Zeitenspiegel Reportagen

„TRINKEN KANN EINE LÖSUNG SEIN“

Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag" am 9.5.2021

Von Autor Bernd Hauser

Der Film «Drunk» ist der kontroverseste Gewinner eines Oscars dieses Jahr. Ein Gespräch mit dem dänischen Regisseur Thomas Vinterberg über das Trinken und den höheren Sinn des Kontrollverlustes.

Beim „Søløb“, dem „Seelauf“ sprinten Zweierteams über den Uferweg, zwischen sich schleppen sie einen Kasten Bier. Reine Mädchenteams dürfen auch aus drei Mitgliedern bestehen. Auf der zwei Kilometer langen Strecke rund um den Gentoftesee gibt es 20 Ruhebänke. An jeder Bank müssen die Teilnehmer eine Flasche Bier hinunterstürzen. Teams, die sich auf der Strecke synchron erbrechen, bekommen Sonderpunkte. Wer am schnellsten läuft und säuft, bekommt als Siegerprämie das Flaschenpfand. Der Wettkampf beginnt nachmittags um 15.45 Uhr – denn die Wettkämpfer wollen vorher keine Schulstunde verpassen.

Thomas Vinterbergs neuer Film „Der Rausch“ beginnt mit Szenen dieses Trinkspiels, eine Tradition am Aurehøj Gymnasium, das Jugendliche aus dem bürgerlichen Norden Kopenhagens besuchen. Es fand so viele Jahre immer im Mai an der Schule statt, auch Vinterbergs Tochter Nanna nahm daran teil. Sie und auch ihre Schwester Ida gingen auf das Gymnasium, wo der Regisseur seinen Film drehte.

In Dänemark war „Druk“ („Saufen“), wie der Film im Original heißt, das wichtigste Kulturereignis im Corona-Jahr 2020. 803.000 Menschen gingen im Herbst binnen weniger Wochen in die Kinos, bis sie wegen Corona wieder geschlossen wurden – eine enorme Zahl bei 5,8 Millionen Einwohnern.

Vordergründig geht es um die Midlife-Krisen eines Gymnasiallehrers, gespielt von Mads Mikkelsen, und drei seiner Kollegen. Vor allem aber geht es um die Alkoholkultur in Dänemark. Sie bestimmt die Gesellschaft wie wohl in kaum einem anderen Land: Wer nicht trinkt, muss sich rechtfertigen. Es gilt bei Zusammenkünften als merkwürdig, keinen Alkohol im Glas zu haben. Die Teenager in Dänemark beginnen früher mit dem Trinken als in anderen Ländern und sie trinken viel. Nach einer Studie der WHO haben 42 Prozent der 15-Jährigen schon mindestens zwei Räusche erlebt: Das ist Rekord in Europa.

Vier Lehrer hören von der Theorie eines norwegischen Psychiaters, der schreibt, die Menschen seien mit 0,5 Promille Alkohol zu wenig auf die Welt gekommen: Das ist der Ausgangspunkt des Films. In einem gemeinsamen Experiment pegeln sie sich jeden Morgen entsprechend ein, dann erhöhen sie die Dosis. Aus ausgebrannten Männern werden dadurch wieder mitreißende Väter, Lehrer, Ehemänner. Das Besondere ist, dass aus dieser Idee mehr als Slapstick wird. Der Film zeigt das Experiment in gleichzeitig trivialen, tragischen und lustigen Szenen, deren Nähe sich offenbar kaum jemand entziehen kann. „Sechs Prozent aller Todesfälle in Dänemark sind dem Alkohol geschuldet und diesen voraus hat er umfassende soziale, menschliche und gesundheitliche Konsequenzen“, schreibt Aleksander Krag, Professor und Oberarzt für Magen-, Darm- und Leberkrankheiten am Universitätshospital Odense, im Leitartikel einer dänischen Ärztezeitung, die dem Alkohol eine Ausgabe widmete. Aber auch er urteilt: „Der Film ist provozierend, beängstigend und gleichzeitig fantastisch.“

Rund drei Dutzend Festivalpreise hat „Der Rausch“ bislang gewonnen, neben dem Oscar für den „besten internationalen Spielfilm“. In seiner Dankesrede widmete Vinterberg den Film seiner Tochter Ida. Sie sollte eigentlich die Tochter des Charakters von Mads Mikkelsen spielen. Vier Tage nach Beginn der Dreharbeiten Anfang Mai 2019 kam die 19-Jährige bei einem Autounfall ums Leben.

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Thomas Vinterberg, am Anfang des Films zeigen Sie eine Texttafel: „Was ist Jugend? Ein Traum. Was ist Liebe? Der Inhalt des Traums“. Ein Zitat des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Warum?

Ich kenne Kierkegaard nur oberflächlich. Aber meine kluge Frau ist Pastorin, sie hat ihre Magisterarbeit über Kierkegaard geschrieben. Und da der Film im Grunde auch eine Art touristischer Film ist, ein Werbefilm für die dänische Kultur – beispielsweise mit jungen Menschen, die alte patriotische Lieder singen – fand ich es einleuchtend, dass auch Platz für Kierkegaard sein sollte.

Dann lassen Sie uns auch in diesem Interview auf Kierkegaard-Zitate zurückgreifen: „Das Genie ist wie das Donnerwetter: es schreitet gegen den Wind, erschreckt die Menschen und reinigt die Luft.“ Stimmt das?

Zum Genie gehört, dass er sich erlaubt, außerhalb der Kontrolle anderer zu sein. Sich selbst zu vergessen, aufzugehen im Moment. So gesehen passt das Zitat auf den Film und zum Trinken. Denn man kann sagen, dass Alkohol dieses Selbstvergessen fördert.

Schon, aber: „Es ist so leicht, in den Tanz der Lust zu treten; aber später, wenn es die Lust ist, die mit dem Menschen gegen seinen Willen tanzt: das ist ein schwerer Tanz!“

Das ist es, was der Film zu untersuchen versucht: Wieviel soll man trinken? Wann soll man trinken? Wie soll man trinken? Wenn man eine Flasche aufmacht, macht man eine Art Pakt mit sich und der Umgebung: Man geht hinein in einen Raum, wo man seine Kontrolle verlieren darf. Man öffnet eine Tür zu etwas, was ein bisschen gefährlich ist. Hier ist es, wo man die Liebe findet. Oder zumindest Sex. Eigentlich ist es nicht einmal notwendig, dass Alkohol in der Flasche ist. Es gibt Studien, in denen Menschen ein Placebo-Getränk gegeben wurde und sie sich dennoch berauscht fühlten. Wichtig ist das Verständnis über die Übereinkunft: Jetzt dürfen wir unsere Schüchternheit überwinden. Mit Alkohol bauen Menschen Selbstbewusstsein auf, hier haben sie den Mut, andere zu umwerben, nach dem ersten Kuss zu fragen. Wenn ich über den Film rede, stelle ich gerne eine Frage: „Wart ihr nüchtern bei eurem ersten Kuss mit eurer Liebsten, eurem Liebsten?“

Was ist die Antwort?

So gut wie niemand war nüchtern.

„Zu wagen bedeutet, für einen Moment den Halt zu verlieren. Nicht zu wagen bedeutet, sich selbst zu verlieren“?

Bei diesem Zitat ist es nicht sicher, ob Kierkegaard das tatsächlich so gesagt hat. Aber ja: Meine kluge Frau sagt mir, der Film handle von dem Unkontrollierbaren. Ich frage sie: „Was ist das Unkontrollierbare?“ Sie antwortet: „Wir leben in einer sehr kontrollierten Gesellschaft, werden die ganze Zeit taxiert und bewertet. Aber es liegt ein großer Reichtum dort, wo wir die Kontrolle verlieren.“ Im Englischen heißt verliebt zu sein falling in love. Im Fallen hat man keine Kontrolle. Oder wenn man einen Einfall hat: Ideen kann man nicht kontrollieren.

Ihre Frau erklärt Ihnen Ihren Film?

Dass ich den Film gemacht habe, bedeutet ja nicht notwendigerweise, dass ich sicher bin, was er bedeutet. Meine Aufgabe ist es, Gefühle zu beschreiben und Situationen zu untersuchen. Aber wir Filmemacher sollten nicht den analytischen Blickpunkt einnehmen, sonst laufen wir Gefahr, uns selbst zu zensurieren und damit zu zerstören, was wir machen. Klar, wir brauchen einen dramaturgischen Überblick. Aber es muss allein Neugier sein, die uns treibt.

„Das Große ist nicht dieses oder jenes zu sein, sondern man selbst zu sein. Und das kann jeder Mensch, wenn er es will.“ Aber gerade unter dänischen Jugendlichen nehmen Angst und Depression zu. Bei 15 Prozent der jungen Leute wird vor ihrem 18. Geburtstag eine psychische Krankheit diagnostiziert. Verstehen Sie warum?

In der Schule, in den sozialen Medien: Die Menge und Geschwindigkeit, wie oft die jungen Leute gemessen und gewogen werden, hat sich sehr beschleunigt. Das schafft einen großen Druck.

In einer Szene Ihres Films gibt ein Lehrer einem übernervösen Schüler beim Examen Wodka. Und nun löst sich die Zunge, der Schüler spricht ohne Stocken darüber, was Kierkegaard über die Angst sagte. Aber bleibt beim Zuschauer nicht vor allem hängen: Alkohol ist dein Helfer gegen Prüfungsangst?

Das ist zu billig. Ja, Trinken kann oft eine Lösung sein. Aber es kann nicht die einzige Lösung sein. Nach einem inspirierenden Leben zu streben, das ist das Entscheidende! Das Selbstvergessen – zu vergessen, sich selbst zu beurteilen und zu bewerten – darauf kommt es an.

Laut einer Studie sagen neun von zehn jungen Leuten, sie seien von Freunden zum Trinken gedrängt worden, obwohl sie bereits nein gesagt hatten. Ist Ihr Film ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems?

Ich hoffe, mein Film ist ein Teil der Untersuchung des Problems. Eine Menge Gymnasiallehrer hat mir bei einer Veranstaltung neulich die gleiche Frage gestellt. Und sie fragten: Was sollen wir tun? Ich glaube, dass der Film kategorisch eine Antwort vermeidet und nur Fragen stellt.

Der Lebensgefährte einer Freundin von mir ist Alkoholiker. Sie sagte nach dem Kinobesuch: „Ich bin richtig sauer auf Vinterberg. Die Leute kommen aus dem Kino – und wollen einen trinken. Soll das die Botschaft sein?“

Wer bin ich, dass ich eine Botschaft haben könnte? Ich insistiere: Ich bin mit dem Film dabei, eine Untersuchung zu machen. Und du als Zuschauer entscheidest selbst, was die Botschaft ist. In der Schlussszene sieht man Mads Mikkelsen ins Kopenhagener Hafenbecken springen. Ich weiß, da sitzen anonyme Alkoholiker im Saal, die finden, er fällt ins Wasser. Und ich weiß, da sitzen 19-Jährige mit einer Tasche voller Bier, das sie nachher in der Stadt trinken wollen. Die finden, dass Mads fliegt. Und sie denken, wir wollen gemeinsam mit ihm fliegen. Aber wenn mein Film eine Kampagne ist, dann nicht für das Trinken, sondern für das Unkontrollierbare. Wir leben ein Leben, das extrem vernünftig und festbetoniert ist. Vielleicht besonders in Dänemark, das ja als das glücklichste und sicherste Land in der Welt gilt.

„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Dieses Kierkegaard-Wort wird in Dänemark oft zitiert. Ihre Tochter starb, weil der Fahrer eines Transporters auf der Autobahn aufs Mobiltelefon schaute. Kann man so einen Schicksalsschlag je verstehen?

Ich habe jetzt viel über Kontrolle gesprochen. Nun, das ist der ultimative Kontrollverlust. Da muss ich mich einfach dem Leben ergeben. Es war, als ob ich vorher in einer Seifenblase der Sicherheit gelebt hatte. Und die wurde nun zerdrückt. Zum ersten Mal präsentierte sich die Wirklichkeit für mich. Wie sie wirklich ist. Weil sie auch den tragischen Tod einschließt. Die ersten Wochen war es, als ob ich die Vögel auf mehrere Kilometer Abstand hören konnte. Alle Sinne waren extrem verstärkt. Weil die Wirklichkeit aufgesperrt wurde auf eine sehr grausame Art. Ich weiß nicht, wie man weiterkommen kann nach dem, was wir erlebt haben. Es gibt Leute, die sagen, man kann es durchstehen, aber nie darüber hinwegkommen. Aber ich weiß es nicht.

Kann man akzeptieren, dass manches Geschehen ohne Sinn ist?

Ich muss akzeptieren, dass es sinnlos ist. Denn es ist ja sinnlos! Aber ich muss mich daran klammern, dass der Schmerz, den ich erlebe, ein Ausdruck der Liebe ist. Von der großen Liebe, die ich für meine Tochter empfinde und von ihr bekam. Ohne diese Liebe wäre der Schmerz nicht da. Darüber sprechen ja die Pastoren und Kierkegaard immer wieder: Die Liebe bleibt. Aber in einer neuen und sehr schmerzhaften Weise.

Deshalb also das Zitat von der Jugend und der Liebe am Anfang des Films?

Das Zitat steht auch auf dem Grab meiner Tochter. Für mich fasst es den Rausch und die Schwerelosigkeit des Jungseins. Und der Liebe, die daraus entspringt. Und ja, auch des Schmerzes. Er ist weiterhin unerträglich. Der Erfolg des Filmes hilft auf eine gewisse Art. Er ist sinnstiftend, denn mit dem Film ehren wir ihr Andenken. Aber das bringt Ida ja nicht zurück.