bei den Baukosten natürlich. Und die Bewohner kümmern sich unglaublich liebevoll um die Häuser.“ Sie streichen sie, schmücken und bemalen sie. Es ist ihr Dorf.

Auch eine kleine Gesundheitsstation, eine kleine Backsteinhütte mit Rollstuhlrampe. Sie steht allen Armen aus dem Umland offen. Jeden Dienstag und Freitag kommt ein Jeep aus Kathmandu heraufgefahren, und der Arzt Sanjay Bhattachan hält seine Sprechstunde. Immer ab 10, meist bis 15 Uhr, je nachdem wie viele Patienten da sind. „Diesen Freitag sind es um die 70“, sagt er, als er seine Umhängetasche abgelegt und auf dem blauen Holzstuhl des Doctor’s Room Platz genommen hat. Im Vorzimmer und auf der Terrasse hocken bereits zwei Dutzend Patienten, teils auf Holzbänken, teils auf dem blanken Boden. Mit einer Tischklingel, wie am Empfang eines Hotels, ruft er sie der Reihe nach auf.

„Kling.“ Eine bucklige Alte tritt ein, auf einen krummen Holzstock gestützt. Bhattachan misst ihren Blutdruck, mustert ihre Augen. Appetitlosigkeit, dazu chronische Rückenschmerzen. Er verschreibt ihr Tabletten, die ein Mitarbeiter im Vorzimmer abgezählt in ein Klarsichttütchen packt. „Sie sind eine starke Frau“, sagt er zum Abschied. „Kling.“ Ein Teenager. Hautprobleme. Eine Salbe wird Abhilfe schaffen. „Und bessere Hygiene!“ „Kling.“ Ein Alter, der zu viel trinkt. Der Arzt redet ihm ins Gewissen.

Oft, sagt Bhattachan, sind die körperlichen Symptome bei seinen Patienten lediglich Begleiterscheinungen. Folgerichtig seien die Pillen auch nur die Begleitbehandlung. Bhattachan, in Nepal geboren, in England und Indien aufgewachsen, vertraut nicht allein auf westliche Schulmedizin. Routiniert springt er zwischen verschiedenen Welten hin und her. Und nutzt die Autorität seines weißen Arztkittels auch für seelsorgerische Betreuung: „Ich schicke die Menschen zu diesem oder jenem Tempel, trage ihnen auf, diesen oder jenen Gott anzubeten. Das gibt ihnen geistigen Halt. Und tut ihrer Gesundheit gut.“

Klingelschlag um Klingelschlag rücken die Wartenden an die Eingangstür des Arztzimmers heran. Über der Tür blickt von einem großen Porträtfoto die Königsfamilie auf sie herab.

Es ist ein Bild aus einer anderen Zeit. Der König Birendra Bir Bikram Shah, Wiedergeburt des Hindugottes Vishnu, starb am 1. Juni 2001 im Kugelhagel. Mit ihm die anderen Porträtierten: seine Frau, Königin Aishwarya, und ihre drei Kinder. Sein Sohn, Thronfolger Dipendra, soll das Massaker im Palast begangen haben, bevor er die Waffe gegen sich selbst richtete. Aber wer weiß das schon? Viele glauben bis heute an ein Komplott.

Bereits 1996 hatten Maoisten der Regierung einen „Volkskrieg“ erklärt. Tal für Tal eroberten sie das Land, zermürbten mit Attentaten und endlosen Streiks das Volk und seine immer häufiger wechselnden Regenten, bis sie 2008 schließlich die Wahlen gewannen und die Republik ausrufen konnten. Die Monarchie hat abgedankt in Nepal. Korruption und Chaos regieren weiter.

„Man muss sich in Nepal eine gewisse Gleichgültigkeit antrainieren“, sagt Grosspietsch, die jedes Jahr etwa fünf Monate hier verbringt. „Andererseits muss man wahnsinnig konzentriert sein.“ Und es helfe sehr, dem Land mit Humor zu begegnen, sagt sie mit einem Lachen. „Sonst kriegt man schnell schlechte Laune.“ Nepal ist liebenswürdig und grausam. Nah am Leben. Und nah am Tod. Nepal ist ein Land, in dem bettelarme Menschen die eigene Großmutter, bettlägerig und zur unerträglichen Last geworden, nachts auf die Straße legen. Ein Lkw, und die Last fällt ab. Nepal ist ein Land, in dem bettelarme Menschen vom Weg zur Feldarbeit abgehen, um eine Blume zu pflücken. Sie stecken sie sich ins Haar und freuen sich an der Schönheit, die der Tag ihnen gebracht hat.

Shanti passt in dieses Land, mit seiner Spontaneität und der Hoffnung, dass sich schon alles zum Guten wenden werde. „Manchmal bezirzt einen das Land“, sagt Dori Grosspietsch, „und manchmal erschlägt es einen.“ Mariannes Tochter ist für eine Woche nach Kathmandu gekommen. Sie braucht neue Ware für den Dortmunder Laden und die Weihnachtsmärkte. Bald steht Advent vor der Tür, die wichtigste Jahreszeit für Shanti.

Als Dori Grosspietsch die Werkstätten des neuen Zentrums betritt, stehen die Nähmaschinen verdächtig still. Die Schneidermeisterin erklärt seelenruhig, sie habe vergessen, die Stoffe für die Weihnachtsproduktion zu bestellen. „Sorry, sister!“ Grosspietsch – Nasenpiercing, millimeterkurz gestutztes Haar – rettet sich mit einem schallenden Lachen: „Das ist soo lustig! Ich liebe es!“ Abends, nachdem sie im Einkaufsviertel Thamel weihnachtstaugliche Waren zusammengekauft hat, sagt sie, dass sie nirgends so viel lache wie hier. Ab und an jedoch, für Augenblicke, bricht sich die deutsche Sozialisation Bahn. Dann sieht sie, wie viel man wo noch besser machen könnte. „Wir sind zu stark gewachsen in den letzten Jahren“, sagt sie dann zum Beispiel. „Wir müssen aufpassen. Sonst kann aus dem liebenswerten Chaos ganz schnell ein gefährliches Chaos werden.“ Im vergangenen Frühjahr verhängte Shanti einen Aufnahmestopp, von dem nur akute Notfälle ausgenommen sind – und bislang wird er tatsächlich eingehalten. Wieder: ein Wunder.

Auf der anderen Seite funktioniert das Stärken der Schwachen und Ausgegrenzten so gut, dass sie bei Shanti manchmal selbst staunen: Bei einem der letzten landesweiten Maoisten-Streiks solidarisierten sich auch einige Dutzend der Patienten, legten ihre Werkzeuge nieder und forderten lautstark eine Gehaltserhöhung. „Ihr bekommt so viel Geld gespendet“, brachten sie hervor. „Wegen uns! Wir haben Lepra. Wir sind die Armen!“

Es war eine eindrückliche Zurschaustellung dialektischen Verstricktseins: Wer hilft, macht sich auch abhängig von den Hilfsbedürftigen. „Hätte ich gewusst, wie kompliziert das einmal alles wird“, seufzt Marianne Grosspietsch, „hätte ich mit Shanti vielleicht gar nicht erst angefangen.“ Doch nun könne sie ihre Leute natürlich nicht einfach sitzen lassen. Wenn man miterlebt hat, wie sie beim Erzählen vollkommen im Shanti-Kosmos versinkt; wenn man sie eines grauen Dezembernachmittags auf dem Adventsbasar des Berliner Doms stehen sieht, vor sich auf dem Tisch einen Berg bunter Seidenschals und ein Kistchen mit Stoffengeln, hinter sich an der Wand großformatige Fotografien aus Kathmandu, um den Hals eine glitzernde Kette, auf deren Glasklunkern noch der Carlsberg-Schriftzug eines Bierflaschenbauches zu lesen ist – dann wird man das Gefühl nicht los, dass sie nun doch ein kleines bisschen kokettiert.

Ein Leben ohne Shanti? Es ist nicht so, dass Marianne Grosspietsch eine Wahl hätte. Sie hat einen Kosmos erschaffen. Und wurde von ihm verschlungen.