Vom Ende einer Familie
Erinnern Sie sich noch, was am 12. Mai 2010, dem Tag der Entführung, genau geschah?
Christoph Bögerl: Um halb elf hatte ich meine Mutter angerufen und ihr erzählt, dass ich gerade auf der Fahrt zu ihr bin.
Sie kamen von der Uni?
Christoph Bögerl: Ja, ich bin oft nach Hause gefahren. Sie fragte mich, was ich essen will. Das war unser letztes Gespräch. Um 11.20 Uhr kam ich in Heidenheim an und wartete, bis sie vom Einkaufen zurück sei. Kurz vor halb eins hab ich sie auf dem Handy angerufen, doch es war ausgeschaltet. Gleich darauf rief mein Vater an. Er sagte: „Christoph, was ganz Schlimmes ist passiert, das darfst du niemandem sagen: Die Mama ist entführt worden.“
Wie wirkte Ihr Vater auf Sie?
Christoph Bögerl: In Panik, verzweifelt. Er sagte, er müsse jetzt das Lösegeld beschaffen.
Wieso? Das ist doch die Aufgabe der Polizei.
Carina Bögerl: Wir haben den Soko-Chef in einem späteren Gespräch so verstanden: Wenn ein Bankdirektor das nicht könne, wer dann?
Was geschah dann?
Christoph Bögerl: Der Entführer hatte meinem Vater am Telefon gesagt, wenn er das Geld abgelegt habe, soll er nach Haus fahren, er melde sich. Auf den Anruf des Entführers haben meine Schwester und ich Stunde um Stunde gewartet. Das Warten war die Hölle. Ich hab die Polizeibeamten, die mittlerweile im Haus waren, angeschrien: „Macht alles!“ Die sagten: „Beruhigen Sie sich, der meldet sich wieder.“
Hat man Sie darauf vorbereitet, was Sie dem Entführer sagen sollten?
Christoph Bögerl: Nein, darüber haben wir nicht gesprochen. Gegen halb fünf hörte ich Schritte. Ich dachte, jetzt kommt mein Vater mit meiner Mutter rein. Stattdessen kam er in Begleitung eines SEK-Manns. Er war völlig fertig. Er war zu spät an den Übergabeort gekommen, weil ihm nicht geholfen worden war. Er sagte, er hätte alles allein machen müssen, die Polizei habe nichts getan, um das Geld zu besorgen.
Wie soll man das verstehen?
Christoph Bögerl: Die Polizei schätzte den Täter als unprofessionell ein, als Deppen. „Der will sein Geld, der holt das auch noch, wenn es dunkel ist“, wurde uns immer wieder gesagt. Es sei nie so, dass sich ein Entführer nur ein einziges Mal melde, versicherten uns die Polizisten. Das wäre völlig atypisch.
Carina Bögerl: Wir haben einfach vertraut. Und gewartet. Wir konnten ja nichts anderes tun. Irgendwann kamen sie darauf, dass sie nicht wussten, wie der Entführer in unser Haus gelangt war. Kurz vor Mitternacht schickten sie dann die Spurensicherung.
Zwölf Stunden nach der Entführung.
Christoph Bögerl: Diese Spurensicherung war unfassbar. Fingerabdrücke auf der Glastür zum Windfang? Nö, geht nicht, behauptete der Beamte. Auf der Tür zum Garten? Geht nicht wegen der Kunststoffbeschichtung. Es hätte der Personalausweis des Täters hinterm Klavier liegen können, sie würden es bis heute nicht wissen. Keiner hat an diesem Tag die Garage inspiziert, wo das Auto meiner Mutter gestanden hatte und in dem sie entführt worden ist. Das geschah erst auf unser wiederholtes Drängen, vier Monate nach der Tat.
Wie verbrachten Sie die Nacht?
Christoph Bögerl: Mein Vater und ich haben wieder und wieder das Handy meiner Mutter angerufen. Es meldete sich nur diese beschissene Mailbox. Die Polizisten sagten, wir sollten schlafen gehen, aber wer kann das in so einer Situation?
Carina Bögerl: Am nächsten Morgen um halb sieben kam der Polizeibeamte, den sie als unseren Betreuer abgestellt hatten, und sagte: „Das Geld ist weg.“
Christoph Bögerl: Das war für uns das Signal: Jetzt hat er es abgeholt, und unsere Mutter ist bald wieder da. Doch eine halbe Stunde später kam der Beamte ganz aufgelöst wieder rein und sagte: Das Geld im Müllsack habe die Autobahnmeisterei versehentlich mitgenommen. Wir sind ausgerastet! Wie ist so eine unfassbare Panne möglich! Das war doch unsere einzige Hoffnung: Wir dachten, wenn das Geld weg ist, würde unsere Mutter frei kommen.
Haben Sie darüber nachgedacht, wer hinter der Entführung stecken könnte?
Christoph Bögerl: Wir haben nichts anderes gemacht als durchzuspinnen, wer das sein könnte.
Wie wirkten die Ermittler auf Sie?
Christoph Bögerl: Im Nachhinein: völlig überfordert, es herrschte Chaos.
Haben Sie ein Beispiel?
Christoph Bögerl: Kurz nach der Entführung bekamen wir den Hinweis, die A-Klasse meiner Mutter sei an einem Sportplatz vorbeigefahren. Das gaben wir an die Polizei weiter. Doch die Beamten sagten, wenn wir wollten, könnten wir selbst suchen. Wir haben dann in diesem Gebiet selbst hilflos Hütten abgesucht und Kleingärtner gefragt, ob sie jemand in einer schwarzen A-Klasse gesehen hätten. Der Beamte, der uns hingefahren hat, stand währenddessen am Auto und rauchte. Zu Hause stellten wir Flipcharts auf, verfolgten mögliche Spuren auf Google Maps und meldeten der Polizei selbst die abwegigsten Sachen. Alles war besser, als untätig in diesem von Reportern belagerten Haus zu sitzen.
Hatten Sie das Gefühl, Sie nerven die Polizei?
Christoph Bögerl: Ja. Wir fragten ständig, gibt es etwas Neues? Und wir stellten immer mehr Fragen nach den Pannen.
Carina Bögerl: Tag und Nacht, jede Minute, hofften wir auf den Anruf des Entführers. Man wartet, man betet. Dann klingelt das Telefon und alle rennen durch das Haus. Und es ist wieder nur ein Wahrsager dran, der unsere Lage ausnutzen will.
Wann regten sich bei Ihnen erste Zweifel an der Polizeiarbeit?
Carina Bögerl: Anfangs haben wir vertraut, so wie jeder das getan hätte. Sie versicherten uns, sie würden das alles professionell machen.
Wann hat sich das geändert?
Carina Bögerl: Als sich herausstellte, dass die Polizei unsere Mutter übersehen haben muss, als das Gebiet in einem Großeinsatz durchsucht worden ist. Uns gegenüber wurde behauptet, der Täter hätte die Leiche erst nach der Suche dort hingelegt. Belege gibt es dafür keine. Hätten sie sie damals gefunden, wäre uns das Martyrium von 22 Tagen erspart geblieben, in denen unsere Mutter als vermisst galt.
Wie hat Ihr Vater auf solche Pannen reagiert?
Christoph Bögerl: Er ist an der Arbeitsweise der Polizei verzweifelt, wie wir alle. Diesen Vorwurf machen wir dem Heidenheimer Polizeichef: Es gab keine Führung. Monate später sagte mir ein Beamter, der nicht aus Heidenheim stammt: „Wir müssen nicht darüber diskutieren, dass in der Anfangszeit schwerwiegende Fehler passiert sind.“
Im Herbst 2010 wurden Sie selbst von der Soko in den Kreis der Verdächtigen einbezogen.
Christoph Bögerl: Es ist nachvollziehbar, dass die Kripo auch in Richtung Beziehungstat ermittelt und deshalb auch das Umfeld überprüft. Aber dann bekamen wir das Gefühl, es wird nur noch in eine Richtung ermittelt, nämlich in unsere. Wir würden uns wünschen, sie hätten in alle Richtungen so intensiv ermittelt.
Haben Sie eine Vermutung, warum das so war?
Christoph Bögerl: Ich glaube, sie wollten verhindern, dass wir ihr Versagen öffentlich machen.
Carina Bögerl: Man kann sich nicht vorstellen, was diese Menschen meinem Vater zugefügt haben, indem sie ihm die Verantwortung für die Geldbeschaffung übertrugen. Schlimmer noch, sie haben ihm die Schuld für das Debakel danach in die Schuhe geschoben.
Die Polizei erklärte damals, Ihr Vater habe das Lösegeld selbst beschaffen wollen.
Carina Bögerl: Auf keinen Fall! Er handelte aus Verzweiflung, weil die Polizei nichts unternahm. Es wäre aber ihre Pflicht gewesen, das Geld zu beschaffen.
Eine Woche nach der Entführung beschworen Sie im Fernsehen den Entführer, Ihre Mutter frei zu lassen. War das Ihre letzte Hoffnung?
Christoph Bögerl: Der Auftritt in „Aktenzeichen XY…ungelöst“ war eine Qual. Man fleht vor sechs Millionen Zuschauern um das Leben seiner Mutter und wird danach dafür verlacht.
Hat es Sie sehr getroffen, dass danach in Internet-Foren Ihre Glaubwürdigkeit diskutiert wurde?
Christoph Bögerl: Das Schlimmste waren nicht diese Kommentare, sondern anonyme Aussagen von Ermittlern, beispielsweise in der „FAZ“, wir hätten uns falsch verhalten. Dabei hatte die Polizei uns den Text, den wir sagten, vorgegeben und uns instruiert. Wer sagt einem denn, was in dieser Situation vor Millionen Zuschauern richtig ist?
Wie haben Sie vom Tod Ihrer Mutter erfahren?
Christoph Bögerl: Nachts um halb eins las ich auf „Bild online“, eine Frauenleiche sei gefunden worden und die Frage: Ist es Maria Bögerl? Es auf diese Weise zu erfahren ist das Allerletzte. Ich hab geschrien, „das kann nicht sein, die Polizei hätte uns das gesagt! Das ist jemand anderes!“ Ich rief die Soko an, unsere Betreuer. Es war keiner erreichbar.
Carina Bögerl: Schließlich rief ich die Polizeizentrale an. Wir hingen in der Warteschleife, ein Beamter sollte uns zurückrufen. Es kam kein Rückruf.
Christoph Bögerl: Mein Vater hat später gesagt, das wird er nie vergessen, wie sie in dieser Nacht zu uns kamen: Der Soko-Chef, dann ganz klein unser Betreuer von der Polizei. Er war der Einzige, der menschliche Züge zeigte, der zu meiner Tante sagte, er käme damit nicht klar, dass sie unsere Mutter nicht zurück gebracht hätten. Sonst gab es keine mitfühlende Geste, nichts.
Carina Bögerl: Das Ausmaß an Pannen hat unser Vertrauen zerstört. Du schreist um Hilfe, doch die Instanz, die dazu da ist, dir zu helfen, macht tausend Fehler und versinkt in planlosem Aktionismus.
Wann kamen die ersten Gerüchte auf, die suggerierten, dass Ihr Vater etwas mit der Tat zu tun haben könnte?
Christoph Bögerl: Sechs Wochen nach der Entführung meldete die „Schwäbische Post“ im Internet, es gebe das Gerücht, mein Vater sitze in U-Haft. Das war absurd. Mein Vater, der neben uns im Wohnzimmer saß, hat sofort dort angerufen.
Aber da machte das Gerücht schon die Runde.
Carina Bögerl: Das war ja das Perfide bei all diesen bösartigen Unterstellungen. Wir wollten uns wehren, aber uns wurde von Anwälten und Medienexperten abgeraten, weil, wie sie meinten, die Ermittlungen dadurch beeinträchtigt werden könnten.
Christoph Bögerl: Wir haben in diesen Wochen nicht anderes gemacht, als unsere Namen zu googeln und zu schauen, was für eine Katastrophe uns heute erwartet. Auffällig waren die Zeitpunkte, an denen solche Gerüchte auftauchten. Als mein Vater wenige Wochen nach der Entführung wieder zur Arbeit zurück in die Bank gehen wollte, gab es eine anonyme Anzeige bei der Bankenaufsicht Bafin, die besagte, er sei nicht geeignet, eine Bank zu führen.
Carina Bögerl: Dann kam der absurde Vorwurf, er selbst hätte den Scheck zur Beschaffung des Lösegelds als Verrechnungsscheck statt als Barscheck ausgestellt. Neun Monate nach der Tat berichtete eine Lokalzeitung, es gebe Gerede in Heidenheim, er habe mit einer Geliebten Zwillinge. Erst wurde er auf fachlicher Ebene diskreditiert, dann auf der moralischen. Das war eine systematische Zerstörung.
Wer streute das?
Christoph Bögerl: Jemand, der ihn zerstören wollte.
Warum sollte das jemand tun wollen?
Christoph Bögerl: Diese Frage stellen wir uns bis heute.
Hofften Sie auf Klarstellung durch die Behörden?
Carina Bögerl: Natürlich! Wir flehten von Anfang an um Richtigstellung. Die Behörden erklärten bei diesen Gerüchten aber meist nur, sie ermittelten in alle Richtungen. Was suggeriert: Es könnte auch wahr sein. Es war kafkaesk. Wir kamen aus diesem Labyrinth nicht heraus.
Wer stand Ihnen bei?
Christoph Bögerl: Familie und Freunde. Jeden Tag und jede Nacht war jemand bei uns.
Carina Bögerl: Genau die, über die Soko-Mitglieder sagten: Wäre Ihre Familie in Ordnung gewesen, wäre die Entführung nicht passiert.
Wie war die Ehe Ihrer Eltern denn tatsächlich?
Christoph Bögerl: Ein Freund meines Vaters hat es in seiner Trauerrede auf den Punkt gebracht: Zusammen waren sie eins. Ohne sie war er nur noch halb.
Carina Bögerl: Unsere Eltern waren 30 Jahre glücklich verheiratet. Sie waren bodenständige Menschen. Meine Mutter war offen und herzlich zu jedem. Ich finde es deplatziert, dass sie als „Bankiersgattin“ dargestellt wird. Wir sind keine Großindustriellenfamilie. Wir wohnten in einem normalen Einfamilienhaus.
Was war Ihre Mutter von Beruf?
Carina Bögerl: Sonderschullehrerin.
Wie hat sich Ihr Vater nach dem Tod Ihrer Mutter verändert?
Carina Bögerl: Bis Weihnachten 2010 ging es noch. Besonders Feiertage waren schwer zu ertragen. Tag für Tag hatte er verglichen: Eigentlich würden wir jetzt Tee trinken, spazieren gehen, ein bisschen fernsehen. Eigentlich. Er wurde aufgefressen von diesem Schmerz. Weil er es zuhause nicht mehr aushielt, fuhr er zu seiner Schwester. Schon gab es wieder Gerüchte: Ist er jetzt zu seiner Geliebten gezogen? Das ist das Groteske: Was man betrauert, wird in den Dreck gezogen. Der Täter hat uns die gemeinsame Zukunft genommen, die Verleumdungen nehmen uns die Vergangenheit.
Konnten Sie ihn noch erreichen?
Christoph Bögerl: Man konnte ihn begleiten, aber nur bis zu einem gewissen Grad. (Er weint). An den Kernschmerz kam man nicht heran. Im Dezember 2010 spürte er auch, dass man ihm den Führungsjob in der Bank nicht mehr zutraute. Im Januar 2011 wurde bei ihm eine Depression diagnostiziert, die sich mehr und mehr verschlimmerte. Bis heute hatten wir alle keine Zeit zu trauern. Die Welt dreht sich weiter, doch meine Welt ist stehen geblieben.
Carina Bögerl: Die Menschen, die uns gut kennen, haben die Gerüchte nie geglaubt. Dennoch, es war die Hölle, wieder unter Leute zu gehen. Jede Sekunde hat man das Gefühl, beobachtet zu werden, vor allem in Heidenheim. Wenn ich in die Apotheke gehe und ein Rezept mit meinem Namen hinlege, frage ich mich, werde ich erkannt?
Christoph Bögerl: Wer eine schwere Depression hat, braucht Ruhe. Unser Vater aber wurde durchs ganze Land gejagt.
Carina Bögerl: Mein Vater war ein starker Mensch, ein Macher. Er hat lange gekämpft, aber bei jedem Menschen gibt es eine Grenze des Erträglichen.
Christoph Bögerl: Als er in die Klinik kam, lag an der Rezeption die „Bild“-Zeitung, mit seinem Foto und dem Gerücht, dass er Vater von Zwillingen geworden sei. Das hat seine Genesung zusätzlich erschwert, außerdem der ständige Druck, wieder für den Beruf fit zu werden.
Und dann begannen die Ermittlungen gegen Sie.
Carina Bögerl: Nach sechs Wochen kamen drei Polizeibeamte in die Klinik und eröffneten meinem Vater, dass mein Bruder und mein Lebenspartner unter Verdacht stünden, mit dem Entführer in Kontakt zu sein. Sein Haus müsse durchsucht werden. Sie stellten ihn vor wie Wahl: Entweder er ist um fünf Uhr in Heidenheim, oder sie bohren die Tür auf. Mein schwer depressiver Vater ist daraufhin die 200 Kilometer nach Heidenheim gerast.
Christoph Bögerl: Von da an haben sie uns massiv verfolgt. Ich wurde sieben Stunden lang von der Polizei zu den Telefonaten befragt. Ich fühlte mich entwürdigt und in die Enge gedrängt durch ihre absurden Behauptungen, zum Beispiel: Ich hätte Schulden. Ich sagte: „Ihr könnt doch nicht einfach solche Sachen erfinden. Wenn ihr mir nicht glaubt, will ich jetzt in Untersuchungshaft.“ Darauf haben sie mich heimgeschickt. Auf solch einer Basis haben sie monatelang gegen uns ermittelt - und uns die ganze Zeit abgehört. Bei diesem Ausmaß an Willkür zerbricht der Glaube an den Rechtsstaat.
Carina Bögerl: Der Gedanke, dass sie mich abgehört haben könnten, wenn ich mit meinem Vater telefonierte, der so schwer krank war – das ist widerlich!
Christoph Bögerl: Sie schafften ein System der Angst. Als klar war, dass es die belastenden Telefonate gar nicht gegeben hatte, hat meine Tante den Staatsanwalt gefragt, warum die Ermittlungen gegen uns nicht eingestellt würden. Er sagte, sie müssten dafür keine Begründung abgeben.
Wie haben diese Ereignisse Ihr Leben verändert?
Christoph Bögerl: Ich war davor ein fröhlicher Mensch, ich hatte ein sorgenfreies Leben als Student. Ich war ein Mamakind, und ich bin stolz darauf, das sagen zu können. Sie war für mich diese Urvertraute, die immer da war. Doch sie zu verlieren und auch noch den eigenen Vater zugrunde gehen zu sehen, das lässt einen fast kaputtgehen.
Carina Bögerl: Wir waren so behütet. Wir haben jeden Tag telefoniert. Diese Alltäglichkeiten gibt es nicht mehr. Man steht einem Nichts gegenüber. Wer ist dieser Täter? Er ist das Böse für mich. Es kann eindringen in ein Leben, das völlig normal ist.
Ihrem Vater ging es dann immer schlechter.
Christoph Bögerl: Er stand unter permanentem Druck. Dann ging es auch um seine berufliche Zukunft. Im April 2011 gab es ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten, der ihm eine Frist setzte, bis zu der er wieder arbeitsfähig sein müsse. Doch wegen all der Anfeindungen konnte er in dieser Zeit einfach nicht gesund werden.
Carina Bögerl: Da brach diese Säule auch noch weg.
Nach dem Tod Ihres Vaters wurde Ihr Elternhaus ein zweites Mal durchsucht. Warum?
Carina Bögerl: Wir verstehen es bis heute nicht. Mein Vater war ja niemals Beschuldigter, es gab kein Ermittlungsverfahren gegen ihn.
Christoph Bögerl: Was die Polizei nicht daran hinderte, einen Tatverdacht gegen meinen Vater in den Raum zu stellen. Wer meinen Vater vor dem 12. Mai 2010 und danach gesehen hat, der wusste, er war gebrochen. Der Heidenheimer Polizeichef Volker Lück sagte in einem Interview, die Situation sei für die Familie schwer erträglich. Er verschwieg, was er und andere dabei zu verantworten haben.
Carina Bögerl: Es ist unfassbar, dass wir hier sitzen und wir so viel Zeit, Kraft, Wut, Gedanken an diese Menschen verschwenden. Eigentlich müssen wir uns über den Täter unterhalten…
…der immer noch frei herum läuft.
Carina Bögerl: Ich hatte anfangs wahnsinnige Angst, dass er zurückkommt.
Warum gehen Sie jetzt in die Öffentlichkeit?
Carina Bögerl: Es kann nicht sein, dass in einem Land, das den Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ im Grundgesetz hat, Opfer wie Dreck behandelt werden. Wir verlangen, dass eine völlig unabhängige Sonderkommission die Suche nach dem Täter übernimmt. Und dass sich ein Untersuchungsausschuss mit den Pannen befasst.
Erwarten Sie eine offizielle Entschuldigung?
Carina Bögerl: Es wäre das Mindeste, dass die ermittelnden Behörden uns mit Respekt begegnen und die Verantwortung für ihre Fehler übernehmen.
Wie geht es Ihnen nach alledem?
Carina Bögerl: Wenn Sie das Gefühl bekommen, dass nur jene verfolgt werden, die unangenehme Fragen stellen, aber die, die Unrecht begangen haben, unbehelligt bleiben, führt das zur seelischen Zerrüttung. Wir wollen raus aus dieser Rolle. Wir streben eine innere Freiheit an. Die aber setzt voraus, dass die Dinge richtiggestellt werden. Das ist der erste Schritt. Dann müssen wir uns an den Ausgangspunkt zurückarbeiten, dorthin, wo man beginnen kann zu trauern.