Zeitenspiegel Reportagen

Wo Rudi Dutschke niemals stirbt

UniSpiegel 5/2018

Von Autor Raphael Thelen

Immer mehr Studenten sorgen sich wegen des Rechtsrucks in Deutschland und engagieren sich beim Studentenverband der Linkspartei. Für viele ist es das erste Mal, dass sie über Politik nicht nur reden, sondern selbst zupacken.

Es ist Nacht in Berlin-Kreuzberg, stockdunkel, und das ist gut für ihren Plan. Luise kauert hinter einer Hecke in einem kleinen Park und wartet auf das Signal. Dann läuft sie los, Richtung Axel-Springer-Verlagshaus, vor sich trägt sie eine Kiste voller brennender Grabkerzen. Hinter ihr gehen ihre Mitstreiter, auch sie bepackt mit Grabkerzen.

Luise und ihre Kameraden sind Mitglieder des Sozialistisch-demokratischen Studierendenverbandes (SDS), die Organisation steht der Linkspartei nahe. Auf den Tag genau vor 50 Jahren schoss ein rechtsradikaler Attentäter auf Rudi Dutschke. Später erlag der Studentenführer den Verletzungen. Luise ist überzeugt: Damals wie heute trägt der Springer-Verlag Mitschuld an der Gewalt im Land. Damals hetzte die “Bild”-Zeitung gegen frei denkende Studenten. Heute gegen Geflüchtete, Migranten und Frauen.

Kurz bevor Luise die Straße erreicht, flammt das Licht eines Beamers auf, wirft eine Projektion auf die Fassade des Springer-Gebäudes: “50 Jahre Hetze - Bild bleibt tödlich!”

Luise schaut links und rechts die Straße hinunter. Keine Security in Sicht und auch keine Polizei. Es ist das erste Mal, dass die Studentin bei einer derartigen Aktion mitmacht. Die Gruppe rennt zum Gebäude, alle stellen ihre Kerzen in einer langen Reihe auf. Es ist ein eindrückliches Bild.

Ein Mann in Shorts spricht die Gruppe an.

“Warum macht ihr das?”, fragt er.

“Um an Dutschke zu erinnern und um gegen die ‘Bild’-Zeitung zu protestieren.”

“Was die ‘Bild’ schreibt, ist auf jeden Fall unverschämt, aber das kannst du nicht ändern”, sagt der Mann und geht weiter.

Luise glaubt, dass das nicht stimmt: “Jeder und jede macht einen Unterschied!”

So scheint es immer mehr Studierenden zu gehen. Die Zahl der SDS-Mitglieder wächst seit Jahren, allein in den letzten beiden Jahren gründeten sich lokale Gruppen in Mannheim, Passau, Dresden und zehn weiteren Städten. “Insgesamt lässt sich in den letzten Jahren eine Politisierung der jungen Leute beobachten”, sagt Mattis Micus vom Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen. “Indizien dafür sind vermehrte Parteieintritte, relativ hohe Beteiligungen an Demonstrationen oder Diskussionsveranstaltungen und Bewegungen wie Pulse of Europe.”

Gemeinschaftswerk: Luise und ihre Freunde bestaunen ihr Mahnmal zum Gedenken an das Attentat auf Rudi Dutschke Luise ist seit Anfang des Jahres dabei. In Tübingen hat die 26-Jährige ihr Bachelorstudium in Empirischer Kulturwissenschaft abgeschlossen, engagierte sich in der Fachschaft und half Asylsuchenden. Was sie da erlebte, machte sie wütend. Sie fand es unmenschlich, dass der Staat Familienmitglieder von Freunden abschob. Familien so zu zerreißen - das geht für sie nicht.

“Als die Alternative für Deutschland immer erfolgreicher und dann noch Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, sagte ich: Es reicht! Da war mir Hochschulpolitik nicht mehr genug.” Als sie für ihren Master nach Berlin wechselte, begann sie sich beim SDS zu engagieren. “Der ist Schnittstelle zwischen außerparlamentarischer Bewegung und Partei”, sagt Luise. “Außerdem geht es hier ums große Ganze.”

Das sei typisch für die aktuelle Auferstehung der Neuen Linken, hat Politikwissenschaftler Micus beobachtet. “Das Gefühl, dass es in der politischen Debatte zurzeit um Grundsätzliches geht, verstärkt die Motivation, sich zu engagieren”, sagt er. “Wir beobachten hier vielleicht sogar eine Re-Ideologisierung der Jugend.”

Der SDS steht in loser Erbfolge zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund, dem wichtigsten Hochschulverband der 68er-Jahre, der nach dem Attentat auf Dutschke zerfiel. Spätestens in den Nullerjahren gab es keine nennenswerten linken Gruppen mehr an deutschen Hochschulen. 2009 schwappten dann die ersten großen Studentenproteste seit Langem durch die Universitäten.

In der Bildungsstreikwoche gingen 85.000 Menschen auf die Straße, um gegen die Einführung des Bologna-Systems und die damit verbundene Umstellung auf die Abschlüsse Bachelor und Master zu demonstrieren, gegen die Einführung von Studiengebühren und die allgemeine Ökonomisierung der Lehre. Studenten besetzten wochenlang die Hörsäle von mehr als 60 Universitäten. In der Aufbruchsstimmung gründete sich auch der SDS, doch nach der Anfangseuphorie schlief die Bewegung ein - bis sich 2014 viele Studenten politisierten.

Rhonda Koch ist seit sechs Jahren dabei, mittlerweile Bundesvorsitzende des SDS. Ihre Eltern waren in der Antiatomkraftbewegung aktiv, sie ging nach dem Abitur für acht Monate nach Neuseeland, las dort Bücher des Globalisierungskritikers Jean Ziegler und das kommunistische Manifest. Sie kam zurück mit dem Willen, etwas zu tun. “Es gibt viele links Denkende, die sich bisher nicht engagieren wollten und denen die Linke ein bisschen peinlich war. Aber mittlerweile haben wieder viele kapiert, wie wichtig organisierte Politik ist.”

In den vergangenen Jahren wurde viel Arbeit in den Aufbau der Organisation gesteckt. Eine Taktik ist, möglichst viel auf die Straße zu gehen, mehr zu handeln als zu reden, wie Koch sagt. “‘Aufklärung durch Aktion’, hat Dutschke das genannt, und auch deshalb waren die 68er so erfolgreich”, erklärt sie. “Wenn man gemeinsam plant, eine Senatssitzung zu stürmen, und das dann durchzieht, schweißt das zusammen - viel mehr als ein Lesekreis.”

Auch in Düsseldorf demonstrierten SDS-Mitglieder vor dem Springer-Verlagshaus, in Mannheim vor der “Bild”-Redaktion, und in Leipzig zeichneten sie die Silhouette des angeschossenen Dutschke auf den Boden - auch weil am Morgen die rechtsradikale Identitäre Bewegung (IB) zum ersten Mal auf dem Hochschulgelände öffentlich aufgetreten war.

Ein paar Wochen später steht die 22-jährige Charlotte in der Halle des Leipziger Hauptbahnhofs und sagt: “Nach der IB-Aktion habe ich geträumt, dass ein Kumpel von mir von denen verprügelt wird.” Dass die Rechten auf den Campus vorgedrungen seien, das habe es bisher nicht gegeben.

Sie und andere SDS-Mitglieder wollen nach Chemnitz, wo sich auch schon lange vor den Ausschreitungen im August und September Neonazis zu Demonstrationen trafen. Dieses Mal ist es der III. Weg, eine Kleinstpartei, die fordert: “Nationaler Sozialismus - Jetzt!” Charlotte will sich dem entgegenstellen. Ums Handgelenk hat sie ein Tuch gewickelt - gegen Pfefferspray, sollte die Polizei hart vorgehen.

Sie und Hunderte weitere Gegendemonstranten steigen in den Zug nach Chemnitz, sitzen zu zweit auf den Plätzen, auf dem Boden und drängen sich in den Gängen. Dort angekommen, formieren sie sich zu einem langen Zug. Die Marschrouten der Neonazis und der Gegendemonstranten kreuzen sich mehrfach. An diesen Punkten planen Charlotte und die anderen Sitzblockaden.

Auch Charlotte kam über die Hilfe für Geflüchtete zum SDS, hat schon oft gegen Pegida und den Leipziger Ableger Legida demonstriert: “Wir dürfen den Nazis nicht die Straße überlassen.”

Rechts und links vom Protestzug hängen Fahnen in den Farben der Reichskriegsflagge und der Rechtsrockband Freiwild aus den Häusern. Die Polizei begleitet die Demo eng. Die ersten beiden Kreuzungen, auf denen blockiert werden könnte, ziehen ungenutzt vorbei. Charlotte fühlt sich an diesem Tag nicht gut. Ihr Schädel pocht. Bei der ersten Pause setzt sie sich hin, verzieht das Gesicht. Eine Freundin aus dem SDS beugt sich über sie: “Alles gut?”

“Ich glaube, ich kriege eine Migräne”, sagt Charlotte.

Die Freundin zieht ein Täschchen aus dem Rucksack. Sie arbeitete früher als Krankenschwester, ist für solche Fälle ausgerüstet. Sie drückt eine Tablette aus einem Blister und sagt: “Komm schon, wie ziehen das durch. Ballern!”

Die Polizei zieht einen Kessel um die Gegendemonstranten, die Neonazis laufen ungestört einen Häuserblock entfernt an ihnen vorbei. Charlotte steht wieder, brüllt mit den anderen: “Nazis raus!” Viele recken ihren Mittelfinger.

Nach einer weiten Schleife durch die Stadt stehen Charlotte und die anderen wieder zusammen am Hauptbahnhof. Die Blockaden haben nicht geklappt. Charlotte ist enttäuscht. Trotzdem sagt sie: “Es war gut, mit den anderen auf der Straße zu sein.” Weitere Aktionen sind in Planung, und am Ende des Jahres folgt der SDS-Bundeskongress.

Der Schriftsteller Didier Eribon will kommen, der Filmemacher Tariq Ali und der JuSo-Vorsitzende Kevin Kühnert. Ein breites linkes Bündnis. Das Motto des Kongresses: Geschichte wird gemacht.

Mitarbeit: Gregor Becker, Foto: Thomas Victor