Zeitenspiegel Reportagen

Der schlafende Riese

Erschienen im „MUT Magazin für Lösungen“ 10/2018

Von Autorin Uschi Entenmann

Jahrhundertelang wurde Afrika von Europa ausgeplündert. Inzwischen besinnt sich der „schwarze“ Kontinent auf seine Stärken. Andreas Eckert, Professor für Geschichte Afrikas, zeigt, welche Unterstützung sinnvoll ist - und wovon wir die Finger lassen sollten.

Herr Professor Eckert: Wenn von Afrika die Rede ist, fallen immer wieder Begriffe wie Hunger und Epidemien, Krieg und Korruption. Die Frage drängt sich auf: Ist Afrika noch zu retten? Wir dürfen nicht in die Falle tappen, den Kontinent mit ein paar Schlagworten zu charakterisieren. Allein südlich der Sahara gibt es 49 Länder, riesengroße und winzige, ressourcenreiche und -arme. Noch vielfältiger sind die kulturellen Unterschiede: In keinem anderen Kontinent gibt es so viele Religionen und Sprachen.

Wieso hören wir dann Afrika-Experten immerzu nur klagen?
Viele kennen nur einzelne Staaten und verallgemeinern. Wäre ich Kongo-Experte, hätte ich auch ein düsteres Bild. Und das Problem bei Journalisten ist: Sie sitzen in Johannesburg oder Nairobi und berichten über den gesamten Kontinent. Was es in die Medien schafft, sind meist die Katastrophen.

Bleiben wir beim Stichwort Korruption: Ist sie Afrikas größtes Problem? Ich will die Korruption nicht kleinreden, aber einordnen. Wir alle machen mit. Wer Rohstoffe aus Afrika bezieht, beteiligt sich intensiv daran. Diamanten, Gold, Kupfer - die Macht in Afrika basiert auf dubiosem Handel. Der Abbau von Coltan im Kongo ist ein Beispiel, ebenso das Öl in Nigeria und Angola. Europäischen Konzernen ist es egal, ob dort Steuern gezahlt werden. Dieser Egoismus zieht sich quer durch alle Schichten und Länder. So wird Korruption zur Überlebensstrategie. Uns muss klar sein: Wenn in Afrika europäische Umwelt- und Sozialstandards eingeführt würden, wären viele unserer Produkte sehr viel teurer.

Wie kann man das aufbrechen? Wir müssten die rohstoffreichen Staaten Afrikas verpflichten, ihre Bevölkerung am Reichtum zu beteiligen. Aber die internationalen Diamanten- oder Ölkonzerne wollen Profit schöpfen. Unter unmenschlichen Bedingungen.

Gibt es auch Staaten, in denen sich ein Wandel zu mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit anbahnt?
Das kleine Botswana ist vergleichsweise stabil, ebenso Ghana, wo schon seit dem 19. Jahrhundert eine Elite an Bildung als gesellschaftlichem Wert festhält. Selbst unter dem Militärregime von Jerry Rawlings wurden Korruption und Misswirtschaft bekämpft. Auch im Senegal gibt es eine politische Konstellation aus mehreren Parteien und Amtsinhaber, die nicht an ihrer Position kleben.

Wagen Sie es, eine Prognose für die Länder der Subsahara zu stellen? Das wäre in der Tat ein Wagnis. Nehmen Sie Ruanda. Anfang der Neunziger sagte jeder Afrika-Experte, das Land sei die Schweiz Afrikas. Doch kurz danach passiert dort einer der schlimmsten Völkermorde des 20. Jahrhunderts. Die Konstellationen in Afrika sind komplex. Kenia ist politisch unberechenbar, aber die Weltbank verspricht sich viel von der neuen Mittelklasse, die sich nicht mehr von staatlicher Willkür drangsalieren lassen will.

Bleibt das Problem der Überbevölkerung. Ein Beispiel ist Nigeria. Dort lebten Mitte der sechziger Jahre rund vierzig Millionen, heute sind es mehr als viermal so viele. Kann so ein Kontinent auf sozialen Fortschritt hoffen? Bis in die sechziger Jahre hatten die Kolonialherren das Problem, Arbeitskräfte zu finden, Afrika war unterbevölkert. Heute ist das anders. Kinderreichtum ist ein Armutsproblem. Aber auch eines der Bildung und der Geschlechterhierarchien.

Was hat Kinderreichtum mit Bildung zu tun? Viel. Denn noch immer preisen Patriarchen in abgelegenen Dörfern Kinderreichtum als Segen, die Folge sind dreizehnjährige Mütter, die kaum Chancen auf Bildung und Beruf haben. Bisher ist Afrika von allen Kontinenten am wenigsten verstädtert, aber auch der Erdteil mit der höchsten Landflucht. Die Menschen fliehen in die Städte, weil sich die Wüsten ausbreiten und weil ihnen das urbane Leben Bildung und Wohlstand verspricht.

Wo können wir ansetzen? Wir sollten etwa aufhören, mit hoch subventionierten EU Agrarprodukten die Märkte in Afrika zu überfluten. Lokale Produkte sind nicht mehr wettbewerbsfähig. Ein Unding, dass Afrikaner Hähnchen aus Deutschland essen. Europa lässt Afrika im Welthandel außen vor. Auch der große Reformator Emmanuel Macron wird beim Thema Agrar-Subventionen zurückhaltend. Landwirtschaft ist eine heilige Kuh, keiner will sich mit den Bauern anlegen. Afrikanische Staaten sollten Importzölle erheben. Damit fängt es an.

Agrarexperten empfehlen, Infrastrukturen aufs Land zu bringen: Wegenetze, Wasser, Strom… Stimmt, die ausländischen Investitionen ins Straßen- und Eisenbahnnetz betreffen bisher weitgehend Regionen, in denen es Rohstoffe zu holen gibt. China zum Beispiel investiert ausschließlich in ein Verkehrsnetz, das allein seinen Zwecken dient. Das bringt ländlichen Regionen kaum etwas.

Ist China auch Vorreiter beim Landraub? Land Grabbing ist bittere Realität. Und es sind nicht nur die Chinesen, sondern internationale Konglomerate, die sich Land unter den Nagel reißen. China hat viele Milliarden in den Kauf großer Agrarflächen investiert, um langfristig die eigene Bevölkerung ernähren zu können. Viele Afrikaner sind deshalb nicht gut auf die Chinesen zu sprechen. Aber dass wir Europäer die Chinesen kritisieren, verstehen sie nicht: Ihr habt es zur Kolonialzeit doch viel schlimmer getrieben und uns schließlich als hoffnungslosen Fall im Stich gelassen. Nun stößt China in die Lücke.

Wie können wir Europäer es besser machen? Die Entwicklungshilfe ist bei uns im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit angesiedelt, das heißt im Klartext: sie soll in erster Linie deutsche Exporte fördern, ist also nicht gerade selbstlos. Lediglich in den sechziger Jahren kam ein humanitärer Aspekt ins Spiel, verkörpert durch den damaligen Minister Erhard Eppler. Nach seiner Amtszeit wurde die Entwicklungshilfe wieder primär zu einem Geschäft. Doch einfach mit ihr aufzuhören, ist keine Lösung. Die Afrikaner sind in ein kompliziertes Netzwerk ökonomischer Abhängigkeit eingebunden. Dass man sie von heute auf morgen autark walten lassen könnte, ist blauäugig.

Hätten Sie die Machtbefugnis eines globalen Entwicklungsministers, was würden Sie tun? Ich würde administrative Strukturen verbessen, Brunnen bauen, alternative Anbaumethoden einführen. Aber auch mit dem rassistischen Vorurteil vom sogenannten „faulen Neger“ aufräumen. Afrika ist unser Nachbarkontinent. Ein Umgang auf Augenhöhe wäre angebracht. Aber wir beuten Afrika auch heute noch massiv aus. Ich weigere mich allerdings zu sagen, unsere Welt sei halt neokolonial und deshalb leide Afrika. Das ist zu simpel. Afrika ist nicht das ewige Opfer und der Rest der Welt der ewige Schurke. Die Sache ist komplizierter.

Aber es gibt sie doch, diese Ungerechtigkeiten! Klar. Dazu noch Zynismus. Die Weltbank sagt, afrikanische Produzenten sollen ihre Waren auf dem freien Markt verkaufen, doch die werden hierzulande mit hohen Zöllen belegt. Deutsche Produzenten können ihre Waren in Afrika relativ zollfrei loswerden.

Wie sieht Ihre Vorhersage als Historiker für Afrika aus? Ich bin nicht nur pessimistisch. In manchen Ländern sind siebzig Prozent der Einwohner jünger als dreißig! Das ist einerseits ein Grund zur Sorge, es gibt einen Mangel an adäquaten Arbeitsplätzen für eine immer besser ausgebildete Jugend. Zugleich gibt es zahlreiche Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller, die global unterwegs sind. Manche Staatsregierungen haben sich als stabil erwiesen, dort bildet sich eine demokratische Kultur. Dass alle ihr Heil bei uns suchen wollen, dieses Bild trügt. Viele wollen im eigenen Land anpacken. Ein regelrechter Trend wird sichtbar, viele sagen: Wir verändern hier was.

Immer noch als Entwicklungsminister - wie würden Sie das bewerten? Ich würde anerkennen, dass manche afrikanische Universitäten Spitzenforschung betreiben. Es gibt international sichtbare Leuchttürme. Ich würde mich für Pressefreiheit einsetzen. Für Demokratie. Das ist eine klassische Aufgabe für politische Stiftungen: Gewerkschaftler und Journalisten ausbilden, schützen und unterstützen.

Wären Sie Präsident in einem afrikanischen Land, was würden Sie tun? Grundsätzlich würde ich Bildungsprojekte vorantreiben, die Region ökologisch auffrischen und vor allem nicht nur auf Rohstoffabbau abzielen, sondern auf die gesamte Wertschöpfungskette. Ich würde Agrarentwicklungen fördern und darauf dringen, alle Produkte im Land zu verarbeiten. Die Industrialisierung möchte ich vorantreiben und die Ausbeutung eindämmen.

Statt den Kontinent auszubeuten, könnte Europa denn von Afrika profitieren? Afrika ist einer der bevölkerungsreichsten Kontinente mit den meisten Rohstoffen, politisch-strategisch wichtig. Es ist eine Weltregion, über die sehr viele Vorurteile im Umlauf sind, ein Kontinent, der bisher eigentlich kaum einen interessiert, es sei denn, seine Bewohner wollen zu uns. Europa und Afrika sind historisch miteinander verflochten. Das birgt auch Chancen.

Was können wir von Afrika lernen? Die Geschichte Afrikas ist die Geschichte von Menschen, die unter sehr schwierigen Bedingungen kreativ überlebt haben. Das verdient Respekt. Ebenso die Fähigkeit zur Integration. Nicht zum Vergessen, aber zum Verzeihen. Nelson Mandela, der dieses Jahr hundert geworden wäre, ist ein gutes Beispiel. Er war 27 Jahre im Gefängnis, erlebte eine menschenverachtende Politik und entschied sich trotzdem später gegen einen Weg, der zum Bürgerkrieg geführt hätte. Er war ein Politiker mit Weisheit und Integrationskraft.

Und nun? Tritt jetzt eine neue Generation an, die ein anderes Afrika gestalten möchte? Der Kolonialismus ist Geschichte und die ältere Generation ist weg. Für die Jungen ist dieses moralische Ding nur Ballast. Sie wollen die Kolonialzeit nicht ausblenden. Aber sie möchten sich auch nicht mehr nur aus dem Befreiungskampf heraus legitimieren. Sie versuchen, die tief verunsicherte, verarmte, perspektivlose Gesellschaft mitzureißen. Es gibt Hinweise auf eine neue Politikergeneration, die sich durchsetzen kann. Wir sollten sie darin unterstützen.

Gibt es Bewegungen, die diesen Prozess unterstützen können? Es gibt die Afrikanische Union, sie ist keine Heldengeschichte, ist nicht effektiv, hat aber eine Struktur. Aber wir sehen es ja in der Europäischen Union, wie schwierig es ist, unterschiedliche Staaten unter einen Hut zu bringen. Es gab große Erwartungen an Barack Obama, letztendlich hat er enttäuscht, weil er sich nicht für Afrika interessiert hat. Unter Donald Trump gibt es Afrika gar nicht. Umgekehrt sind Europa und Nordamerika für afrikanische Eliten nicht mehr das Nonplusultra. Heute schicken afrikanische Familien der Oberschicht ihre Kinder verstärkt nach Singapur, Hongkong oder Abu Dhabi, nicht mehr nur nach Oxford, Paris oder Princeton.

Wie geht es weiter? Afrika war der Champion des Wirtschaftswachstums, als der Ölpreis hoch war. Aber das hat sich nicht in Arbeitsplätzen niedergeschlagen. Trotzdem gibt es Indikatoren dafür, dass es vielen Afrikanern besser als früher geht. Weniger Analphabeten. Weniger Kinder, die sterben. Weniger Malariatote. Das macht Mut.