Zeitenspiegel Reportagen

Politiker im Porträt 2009

Erschienen in "Das Parlament"

Von Autor Jan Rübel

Seit Januar 2009 porträtiert Zeitenspiegler Jan Rübel für die Rubrik “Parlamentarisches Profil” der Bundestagszeitung “Das Parlament” Abgeordnete des Deutschen Bundestages.

Das Parlament, 28. Dezembber 2009
Zielstrebiger Orgelspieler: Volker Wissing

Der Föderalismus passt bei Volker Wissing in kein Regal mehr. Bis an die Decke stapeln sich im Berliner Büro des Bundestagsabgeordneten die Aktenordner, viele von ihnen zur “Föderalismuskommission II”. “Das liegt hinter mir”, sagt der Liberale, der die FDP in dem Gremium vertreten hat, “das war ein hartes Stück Arbeit”.

Es scheint nicht so, als ob sich Wissing, Abgeordneter der FDP aus Landau in der Pfalz, nach dieser Kommission zurücksehne. “Wir haben nicht alles abgearbeitet”, zieht der Fraktionssprecher für die Föderalismusreform Bilanz. Über lange Zeit habe man in der Kommission planlos agiert, und die Vorsitzenden seien nicht sehr strukturiert gewesen. Überhaupt Struktur: Dieses Wort fällt bei ihm oft.

Viele nennen Wissing einen Musterjuristen. Zwar gibt es im Parlament viele Rechtswissenschaftler, jede Menge Anwälte. Wissing aber war schon mit 26 Jahren Richter, ging zur Staatsanwaltschaft und verfolgte stets ein Ziel: Den Eingang und Ausgang von Akten im Gleichgewicht zu halten. Struktur zu wahren. Später wechselte er als Referent des Mainzer Justizministers Herbert Mertin in die Politik.

Wenn er einen Raum betritt, fällt er weniger auf als andere. Sacht schreitet er, kein physisches Alphatier, das Raum greift. Doch die graublauen Augen funkeln umso lebendiger, und Wissing, 39, lächelt Präsenz herbei. Monologe hört man bei ihm selten, stattdessen kurze, freie Rede. Seine Zusammenfassung zum Wechsel von der Justiz zur Politik: “In der Politik wird zuwenig zugehört und zuviel geredet.” Was will er dann dort? Vielleicht sind es die vielen Aktenordner, die ihn reizen. Die Ordner zur Föderalismuskommission könnten bald raus, dafür wird der Finanzausschuss mehr Platz beanspruchen. Wissing ist zu Beginn der neuen Legislatur zum Vorsitzenden gewählt worden. “Ich wechselte in die Politik, weil ich näher an die Gesetze heran wollte, an ihre Entstehung. Und mich reizte die Verantwortung.”

Verantwortung ist das zweithäufigste Wort in Gesprächen mit ihm. Selbst wenn er vom Orgelspielen schwärmt, seiner Passion, redet Wissing von den Zuhörern im Rücken, für die er im Gottesdienst spiele; und dann landet er zügig wieder bei seinem ersten Lieblingswort und der Exaktheit, die Fugen beim Spiel einfordern. “Den Beruf Kirchenmusiker wollte ich aber nicht ergreifen. Ich war immer unzufrieden mit mir, weil ich so hohe Ansprüche an mich formuliert hatte.” Doch eines sei Juristerei und Orgelspiel gemein: Beides sei auf Disziplin getrimmt, sagt Wissing.

Die Verantwortung ist in der neuen Legislatur gestiegen, und Dank dem schwarz-gelben Wahlsieg Ende September ist Wissing nun auch bei der Gesetzgebung näher dran, besonders beim liberalen Dauerbrenner Abgaben: “Wir werden die Steuersenkung jetzt durchziehen, weil es geht”, sagt er etwas trotzig.

Das klingt nach exekutierendem Macher, aber Wissing bleibt ganz der Legislative verhaftet. “Wir sind eingekesselt”, skizziert er die Lage der Koalition. “Einerseits haben wir endlich die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, und andererseits eine unerfreuliche Wirtschaftslage.” Das sei sehr unangenehm. “Aber genau diese Unannehmlichkeit wollte ich für die Bundesregierung als Parlamentarier erreichen.” Nun müsse man eben im Hier und Jetzt effizienter werden.

Ärgern kann er sich. Wenn Wissing über fehlenden Wettbewerb zwischen den Bundesländern spricht, ziehen sich plötzlich zwei Furchen um den Mundwinkel. “Der Finanzausgleich schädigt Deutschland”, sagt er. “Denn mangelnde Effizienz wird im Ausgleich nivelliert, das muss sich ändern.”

Etwas hat sich schon geändert. In der Opposition hat er zahllose Fragen an die Bundesregierung gerichtet, Anträge in den Bundestag eingebracht. “Das Fragerecht ist das Schwert der Opposition”, sagt der Jurist. Er wird künftig wohl weniger davon Gebrauch machen - in den kommenden vier Jahren. Bei einer Senkung der Einkommensteuern steht er im Wort. Da muss er jetzt ran als Vorsitzender des Finanzausschusses. Und dann lächelt er über diese unangenehme Lage.

Das Parlament, 14. Dezember 2009
Die Gestaltende: Viola von Cramon-Taubadel

Heute ist wieder so ein Tag, an dem sie sich um ihre Achse dreht - wie beim Ballett. “Mein Laptop streikt”, sagt sie zur Bürohilfskraft, wendet sich im gleichen Atemzug um 45 Grad zur Mitarbeiterin für die Terminabsprache und, mit einem gleichzeitigen weiteren Halbkreis zu einem dritten Kollegen: “Hast Du meinen Kalender gesehen?” Willkommen im ganz normalen Chaos im Berliner Jakob-Kaiser-Haus. Die Arbeitsräume der Viola von Cramon-Taubadel belaufen sich auf etwa 15 Quadratmeter, die sich die neu in den Bundestag gewählte Grünen-Abgeordnete mit ihren drei Kollegen teilt. Vorläufig, wie es heißt, wohl bis Februar.

Nein, noch läuft nicht alles rund, “ich muss unbedingt mein Fahrrad nach Berlin holen”, sagt die 39-Jährige. Heute Morgen wollte sie es von ihrer gestern bezogenen Wohnung mal mit der Tram zum Reichstag versuchen, doch die fiel aus. Den Schienenersatzverkehr fand sie nicht, und wurde schließlich von ihm während ihres Fußweges überholt - willkommen in Berlin, das etwas größer geraten ist als das 1200-Seelen-Dörfchen Waake bei Göttin-gen, in dem sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern lebt.

“Großstadtleben ist für mich nichts Neues, Leben auf dem Lande bedeutet nicht automatisch provinzielles Denken”, sagt von Cramon-Taubadel. Die Agrarwissenschaftlerin hat in mehreren Ländern Osteuropas gelebt, in den USA und in China. Im Bundestag indes wird sie nicht zu landwirtschaftlichen Themen arbeiten, “bei so viel Agrarkompetenz in der Fraktion bin ich froh, problemlos in der Europa- und Außenpolitik arbeiten zu können”. Ihr Arbeitsgebiet erstreckt sich einer Banane gleich von der Ukraine über den Zentralkaukasus bis nach China. Mag es mit dem Ankommen im neuen Job noch etwas haken, die Begeisterung indes dafür ist längst da. “In China könnte man durch prag-matisches Herangehen viel in der Umweltpolitik bewegen, das ist enorm”, strahlt sie und reißt die Augen weit auf. Klein werden sie im nächsten Moment, als sie Merkels Empfang des Dalai Lamas im Kanzleramt 2007 als “ungeschickt” brandmarkt und die Russlandpolitik Gerhard Schröders als “einseitig und beschränkt” geißelt. Sigmar Gabriel, der aus ihrem Wahlkreis Goslar-Osterode-Northeim entstammt, sei ein “Schaumschläger”, der als Umweltminister weit hinter den Erwartungen zurück geblieben sei. Opposition kann sie. Doch eigentlich wolle sie gestalten. Mithelfen, um eine Integration der Staaten Europas mit ihren Nachbarn auf einer ökologischen Grundlage voranzubringen. Dafür hört sie erstmal zu. Konzentriert lauscht von Cramon-Taubadel den neuen Kollegen, ihren weißen Hemdkragen oft aufgestellt und die Ärmel umgekrempelt. Ja, sie freue sich über die vielen neuen Eindrücke und die Infrastruktur, die ihr effizientes Arbeiten ermöglichen würde. Und sie lacht über Fragen rund um die Verköstigung der Bundesabgeordneten: Wie viele Kilos bist du schon im Bundestag?

Einen Schreibtisch hat von Cramon-Taubadel noch nicht, aber einen Plan. “Ich will mich im Wahlkreis reinhängen, so richtig bekannt bin ich da ja noch nicht.” Ihre Kandidatur für den Bundestag verdankt sie, so sagen Parteigrößen, weniger ihrer noch bescheidenen Vernetzung bei den Grünen als ihrer Fachkompetenz und ihrem zupackenden Auftritt. Dennoch wurde es knapp. Platz sieben auf der niedersächsischen Landesliste, das schien unmöglich; waren 2005 doch nur fünf Grüne aus dem Land ins Bundesparlament gezogen. Es wurden diesmal genau sieben. “Wir hatten in der Wahlnacht am Ende den Laptop ans Bett gestellt, um 4:30 Uhr schließlich weckte mich mein Mann und sagte: ?Hey, Du bist dabei’.”

Seitdem nehmen die Pirouetten um ihre Achse nicht ab: Morgens muss ein Referent für den Sportausschuss angestellt werden. Mittags steht ein Essen mit Vertretern des American-Jewish Committee an und abends ein Treffen mit Abgesandten der Evangelischen Kirche. Dazwischen Telefonate und Briefings. Allein mit Drehungen kommt man da kaum weiter. Sie war früher einmal Leichtathletin, lief oft die Mittelstrecken. Ihre Erfahrungen von damals wird sie für ihren neuen Job wieder erwecken müssen - nicht nur für den Gang zum Büro.

Das Parlament, 16. November 2009
Der Ankermann: Hartmut Koschyk

Es gibt magische Momente in der Politik, die Hartmut Koschyks Leidenschaft für seinen Job erklären. Es war in der vergangenen Legislatur, er hatte bei einer Plenarsitzung plötzlich diesen Feldherrenblick. Seine Augen wanderten über das Plenum, sorgenvoll hielten sie bei den Rängen der Großen Koalition inne. Es war früher Abend. Zu wenig los für den Parlamentarischen Geschäftsführer (PGF) aus der CSU - unter den eigenen Leuten, eine wichtige Abstimmung nahte, die Regierungsmehrheit wackelte. Koschyk griff zum Hörer vor sich, er wählte die Nummer des Präsenztelefons in der Unionsfraktion. Einen Augenblick später ging eine SMS an alle Abgeordneten von CDU und CSU. Die Bänke müssen sich füllen, sonst verliert der Feldherr diese Schlacht. Er verlor sie nicht. In der neuen Legislatur kommt nun eine neue Aufgabe auf ihn zu; Koschyk ist als parlamentarischer Staatssekretär ins Finanzministerium gewechselt. Es sind auch die Früchte seiner Arbeit als PGF.

Er lehnt sich in seinem Büro zurück, sein rechter Zeigefinger wandert entlang der hauchdünnen Streifen auf seinem Anzug in Preußisch Blau. Er sagt: “Früher war ein PGF Zuchtmeister, aber das war einmal.” Heute habe man mehr Rücksicht zu nehmen auf die Eigenständigkeit der Abgeordneten. Damit kennt sich Koschyk aus. Vor seiner Beförderung zum PGF stimmte auch der Franke aus Forchheim mal entgegen der Fraktionslinie, wie mit Rot-Grün für die Einführung des Dosenpfands. Aber was heißt Franke? Jeder Lebenslauf von Koschyk beginnt mit der Vertreibung seiner Eltern aus Oberschlesien. Wie ein roter Faden durchzieht sie seine politische Biografie. “Ich bin durch den Erfahrungshintergrund meiner Eltern nachhaltig geprägt worden”, sagt Koschyk, und wer dann einen Monolog über Leid, Trauma und Verlust von Koschyk erwartet - wird enttäuscht: “im positiven Sinn wurde ich geprägt”, setzt er nach.

“Meine Eltern haben ihre schlesische kulturelle Identität an uns Kinder weitergegeben wie einen kleinen Schatz”, erinnert er sich. Die Trachten, die Tänze - das sei im neuen Gastland Bayern eh auf fruchtbaren Boden gefallen. Und überhaupt: “Die Franken haben früher Schlesien besiedelt”, sagt er und verweist auf den Mädchennamen seiner Mutter: Franke.

Was sich anhört wie ein Kreislauf aus lauter Tradition, hat einen harten politischen Kern. Die Vertreibung seiner Eltern führte zum Engagement des jungen Koschyk im Bundesverband der Vertriebenen (BdV). Das Festhalten an der Ostpolitik der Union und an der Wiedervereinigung brachte ihn zur CSU. Mit 28 Jahren wurde er Generalsekretär des BdV, vorher hatte er als Student einem CDU-Bundestagsabgeordneten wissenschaftlich zugearbeitet. Wovon viele wissenschaftliche Mitarbeiter von Parlamentariern träumen, erfüllte sich für Koschyk: 1990 wurde er jüngster Abgeordneter der CSU-Landesgruppe im Bundestag.

Koschyks Sekretärin mahnt den nächsten Termin an. Ein Chefre-dakteur einer deutschsprachigen Zeitung in Argentinien wartet. Sein Engagement für kulturelle Identität auch anderswo mutet zuweilen verzweifelt an. Auf seiner privaten Website schreibt Koschyk: “Heute scheinen die unveräußerlichen Rechte des Menschen in Gefahr. Zu nennen sind hier die Entwicklungen in der Biotechnologie, das Klonen, die embryonale Stammzellenforschung, aber auch die Tötung ungeborenen und zu Ende gehenden Lebens.” Es klingt, als suchte er nach Halt und Ankern, als regierten vor allem Fliehkräfte die Globalisierung.

Ein Scharfmacher ist Koschyk nicht. Er sucht vermittelnde Worte. Sei es als Briefträger von Botschaften zwischen Nordkorea und Südkorea - Koschyk steht der Deutsch-Koreanischen Parlamentariergruppe vor.

Oder sei es bei der vergangenen Bundesversammlung, als sich Koschyk zum Abschmettern von Anträgen der rechtsextremen NPD mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern zusammensetzte. Eigenschaften, die er als Parlamentarischer Staatssekretär wird bemühen müssen - als Mittler zwischen Legislative und Exekutive. Koschyks Sekretärin erscheint zum zweiten Mal. Seine stahlblauen Augen funkeln - wie ertappt. Er springt auf. Und eilt hinaus.

Das Parlament, 26. Oktober 2009
Mit dem Mut zur Geduld: Georg Nüßlein

Neulich hat Georg Nüßlein einen ganz großen Hecht an Land gezogen. Hatte ihn beobachtet, über viele Wochen hinweg, wie er wuchs und sich lümmelte und die kleineren Fische fraß. Und dann doch an der Angel des Georg Nüßlein aus Krumbach in Bayrisch-Schwaben landete. Ähnlich wie am Forellenweiher daheim verhält es sich mit der politischen Karriere des 40-Jährigen in Berlin.

Als er 2002 in den Bundestag einzog, musste Nüßlein seinen Ehrgeiz zügeln. In die Wirtschaftsarbeit wollte er sich stürzen, sah sich durch seine Erfahrungen als promovierter Wirtschaftsjurist, Unternehmensberater und Banker dafür wie gemacht - und musste mit ansehen, wie andere an ihm vorbeizogen. Nüßlein musste sich an den Teich setzen und warten. Seine Zeit kam.

“Seit meiner Jugend interessierte ich mich für Umweltschutz und Umweltpolitik”, erinnert er sich und macht es sich in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus gemütlich, so gut das eben geht. Stützt den rechten Ellbogen auf der Stuhllehne ab und streckt sich nach hinten. Es ist laut hier. Praktikanten arbeiten in seinem Zimmer an Computern, kommen und gehen; ins geschäftige Treiben hinein sagt er: “Die CSU hat längst erneuerbare Energien im Stellenwert auf den ersten Platz gehievt.”

Nutznießer dieser Entwicklung: der passionierte Angler, Jäger und Umweltschützer Nüßlein. 2005 stieg er zum energiepolitischen Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag auf, 2008 zum Vizevorsitzenden des Wirtschaftsausschusses und in diesem Jahr - nach einigen Rochaden innerhalb der CSU - zum wirtschaftspolitischen Sprecher der Landesgruppe. Der Fisch war endlich am Haken. “Ich mische mich gern ein”, sagt er, “ich liebe dieses weite Betätigungsfeld.” Eine Gipsbüste von Franz-Josef Strauß ziert sein Büro - wie im Empfangsraum des bayerischen Ministerpräsidenten in der Münchener Staatskanzlei. Nur stehen dort nicht daneben zwei Windräder en Miniature. Nüßlein ist nicht nur Jäger, sondern auch Sammler. Das Telefon klingelt. Wieder eine Firma aus dem Wahlkreis am Apparat, es geht um Kreditfragen in Zeiten der Krise. Der Umweltpolitiker Nüßlein ist derzeit weniger gefragt als der Wirtschaftsfachmann Nüßlein. Und der treibt Haushaltspolitiker, auch in der Union, zur Verzweiflung. “Knappe Mittel sind kein Politikverbot, sondern ein Ansporn zu politischem Mut und Kreativität”, sagt er mit Blick auf die Ausgabendisziplin. Nüßlein ist klar christsozial. Er habe Verständnis dafür, dass die private Haushaltsfrage vielen wichtiger sei als die staatliche. Und dann zetert der ehemalige Banker, im Visier die neoliberalen Kollegen in der CDU: “Wer Politik für 30 Prozent der Wähler macht, darf sich nicht wundern, wenn er am Ende nur 30 Prozent der Stimmen hat.” Sein Parteichef Horst Seehofer hätte es nicht anders gesagt.

Im siebten Jahr seines Parlamentarierdaseins fühlt sich Nüßlein wohl in seiner Haut. Entschieden hat sich für ihn die Frage, ob es richtig gewesen war, die Laufbahn eines aufstrebenden Jungbankers abzubrechen und sich um jenes Wahlkreismandat zu bemühen, das einst Theo Waigel viele Jahre innehatte: “Ja, dieser andere Bereich der Verantwortung in der Politik ist für mich konkreter, fassbarer und erfüllender.” Seinen ehemaligen Kollegen aus der Finanzbranche gibt er auf den Weg: “Viele Risiken waren wohl nicht erkennbar. Einen Risiko-Rendite-Zusammenhang muss aber gerade ein Banker präsent haben. Unter diesem Gesichtspunkt sind die internen Renditevorgaben kritikwürdig und Kern des Problems.”

Abwechslungsreich hat er es nun. In Berlin während der Sitzungswoche Treffen, Besprechungen und Diskussionen im Stakkato, bis in die Nacht. Am Wochenende dann, weit entfernt von den klimatisierten Räumen des Bundestages, wenn mal kein Wahlkreistermin ist, regiert die Ruhe. Das Rauschen seiner Wassermühle, unter der er in Münsterhausen wohnt - grüner geht es kaum - und den eigenen Forellenteich gleich nebenan. Realpolitischer Umweltschutz, das bedeutet für ihn sauber produzierter Strom aus der Mühle, der sich auch gut verkauft. Den Hecht übrigens hat er gegrillt. Ganz langsam. Wer weiß, was da noch kommt.

Das Parlament, 06. Juli 2009
Politik im Sieben-Jahres-Zyklus: Peter Hintze

Als Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle im August 1962 durch Bad Honnef fuhr - er war auf dem Weg zu Konrad Adenauers Privathaus in Rhöndorf - stand ein zwölfjähriger Junge am Weg und hielt ihm ein Schild entgegen. Die Schwester hatte ihm gezeigt, wie er “Vive de Gaulle” darauf schreibt. Das europapolitische Engagement des Peter Hintze begann an diesem Sommertag. Damals dachte der Junge noch nicht daran, selbst einmal an den Ländergeschicken mitzuwirken, von einem über- klimatisierten Büro im Berliner Jakob-Kaiser-Haus aus, in dem er heute sitzt.

Es ist früher Abend, mit 20 Minuten Verspätung stürmt Peter Hintze herein, zwischen Fraktionsvorstand und dem Treffen der NRW-Landesgruppe der CDU-Abgeordneten, der er vorsteht, hat er noch eine halbe Stunde. Drinnen ist es kälter als draußen. Es geht in beiden Treffen, mal wieder, um Europa. Um Bestimmungen aus Brüssel, die nationaler Anpassung bedürfen. “Der Bundestag muss sich in der Europapolitik seine Rechte erkämpfen”, umreißt Hintze seinen Job an der Schnittstelle zwischen Legislative und Exekutive: Als Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium hält er den Kontakt zwischen Regierung und Bundestag, berichtet in den Ausschüssen und vertritt das Ressort im Plenum.

Sein aktuelles Amt verdankt Hintze dem Verhandlungsgeschick Edmund Stoibers (CSU): Der designierte Super-Minister reklamierte bei den Koalitionsverhandlungen 2005 für sein Ressort die Zuständigkeit für Europapolitik - und der langjährige europapolitische Sprecher der Unionsfraktion Hintze stand bereit.

Es hätte auch anders kommen können. Für Politik und auch Religion interessierte er sich gleichermaßen: Einerseits engagierte sich der junge Hintze im Kindergottesdienst, andererseits investierte er sein wöchentliches Taschengeld in Höhe von 1,50 DM komplett in den Erwerb des “Spiegel”.

Zuerst überwog die Religion. Hintze studierte Theologie, wurde Pfarrer. Während des Studiums führte er aber mehr als 1.000 Mal Besucher durchs Adenauerhaus in Rhöndorf. Westlicher und rheinischer kann ein Chrisdemokrat kaum sein.

Hintze sitzt still, wenn er redet. Faltet die Hände zusammen und verbreitet stets Feierliches. Seine Worte klingen staatsmännisch. “Nach einer interessanten und wichtigen Zeit als Pfarrer habe ich mich meiner zweiten Leidenschaft - der Politik - zugewandt”, zieht er Bilanz. Als den Gemeindehirten am Buß- und Bettag 1982 die Nachricht ereilte, Bundesminister Heiner Geißler (CDU) habe ihn zum Bundesbeauftragten für Zivildienst ernannt, da lief die Meldung schon im Radio. Geißler wollte damals einen Theologen. Einen, der der CDU das heikle Thema Zivildienst schonend nahe bringt. Hintze wurde Berufspolitiker.

Schonend reformieren - das wurde Hintzes Job. Nach seinem Frontdienst in Sachen Zivildienst und einem kurzen, aber für die Karriere wichtigen Zwischenstopp als Staatssekretär unter der Jugend- und Frauenministerin Angela Merkel ernannte ihn Helmut Kohl 1992 zum Generalsekretär der CDU. 1994 sicherte ihm Hintze mit der “Rote-Socken-Kampagne” die schon verloren geglaubte Wiederwahl: Das Misstrauen vieler Wähler, die SPD könne doch mit der PDS ein Bündnis eingehen, brachte im Wahlkampf die Wende für die Union. “Das ist hinreichend belegt”, glaubt Hintze heute.

Sein größter Misserfolg: vier Jahre später die “Roten Hände”, mit denen er im Wahlkampf 1998 den Sieg von 1994 zu wiederholen suchte, aber man ihm nicht mehr glaubte, Kohl abtrat und Hintze vorerst als europapolitischer Sprecher der Unionsfraktion in die hintere Reihe rückte - bis Stoibers Politik ihn wieder nach vorne brachte.

Sein Erwerbsleben orientierte sich stets an Sieben-Jahres-Zyklen. Sieben Jahre Vikar und Pfarrer, Generalsekretär und Fraktionssprecher: Nach dieser Rechnung müsste er noch drei weitere Jahre Staatssekretär in der Großen Koalition bleiben. Ob er dafür Zeit hat? Hintze eilt aus dem Büro. Der nächste Termin wartet schon.

Das Parlament, 20. April 2009
Immer unter Strom: Joachim Pfeiffer

Heute ist kein guter Tag für Joachim Pfeiffer. Ein Termin quetscht sich seit den frühen Morgenstunden an den anderen. Dazu kommt auch noch ein böser Schnupfen. Er ist schon zehn Minuten zu spät für die Fraktionssitzung. Joachim Pfeiffer trommelt unruhig mit dem rechten Zeigefinger auf den runden Besprechungstisch in seinem Büro im Paul-Löbe-Haus in unmittelbarer Nähe zum Reichstag, aber das wolle er noch sagen, bevor er losspringt: “Ich bin weder Büttel der Wirtschaft noch Heilsbringer ideologischer Ideen”, sagt er und steht nun kerzengrade neben der Deutschlandfahne vor seinem Schreibtisch. So eine habe er schon immer für sein Büro haben wollen, sagt er und lächelt stolz.

Wie ein Büttel sieht der energiepolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Hauptmann der Reserve wahrlich nicht aus. Scharf beliebt er zu sprechen, und schnell. Seinen Wahlkreiskonkurrenten und Lieblingsfeind Hermann Scheer von der SPD nennt er gern mal einen “Öko-Stalinisten”, die EU-Klimapläne eine “Kampfansage an den Industriestandort Deutschland” und die Grünen “Blender”. “Ich fahre heute nur Teillast”, sagt er entschuldigend - wegen der Erkältung. Man sieht es ihm nicht an.

Immer unter Strom und energiegeladen, immer in Bewegung. Kein Tag ohne öffentliche Diskussionen mit Freund und Feind, kein Tag ohne Treffen mit Interessenvertretern. Energiepolitik, sagt er, ist ein Haifischbecken. “Es wimmelt von Ideologien und finanziellen Interessen.” Dabei wünscht er sich eine klare Linie. “Wir müssen eine stringente Energiepolitik betreiben”, fordert Joachim Pfeiffer, am liebsten gebündelt in einem Ministerium. Besonders die Kompetenzen des Umweltressorts sind dem promovierten Wirtschaftswissenschaftler dabei ein Dorn im Auge. “In Europa sprechen wir Deutschen oft mit doppelter Zunge”, sagt er mit Blick auf die verschiedenen Behörden, die Deutschlands Energiepolitik gestalten.

Tatsächlich treibt den 42-Jährigen in der Politik wohl am stärk- sten an, die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern. Das entspricht auch seinem beruflichen Werdegang. Nach dem Studium der technisch-orientierten Betriebswirtschaftslehre und Promotion arbeitet er bei der Enegieversorgung Schwaben und war anschließend Leiter der Wirtschafts- und Arbeitsförderung der Landeshauptstadt Stuttgart. Zudem hat er seit 2006 einen Lehrauftrag für Energiepolitik an der Universität Stuttgart. Doch wer Joachim Pfeiffer richtig kennen lernen will, muss in seinen Wahlkreis, ins Remstal. Dort hat er sich hochgearbeitet. Im Remstal, im Volksmund auch “Tal der Pietcong” genannt, zählen Glauben, Fleiß und Bescheidenheit viel. Dort sagt man über ihn, kaum einer beackere die Basis mehr als er. Joachim Pfeiffer besucht Tanzvereine und Parteiortsgruppen, Schulen und Altenheime - außerhalb der parlamentarischen Sitzungswochen täglich. Den Wahlkreis Waiblingen mit den vielen Weinbergen hat er seit seiner ersten Kandidatur 2002 direkt gewonnen.

Und er kann von der Lokalpolitik nicht lassen: Joachim Pfeiffer ist CDU-Kreisvorsitzender und Fraktionschef der direkt gewählten Regionalversammlung im Verband Region Stuttgart. “Mein Lebensmittelpunkt ist die Region Stuttgart”, sagt er. Der Spagat zwischen Schwaben und Preußen hat Folgen: “Meine Tage sind intensiv und oft bis zu 20 Stunden lang; außer für Schlafen und Essen bleibt da nicht mehr viel.”

Heute ist ein schlechter Tag für Joachim Pfeiffer, noch immer. Keine Woche ist nach dem Amoklauf in Winnenden vergangen - sein Wahlkreis. Er hatte an jenem Tag nicht viel geredet, dafür still getröstet und umarmt, war da. Mancher Politikerkollege dagegen erklärte schon in Mikros hinein die Welt, da waren die Toten noch nicht gezählt. “Trauer braucht Zeit”, sagt Joachim Pfeiffer, und geht zur Tür, er springt geradezu. Wirkt irgendwie erleichtert. Die Fraktionssitzung wartet. Und die Energiepolitik, mit ihrer Komplexität, ihrem Streit und ihrer Lebendigkeit.

Das Parlament, 05. Januar 2009
Links heißt nicht pazifistisch: Rainer Arnold

Wenn er ungehalten ist, dann wippt sein rechter Fuß unterm Tisch unwirsch auf und ab. Rainer Arnold lächelt, niemand soll wissen, wie wütend er gerade ist - über sich selbst. Es ist kurz nach eins, gerade hat er eine Abstimmung im Bundestag verpasst, die erste in zehn Jahren Parlamentarierdasein überhaupt. Das wurmt. Arnold lächelt.

In eineinhalb Stunden geht es zum Flughafen, heute Abend wartet ein Wahlkreistermin über 500 Kilometer südwestlich von Berlin auf Arnold, den verteidigungspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion aus Nürtingen. Bis dahin müssen noch Akten bearbeitet werden, 30 Zentimeter türmen sie sich hoch. “Noch Zeit für einen Kaffee?”, fragt er und gießt sich ein, mit Milch, ohne Zucker. Dann geht es an den Aktenberg.

Arnold ist einer, der sich hoch gerackert hat, auch wenn er es so nicht nennt. “Mein Ausbildungs- und Berufsweg war nicht glatt”, umschreibt er seine Biographie, die in einem Arbeiterhaushalt wurzelt: der Vater Betriebsrat in einer großen Firma, die Mutter politisch interessiert - und ein Arbeiter anführender Urgroßvater, der sich im Ruhrgebiet einen Namen als “roter General von Hamborn”machte. Arnold Junior, so viel stand fest, wurde Politik mit in die Wiege gelegt. Und wurde sein ständiger Gefährte. “Du sollst es einmal besser haben” - diesen Leitspruch seiner Eltern setzte er nach der Lehre zum Fernmeldemonteur und der Mittleren Reife um; es folgten Fachhochschulreife und ein Studium an der Pädagogischen Hochschule in Esslingen. Nicht gerade ein klassischer Werdegang für Verteidigungspolitiker, aber Wehrdienstverweigerer Arnold folgte dem Ruf des Fraktionsvorstands, als der Neuling 1998 in den Bundestag einrückte: Einer aus Baden-Württemberg sollte in den Verteidigungsausschuss. Eine neue Etappe seines Berufsweges begann.

“Links heißt nicht, pazifistisch zu sein”, sagt Arnold. “Ich zweifelte nie daran, dass für Schwache auch Waffen ergriffen werden müssen, wenn andere Mittel versagen.” In seiner ab 2002 übernommenen Aufgabe als verteidigungspolitischer Sprecher sieht er sich ganz als Zivilist. “Ich habe das Thema Sicherheitspolitik zu meiner Sache gemacht, bin aber kein Vertreter der Bundeswehr.” Auf Kameradschaft macht er nicht. Generäle siezt er grundsätzlich, auch die mit SPD-Parteibuch.

Ein Anruf unterbricht die Aktenlektüre. Probleme in Afghanistan, ein Konvoi wurde beschossen. Arnold hält kurz inne. Seit Jahren unterstützt er kritisch den Einsatz deutscher Truppen am Hindukusch. “Man kann Soldaten nur in den Kampf schicken, wenn es zur Wahrung unserer Stabilitätsinteressen notwendig und ethisch verpflichtend ist”, markiert er die Linie. “Einsätze im Unklaren sind nicht drin.” Damit schließt der Nürtinger heimliche Einsätze wie mit US-Soldaten im Süden Afghanistans aus.

Aber nicht jeden Tag geht es um Krieg oder Frieden. Das alltägliche Wohl der Bundeswehr-Angehörigen bestimmt den Alltag eines Sicherheitspolitikers. Seit Jahren streitet Arnold für neue Technik und mehr Fachpersonal bei der Truppe. “Ich strenge mich an, damit die Soldaten von der Gesellschaft gut behandelt werden”, sagt er.

Die Arbeit als Parlamentarier würde der 58-Jährige gern noch weitere zehn Jahre fortsetzen. Noch immer lerne er jeden Tag Neues und neue Leute kennen, das schätze er so sehr, dass er auch die Nebenwirkungen des Politikerdaseins in Kauf nimmt: “Zu Beginn fiel mir schon auf, dass man ein bisschen eitel sein muss.” Doch Selbstdarstellung fällt ihm nicht sonderlich schwer, weist der Lebenslauf auf seiner Website doch Arnold zwischen 1967 und 1990 als nebenberuflichen Musiker aus. In einer Tanzkapelle spielte er schon mit 17 auf seinem Schlagzeug “alles, was dem Publikum gefiel”, von der Hitparade über Beat und Rock’n Roll bis Jazz. Sogar auf dem Kreuzfahrtschiff “Achille Lauro” verbrachte die Combo zwei Sommerreisen - vor der Entführung des Schiffes 1985 durch radikale Palästinenser.

“Musik gefällt mir immer”, sagt Arnold, gern tobe er sich im Keller am Schlagzeug aus oder spiele auf der Gitarre Arbeiterlieder. Er lächelt. Und sein rechter Fuß hält jetzt still.