Zeitenspiegel Reportagen

Politiker im Porträt 2010

Erschienen in "Das Parlament"

Von Autor Jan Rübel

Auch im Jahr 2010 porträtierte Zeitenspiegler Jan Rübel für die Rubrik “Parlamentarisches Profil” der Bundestagszeitung “Das Parlament” Abgeordnete des Deutschen Bundestages.

Das Parlament, 06.12.2010
Verdiente Pionierin: Michaela Noll

Johann Sebastian Bach verkündet die frohe Botschaft. Im Minutentakt flötet das Handy von Michaela Noll, und alle Anrufer wollen das gleiche: einen Kommentar zum gerade von der Regierung beschlossenen Rückkehrrecht im Ausland zwangsverheirateter Frauen nach Deutschland. “Dafür habe ich jahrelang gekämpft”, strahlt sie.

Die Gesprächsthemen der Michaela Noll eignen sich kaum zum Sofaplausch. Kinderpornographie, Freierbestrafung oder Zwangsverheiratung - Michaela Noll (50), aus Mettmann beackert die Schattenseiten der Gesellschaft, Arbeitsgebiete, um die sich in der Unionsfraktion über Jahre hinweg die Abgeordneten nicht gerade gerissen haben. “Ich bin wohl zu nüchtern und zu realistisch”, sagt sie. “Man löst diese Probleme nicht, indem man sie verdrängt.”

Geschadet hat es ihr nicht. Familienpolitik, früher eine Nische, füllt heute die Schlagzeilen. Und Michaela Noll, seit 2002 im Bundestag, ist in der aktuellen Legislatur viel unterwegs: Zweimal hat sie seit letztem Herbst die Büros gewechselt: Erst wurde sie zur Justiziarin der Unionsfraktion gewählt, dann im April 2010 zur Parlamentarischen Geschäftsführerin. Nun schaut sie im sechsten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses in den Himmel über Berlin. Die CDU hat mit ihr noch etwas vor. “Mir geht es vor allem um Lösungen”, äußert sie. Das sagt sie oft.

Es ist schon bezeichnend, dass in der derzeit hochkonjunkturellen Integrationsdebatte jene Politiker am wenigsten schrill klingen, die einen Migrationshintergrund haben. “Die Art und Weise der Diskussion finde ich nicht glücklich. Sich nur auf Vorurteile zu konzentrieren, das mag ich nicht”, sagt Michaela Noll zu der Verhaltensweise, wie die Debatte derzeit von manchen geführt wird.

Tadjadod hieß sie bis zur Heirat 2002. Die Mutter deutsch, der Vater Iraner, ein Politiker: Unter dem Schah diente er als Senator und Wirtschaftsminister. Seine Tochter wuchs derweil im Rheinland auf, der Vater pendelt, 1979 floh er schlussendlich. “Ich sagte zu ihm: ,70 Jahre lang hast du versucht, etwas zu bewegen, und nichts davon ist geblieben’” Politik erschien ihr nicht als ein einladender Hort. In ihrer Familie hatte sie Internationalität als Normalzustand kennen gelernt. Eine Schwester lebt mittlerweile in Australien, eine andere in Frankreich und zwei Brüder in Graz und in Dubai.

Zur Politik kam sie, sagt Michaela Noll, weil sie keinen Kita-Platz für ihren Sohn bekam. Das war 1994, sie allein erziehend. Christlich-konfessionell geprägt und den Handlungsbedarf im Blick. Die Juristin Michaela Tadjadod setzte sich durch. Überstand schließlich kritische Fragen bei der Kandidatenaufstellung am 18. September 2001 für die Bundestagswahl. “Alles, was ansatzweise Richtung Orient war, war damals mit Angst behaftet”, erinnert sie sich heute an die Zeit kurz nach den Terroranschlägen am 11. September. Tadjadod erkämpfte sich einen erfolgreichen Listenplatz. Seit 2005 errang sie das Direktmandat. Nach ihrer Heirat nahm sie den Namen ihres Mannes an, “für die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis war es so einfacher, mich anzusprechen”.

Wenn sie spricht, saust zuweilen ihre Handkante wie ein Beil hinab. Ihre Worte sind klar. Für die CDU ist Michaela Noll eine Idealbesetzung. Einerseits das urrheinische Element, mit einem Adenauergemälde hintern Schreibtisch. Andererseits aber eine Vorzeigefrau für das urbane Milieu. Heute lebt sie in zweiter Ehe eine Patchworkfamilie, ihr Mann hat zwei Kinder in die Ehe hineingebracht.

Und sie freut sich, dass in ihrem Büro während der vergangenen Legislatur drei Kinder geboren wurden, dass ihr Büroleiter in Elternzeit ging. “Noch immer ziehen sich ja eher Frauen den Schuh der Betreuung an”, sagt sie. Es klingt bedauernd. “Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen, die Familie lebbar zu machen, für junge Männer und Frauen.”

Man mag Michaela Noll als verdienten Pionier in der Union bezeichnen. “Ich bin kein CDU-Standardmodell” sagte sie 2005. Heute ist sie es.

Das Parlament, 01. November 2010
Der Aufsteiger: Anton Schaaf

Wie ein Geist flimmert sein Kopf auf, schaut sich um und lächelt kurz - dann ist der SPD-Abgeordnete Anton Schaaf nach zwei Sekunden wieder spurlos aus seinem Büro verschwunden.

Ein Spuk? Nein, das Fernsehen ist’s: Der Flachbildschirm vor Schaafs Schreibtisch zeigt live die Abstimmung über einen Geschäftsordnungsantrag im Reichstag. Hier, gegenüber im Paul-Löbe-Haus, ruft ein Lautsprecher die Abgeordneten ins Plenum. Doch Schaaf ist schon drüben, die Kamera hat ihn gerade gestreift. Hand in die Höhe, Antrag abgeschmettert, und vier Minuten später rauscht Anton Schaaf aus Mülheim an der Ruhr, der Leibhaftige, zurück in sein Büro.

Heute diktieren die Linken seinen Arbeitstag: erst der Antrag zu einer aktuellen Stunde über “Stuttgart 21”, dann gleich eine Debatte zu “Rente mit 67 stoppen”. Schaaf verzieht das Gesicht, als beiße er in eine Zitrone. “Die sind oft platt und oberflächlich”, sagt er zu seinen tiefroten Kollegen auf der Oppositionsbank, “die Linkspartei ist relativ profillos, da orientieren sich viele an nichts anderem als am subjektiven Gerechtigkeitsgefühl.”

Schaaf schaut gehetzt. Er wird heute im Plenum des Bundestages reden. Der Sozialdemokrat aus dem Ruhrgebiet wird die Reformagenda 2010 verteidigen - und die Rente mit 67; “wer die ablehnt, muss auch eine Antwort auf die demographische Entwicklung haben”, sagt er.

Und dann purzeln die Zahlen aus dem rentenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion nur so heraus: zu Mindestlohn (“da hat sich ein Überbietungswettbewerb etabliert”) und zu Hartz IV (“die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war genau richtig”), begleitet vom Stakkato des rechten Zeigefingers auf der Tischplatte. Anton Schaaf, 48, klingt zunächst wie ein normaler Poltergeist aus dem Bundestag. Der Blick wandert unwillkürlich zum Fernseher.

Doch Schaaf ist anders als andere. 2008 zum Beispiel kandidierte seine Frau für die SPD als Oberbürgermeisterin eines Städtchens im Schwarzwald - hätte sie gewonnen, wäre er mit ihr gezogen, hätte 2009 nicht mehr für den Bundestag kandidiert. Welcher Abgeordnete täte das? “Sie hat mir oft genug den Rücken freigehalten”, sagt Schaaf und lehnt sich zurück. “Wir haben halt die Gelassenheit, dass die Familie sozial abgesichert ist.”

Schaaf war elf, als sein Vater die Familie verließ. Die Mutter und die vier Kinder lebten von Sozialhilfe. “Für mich war es normal, keine Chance auf einen besseren Schulabschluss zu haben.” Der Älteste wuchs in eine Art Vaterrolle hinein. Das sei eine Last gewesen, aber auch “eine schöne Schule”. Politik - das war für ihn zunächst einmal Freizeit. Die Jugendorganisation “Die Falken” lud den damals 14-Jährigen ein zu Reisen, die er sich sonst von zuhaus’ aus nicht hätte leisten können. Zum Urlaub kamen Diskussionen, Denkanstöße, Perspektiven. “Alles weitere”, sagt er, “die Mittlere Reife, Ausbildung und Zivildienst, das verbuche ich als Zugewinn.” Schaaf lernte Maurer, arbeitete neun Jahre bei der Müllabfuhr. Derweil kletterte er bis in den Bundesvorstand der Falken hinauf - und saß dort neben Sigmar Gabriel und stritt sich zuweilen mit ihm. “Der Sigmar war damals mehr der Arbeiterführer”, schmunzelt Schaaf mit Blick auf Gabriels Stamokap-Vergangenheit. “Auf Grund unserer gemeinsamen Geschichte haben wir Vertrauen zueinander.”

Dass Schaaf heute im Bundestag sitzt, verdankt er seinem seit 2002 direkt gewonnenen Wahlkreis, dass er rentenpolitischer Fraktionssprecher ist, seiner Expertise und Rhetorik. Und doch bleibt er für viele der Proletarier aus dem Pott. “Der letzte Arbeiter der SPD-Fraktion”, schreibt eine Zeitung über ihn, eine andere bemerkt die “Bärenpranken” an seinen Armen, als ob Arbeiter solche Hände haben müssten. Im Büro aber, in seinem schwarzen Boss-Shirt zum grauen Zweiteiler, wirkt er eher klein, gar schmal. “Intelligenz”, sagt er, “hat halt zunächst nichts mit dem Schulabschluss zu tun.” Und beugt sich über den Schreibtisch, über die Rede, die er gleich halten wird. Der Zeigefinger bleibt diesmal ganz still.

Das Parlament, 27. September 2010
Rheinischer Jong: Bijan Djir-Sarai

Am Morgen nach der Wahl fuhr er vom Flughafen sofort zum Reichstag. Als Bijan Djir-Sarai um neun in der Früh vor dem Schriftzug “Dem Deutschen Volke” stand, da flimmerten plötzlich die schwarzen Buchstaben, da sah er sein ganzes Leben wie in einem Film vorbeirauschen, die Kapitelle der Reichstagssäulen schienen zu wackeln. Ein Kribbeln überzog seine Kopfhaut. Djir-Sarai merkte, dass er schon vor langer Zeit in Deutschland angekommen war. Er spürte Dank in sich hochkommen. Nun war Zahltag.

“Passport” - das war das erste Wort, das Djir-Sarai in Deutschland hörte. Mit elf Jahren hatten seine Eltern ihn in Teheran ins Flugzeug gesetzt, “sie erkannten die Lage für mich als perspektivlos”. Am 19. August 1987 landete er in Frankfurt am Main, voller Angst, Spannung und wenig Ahnung, was ihn erwartet. Bei einem Onkel, einem Tierarzt in Grevenbroich, sollte er sein Leben fortsetzen; Eltern und Schwester blieben zurück.

Zwölf Jahre später sitzt Djir-Sarai im vierten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses und rührt in seinem perfekt geschäumten Cappuccino. So viel ist passiert seitdem. “Es gibt eine Konstante in meinem Leben”, lächelt er. “Im Iran habe ich schon auf dem Schulhof ständig Fußball gespielt - heute stürme ich für den FC Bundestag”, einer Mannschaft mit Spielern aus allen Fraktionen. Djirr sitzt für die FDP seit 2009 im Bundestag. Seine Begeisterung für den Liberalismus aber hatte sich schon im Iran geweckt. “In der ersten Klasse kam die Lehrerin einmal mit einer leeren Weinflasche in den Raum, sie fragte, ob unsere Eltern daheim so etwas hätten.” Ein Junge meldete sich, man schickte ihn sofort zum Direktor. Die Islamische Revolution Ayatollah Ruhollah Khomeinis mit ihren vielen Verboten wie dem des Alkoholkonsums durchdrang auch die Welt der Erstklässler. Und es tobte der Krieg gegen den Irak. “Meine Mutter fürchtete, ich könnte als Kindersoldat eingezogen werden.”

Djir-Sarai konnte kein Wort Deutsch. Heimweh zerrte, und den-noch hatte er Glück: In der Kleinstadt Grevenbroich war er willkommen. “Nachbarkinder kamen am zweiten Tag und luden mich zum Fußballspielen ein”, erinnert er sich.

Und der Onkel steckte ihn, trotz eines skeptischen Rektors, ins Gymnasium. “Die ersten Monate lernte ich ein Lexikon der deutschen Sprache auswendig”, sagt er; studierte Worte wie “Abarbeiten” und “Zustimmung”. Mit den Jahren wurde Djir-Sarai deutsch, entwickelte den Humor der Rheinländer, fand seine Heimat. “Heute spreche ich perfekt Deutsch, esse aber immer noch perfekt persisch”, sagt er lachend. Beim Essen, da entdeckt er immer wieder seine iranischen Wurzeln, hüpft sein Herz beim Anblick von Djudje-Kabab, einem gegrillten Hähnchen mit Zitronensauce. Etwas aber unterscheidet den 34-Jährigen von den Gleichaltrigen: “Gedanklich gehöre ich eher zur Nachkriegsgeneration in Deutschland.” Das Gerede über die Politikverdrossenheit der Jungen könne er nicht mehr hören, “damit kann ich nicht viel anfangen”. Er hat erfahren, wie Politik das eigene Leben prägen kann.

Mit 18 trat er in die FDP ein, studierte anschließend Betriebswirtschaft und promovierte. Er sagt: “Die Steuersenkungen für Hotelübernachtungen waren richtig - es wird investiert und mehr eingestellt.” Die Verunglimpfung seiner Partei, sagt er, habe er nicht vorausgesehen. Im Bundestag arbeitet Djir-Sarai aber nicht zu Wirtschaft oder Finanzen. Auf Anhieb gelang ihm der Einzug in den Auswärtigen Ausschuss; in jenem Gremium sitzt der Newcomer nun unter ehemaligen Ministern und anderen verdienten Politprofis. Das Telefon klingelt. Am Apparat ist ein Lokalpolitiker. Am Abend warten der FDP-Kreisvorstand und die -fraktion Neuss auf ihn, der Fraktion steht er vor. Der Rheinländer sitzt auch im FDP-Landesvorstand in NRW, ist Vizechef des Bezirksverbands Düsseldorf. Djir-Sarai springt auf. “Ich wurde immer nach meiner Identität gefragt, dabei fühlte ich mich, als müsste ich mich rechtfertigen.” Heute, sagt er, sehe er das entspannter. “Ich weiß, was ich bin: ein Mensch.” Und eilt hinaus, das Taxi zum Flughafen wartet.

Das Parlament, 20. September 2010
Die Pragmatische: Gesine Lötzsch

Wie ruhig sie dasitzt. Blickt geradeaus, den Rücken durchgedrückt, dirigiert das Gespräch wie eine Sphinx. In einer halben Stunde bewegt sich Gesine Lötzsch ein einziges Mal. Sie steht kurz auf, um die Schreibtischlampe auszuknipsen. Vielleicht übt sie für die kommenden zwei Monate? Denn Gesine Lötzsch wird ihr Sitzfleisch strapazieren. “Bei den Sitzungen des Haushaltsausschusses haben die so genannten Eisenärsche Standortvorteil”, sagt sie wie nebenbei. “Irgendwann liegen in den Nachtsitzungen die Nerven blank, und wer das stärkste Durchhaltevermögen zeigt, kann seine Forderungen eher durchbringen.”

Und so wird Lötzsch als Obfrau der Linkenfraktion gemeinsam mit ihren 40 Kollegen den Etatentwurf der Regierung durchwalken und wiegen und am Ende mit entscheiden; ohne Zustimmung der Haushälter kriegt das Kabinett keinen Cent. Lötzsch spricht klar, ihre Worte sind messerscharf. “Die Lobbyisten haben ganze Arbeit geleistet”, sagt sie. Ticketsteuer? “Unklar, ob sie überhaupt kommt.” Weniger Ausnahmen bei der Ökosteuer? “Viel zu zaghaft.” Transaktionssteuer? “Wo denn?”

Endlich darf Gesine Lötzsch wieder über den Haushalt reden. Nicht nur, weil er die zentrale Voraussetzung für Politik überhaupt bildet, sondern weil die Vorsitzende der Linkspartei endlich einmal nicht nach den Einkommensbezügen ihres Co-Chefs Klaus Ernst und nach Karteileichen in ihrer Partei gefragt wird, oder nach der Stasi oder den schlechten Umfragen. Es gibt viele Themen, über die Lötzsch nicht reden mag. “Das bin ich so oft gefragt worden”, sagt die 49-jährige Abgeordnete aus Lichtenberg dann. Das sagt sie oft.

Beim Haushalt kann die Obfrau allerdings klare Kante zeigen; mäkeln doch einige in der Partei an ihr, sie wirke nicht wie eine Führungsfigur. Aus Flügelkämpfen und Personalquerelen hält sie sich heraus. Zeigt sich flexibel und moderiert. Und lässt zuweilen rätseln, wofür sie steht. Doch Lötzschs Eigenschaften sind wie gemacht für den Haushaltsausschuss, der den Abgeordneten Willen zur Kooperation und zum Konsens abverlangt. “Der Ausschuss hat Querschnittscharakter”, sagt sie. “Man erhält Einblick in die Gesamtpolitik.”

Deshalb wohnt sie dem Ausschuss seit ihrem Einzug in den Bundestag 2002 bei. Die PDS, Vorgängerin der Linkspartei, war gerade an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, nur Lötzsch und Petra Pau hatten ihre Wahlkreise gewonnen. Das Frauenduo leistete Kärrnerarbeit, versuchte den Verlust des Fraktionsstatus wettzumachen. Damals hielt Lötzsch so viele Reden wie kein anderer im Plenum. “Dümmer sind wir davon nicht geworden”, sagt sie heute. Das Einreichen von Anfragen, Reiseplanungen oder Nachfragen - alles nahmen die Frauen ohne helfenden Apparat selbst in die Hand.

Nicht nur im Bundestag hat Lötzsch eine Ochsentour absolviert. 1984 trat sie der SED bei, 1990 der PDS. Von 1989 bis 1990 gehörte sie der Lichtenberger Bezirksverordnetenversammlung und von Mai bis Dezember 1990 der Stadtverordnetenversammlung von Ost-Berlin an. Von 1991 bis 2002 saß sie im Abgeordnetenhaus von Berlin.

Misstrauisch wirkt sie zuweilen, nicht gerade wie eine Plaudertasche. Wer Gesine Lötzsch verstehen will, muss zu ihrem Geburtsort, nach Lichtenberg. Seit 1994 steht sie dem Bezirksverband vor, mit 1.700 Mitgliedern ist er der größte in Deutschland. “Unsere Gesine” nennen sie die promovierte Philologin dort. Auf ihrer Website erfährt der Leser mehr über Lichtenberg als über sie. Die Anzahl an Bürgerhilfen und Beratungen, welche die Seite dokumentiert, beeindruckt. Darauf auch ihr Lieblingssatz: der Linkenklassiker “Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren”.

In ihrem Büro hängt eine weniger pathetische Version dieses Satzes, ein Gemälde Thomas Richters. Es zeigt einen großen Fisch, der einen Mann schnappt. Jetzt bewegt sich Lötzsch doch, rutscht auf dem Stuhl hin und her, die Gesprächszeit ist um. “Vielleicht”, sagt sie beim Weg zur Tür, “rettet der Fisch den Mann”.

Das Parlament, 12. Juli 2010
Das frische Gesicht: Nadine Müller

Ihr Blick wanderte über die Bänke, als wollte sie die Abgeordneten hypnotisieren. Wortmeldungen, gar Anträge? Kerzengerade, ja bedeutungsvoll verfolgte die Schriftführerin die Plenardebatte. Von der Tribüne aus ist ihr Piercing nur erahnbar. Nun, einige Tage später im Büro, funkelt der Ring aus dem linken Ohr der Abgeordneten Nadine Müller. “Krass”, sagt sie, schlägt die Beine übereinander, lehnt sich erschrocken zurück, als sie hört, dass manche Parlamentsneulinge monatelang auf ihr Büro warten mussten. Dieses Wort sagt sie oft. “Ich habe diese Räume zum Glück von meinem Wahlkreisvorgänger übernommen”, sagt sie; und auch das Sekretariat, das für die und eine Fraktionskollegin arbeitet. “So werden Ressourcen effektiver genutzt”, sagt sie, legt die Hand an den Hinterkopf und den Arm auf die Sessellehne - bequem scheint sie sich zu fühlen in der derzeit einzigen Bürogemeinschaft im Bundestag.

Dass man sie Nesthäkchen nennt, hört Müller nicht gern. Schließlich blickt sie trotz ihrer 26 Jahre auf sechs Jahre parlamentarische Berufserfahrung zurück: 2004 war die CDU-Politikerin aus Lebach in den saarländischen Landtag eingezogen, als Nachrückerin. Überrascht hatte sie das damals. “Bis dahin hatte ich Politik nur nebenher aus Spaß betrieben”, sagt sie. Ihr Jurastudium, das sie mittlerweile mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen hat, sollte die Grundlage für ihr eigentliches Berufsziel Journalistin legen. Doch der Landkreis St. Wendel suchte ein frisches Gesicht. “Es war nicht so, dass es keine geeigneten Kandidaten gegeben hätte”, erinnert sich Müller. Die Jungunionistin fiel auf, dynamisch erschien sie der alten Garde, die ihr die Kandidatur antrug: Mit 15 Jahren hatte die Tochter eines Polizisten und einer Krankenschwester begonnen, sich für Politik zu interessieren, sie engagierte sich für einen Basketballplatz. Der praktische, eher ideologiefreie Politik-Ansatz ist ihr geblieben. Auf der eigenen Website informiert Müller beispielsweise über Finanzierungsmöglichkeiten für mittelständische Unternehmen durch das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand; das tun die wenigsten Abgeordneten auf ihren Seiten. Dafür findet sich bei Müller wenig Grundsätzliches; um so üppiger ist ihre Internetpräsenz, sei es bei “Twitter”, “Flickr” oder “Wer-kennt-wen?”

In den Bundestag kam sie, weil ihr Vorgänger nach nur einer Legislatur aus privaten Gründen aufhörte. Dort hat man ihr einiges aufgehalst. Zum Schriftführertum verdonnern die Landesgruppen gern junge Neulinge. Müller wollte in den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - “Saarland ist im Strukturwandel, das ist das wichtigste Politikthema in meiner Region” -, und dafür willigte sie ein, auch in den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu ziehen. “Das passt, schließlich hat die CDU dort unheimlich viel angestoßen”, sagt sie. Zu den Konservativen gehört sie nicht. Die Kritik am geplanten Betreuungsgeld könne sie “nachvollziehen”: “Vorschläge wie der der Frauen-Union, die 150 Euro wahlweise in die Renten- oder Pflegeversicherung einzuzahlen oder für Weiterbildungsangebote zu nutzen, finde ich sehr charmant.”

Müller steht für die Öffnung der CDU zur Mitte. In die Union geriet sie, weil Lafontaines SPD ihr 1998 verstaubt vorkam. In der Mitte ist Müller geblieben, durch Engagements in einem Sozialzentrum. Damit liegt sie im Trend: Immer mehr wendet sich die CDU potenziellen Kandidaten zu, die mehr durch ihre gesellschaftliche Verankerung auffallen als durch ihr Wirken in der Partei. Müller ist sich auch nicht zu schade, als Vorsitzende des Vereins “Initiative sicherer Landkreis St. Wendel” mit anderen Ehrenamtlichen jene Graffiti von Häuserwänden zu kratzen, die unwesentlich Jüngere dort hinterlassen haben.

Ein Handwerker betritt das Büro. Er soll ein Bild aufhängen, das bisher einzige im Büro. Gern suchen sich Abgeordnete aus dem Parlamentsfundus Gemälde aus. Müller hat sich für eine Fotomontage entschieden, sie zeigt ihre Wahlkämpfer daheim in St. Wendel. Noch müsse sie sich zurechtfinden, sagt sie, im Dreieck zwischen Berlin, Wahlkreis und Privatem. “Weiter will ich gar nicht denken. Ich will erstmal meine Aufgabe ausfüllen.” Und nimmt das Bild fest in den Arm.

Das Parlament, 05. Juli 2010
Die Jüngste: Agnes Malczak

Und nun auch noch die Bundesversammlung. Schon die Bundestagswahl im vergangenen Herbst hat das Leben der Agnes Malczak radikal verändert, neue Erfahrungen, Herausforderungen gebracht, sie aus ihrer zehn Quadratmeter großen Klause in einem Tübinger Studentenwohnheim in das Abgeordneten-Bürohaus am Berliner Boulevard “Unter den Linden” katapultiert: Mit 25 Jahren ist die Grünen-Politikerin die jüngste Bundestagsabgeordnete. Dass sie schon in dieser Wahlperiode auch über das Staatsoberhaupt mitzubestimmen haben würde, konnte sie bei ihrem Einzug ins Hohe Haus noch nicht wissen - regulär, ohne Horst Köhlers Rücktritt, wäre die Kür eines neuen Bundespräsidenten erst 2014 fällig geworden, nach der nächsten Bundestagswahl. Doch Malczak schätzt auch diese Aufgabe: “Die Bundesversammlung wird ein feierlicher, bewegender Moment”, sagt sie im Vorhinein. Sie fixiert eine Flasche Orangensaft auf dem Tisch, zwirbelt an ihrem hennagefärbten Haar. Manchmal tut Schweigen gut. Dann hebt ihre Stimme an: “Mit dem Gongschlag zur Bundesversammlung wird mir wieder klar, dass dieses Land seinen Bürgern ermöglicht, es selbst zu gestalten.”

Im Regierungsviertel der Hauptstadt mangelt es nicht an Worten. Politiker und Journalisten, Verwaltungsmenschen und Lobbyisten - im Stakkato wird hier das politische Leben des Landes dekliniert. Da geben Malczaks Redepausen Raum zur Besinnung. Zu sagen freilich hat die 25-jährige Volksvertreterin genug: “Auch mit 16 wollte ich Anstöße geben, etwas bewegen und Spaß dabei haben”, erinnert sie sich: “Das hat sich bis heute nicht verändert.”

Es geht eben auch ohne Sprachhülsen, Malczak indes nutzt auch diese: “Bei meinen Schwerpunktthemen Wehrpflicht und Abrüstung gibt es zwar eine Nähe zur FDP”, sagt sie, “aber ich sehe nur butterweiche Schaufensterreden”. Ist Opposition für Parlamentsneulinge einfacher? Ihr Lächeln gefriert. “Die Themen von Krieg und Frieden können nur nach eigenem Gewissen beschieden werden. Allein um des Koalitionsfriedens willen jedenfalls hätte ich zum Beispiel nie für den Kosovoeinsatz der Bundeswehr 1998 gestimmt.”

Als sie in der Wahlnacht im September 2009 um 04:30 Uhr erfuhr, dass sie mit Platz Elf der baden-württembergischen Landesliste ins Parlament ziehen würde, nahm die Grüne ihren Rucksack (“den hatte ich vorsichtshalber vorher gepackt”) und vier Stunden später den Zug nach Berlin. Während der Fahrt rief der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck an: Glückwunsch und die Frage, in welchen Ausschuss sie denn wolle. Die Politikstudentin mit Schwerpunkt auf Friedens- und Konfliktforschung zog es in den Verteidigungsausschuss. Beck sagte nur: Okay. Am Bahnhof in Berlin erwartete sie bereits ein Kamerateam der Deutschen Welle; wegen ihres Alters ist mediale Aufmerksamkeit ein ständiger Begleiter. Heute, neun Monate später, tippt sie bestimmt mit dem Zeigefinger auf den schweren Schreibtisch: “Mein Leben hat sich verändert, aber ich mich nicht.” Es klingt trotzig. Aber mit Brüchen kennt sie sich aus.

Malczak war vier, als ihre Eltern aus Niederschlesien nach Dortmund zogen. Der Großvater stammte aus Deutschland, außerdem: “Meine Eltern haben sich von der Demokratie hier mehr versprochen.” Und ihre Agnieszka sollte eine gute Bildung erfahren. In der neuen Heimat machte Malczak auf einer katholische Privatschule Abitur, plante sorgfältig ihre politische Karriere. 2004 trat sie der “Grünen Jugend” bei, engagierte sich an der Uni: “Ich übernahm einfach Aufgaben, und die wurden immer größer.” Sie wurde Trainee bei Tübingens Grünen-Oberbürgermeister Boris Palmer, war Stipendiatin der Böll-Stiftung.

Das Telefon klingelt. Wegen der Bundesversammlung muss Malczak Termine verlegen, zum Beispiel bei der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit. “Zwar spreche ich mit meinen Eltern noch oft Polnisch”, sagt die Abgeordnete, “aber meine Biografie hatte ich mir kaum bewusst gemacht.” Durch das Mandat sei ihr diese viel deutlicher geworden. Es gibt eben doch Zeit zur Besinnung.

Das Parlament, 07. Juni 2010
Der Generalist: Stefan Müller

Am Tag der Sonne hängen dunkle Wolken über der Hauptstadt. Es ist der Geburtstag Kim Il-sungs. In Pjöngjang tanzen die Leute auf den Straßen zu Ehren ihrer “Sonne”, des verstorbenen Diktators. In Berlin hasten sie entlang der Häuserzeilen, auf der Suche nach Schutz vor den Regenschauern. Kalt bläst der Wind.

Stefan Müller verschränkt die Arme beim Blick aus dem Fenster. Ein Kahn schleppt sich die Spree herauf. “Die Lage in Nordkorea ist komplizierter geworden”, sagt er, “das erschwert auch die Arbeit der Parlamentariergruppe.” Seit Ende März führt Müller die deutsch-koreanische Parlamentariergruppe (PG) an, eine von 54 bi- und multilateralen im Bundestag. Bald will er sich mit den Botschaftern Süd- und Nordkoreas treffen. “Bei der Zusammenarbeit wird alles von der Atomfrage überschattet.” Des Nordens Drang nach der Waffe, die ausbleibende Öffnung des Landes - der Spaßfaktor für Mitglieder dieser PG ist begrenzt. Und der Vorsitz womöglich der richtige Job für einen Generalisten, der selbst offen für Themen ist, bei denen so mancher CSU-Politiker rasch heiße Ohren kriegt.

Das Amt hat Müller von Hartmut Koschyk quasi geerbt. Den parlamentarischen Gepflogenheiten entsprechend hat der langjährige Parlamentarische Geschäftsführer (PGF) der CSU-Landesgruppe im Bundestag seinen Vorsitz bei der deutsch-koreanischen Gruppe abgegeben, seitdem er mit dem Start von Schwarz-Gelb als Staatssekretär im Finanzministerium zur Exekutive gewechselt ist. Koschyk fragte seinen Nachfolger im Amt des PGF; wird der Vorsitz bei der PG doch traditionell von der CSU besetzt. Und Müller, 34 Jahre jung, neben seiner neuen Aufgabe als PGF auch Integrationsbeauftragter der Unionsfraktion und Chef der bayerischen Jungen Union (JU), sagte zu. “Als Deutsche müssen wir ein Interesse an guten Beziehungen zu Korea haben”, sagt er, “und das nicht nur, weil es ein geteiltes Land ist. Allein die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Südkoreas ist beeindruckend.”

Die Karriere des Stefan Müller hat ein ähnlich Atem raubendes Tempo hingelegt. Mit 15 trat er in die JU ein. Theo Waigel hatte ihn am Rande einer Veranstaltung angesprochen; bei nicht wenigen jungen CSU-Abgeordneten ist der ehemalige Finanzminister und Parteichef Taufpate ihrer politischen Laufbahn gewesen. Müller war schnell begeistert. Politik als Hobby geriet ihm bald wichtiger als Schule. Klassisch knüpfte sich ein Mandat ans andere. Mit der Mittleren Reife verließ Müller die Schule und wurde Bankkaufmann, arbeitete bis zu seinem Einzug in den Bundestag 2002 als Vizefilialleiter und Privatkundenbetreuer.

Etwas ist anders beim Abgeordneten Müller. Die meisten im Bundestag haben Abitur und studiert. Auch ist der Erlanger im eher überschaubaren Arbeitnehmerflügel der CSU, engagiert sich für Sozialthemen. “Ich kriege nicht gleich Hautausschlag, wenn ich neben einem Gewerkschafter sitze”, sagt er. Und Müller gehört zur kleinen Schar jener Christsozialen, die eine Öffnung gegenüber den Grünen nicht nur aus Machtkalkül heraus vertreten. Wie verträgt sich das mit seinen früheren Aktieninvestments? “Bei mir finden Sie die Spannbreite, wie die Volkspartei CSU sie aushalten können muss.”

Müller ist indes kein Ja-Sager. CSU-Abgeordnete berichten, dass Müller seinem PGF-Job durchaus zuchtmeisterliche Eigenschaften zubilligt. Und als Bayerns Gesundheitsminister Markus Söder gegen die Regierungskommission zum Gesundheitswesen stichelte und sie vorab für tot erklärte, da mahnte Müller im eigenen Internetblog, Debatten intern statt auf offener Bühne auszutragen und zog seinem Mitfranken Söder einen verbalen Glacéhandschuh durchs Gesicht: “Wir sollten sie arbeiten lassen!”, verbat er sich die Zwischenrufe aus Bayern in Berlin. “Wir dürfen nicht nur bayerische Interessen vertreten”, sagt er, “die CSU muss auch ihren bundes- und europapolitischen Anspruch ernsthaft aufrecht erhalten.” Deshalb auch seine Arbeit in der PG: “Ich will dort präsent sein”, kündigt Müller an. Und schaut dem Kahn auf der Spree hinterher.

Das Parlament, 25. Mai 2010
Die Volkstribunin: Julia Klöckner

Als Kurt Beck beim Hof der Klöckners in Guldental bei Bad Kreuznach vorfuhr, war es ein Besuch ganz nach seinem Geschmack. Es war 1995, und er durfte der frisch gekürten deutschen Weinkönigin und ihrer Winzerfamilie gratulieren und den Wein der Heimat ehren. Dass er 15 Jahre später sein Amt als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident gegen eben jene Königin zu verteidigen hat, ahnte er nicht beim Anblick der damals 22-jährigen Julia Klöckner.

Gerne haben sie in der SPD die neue Frontfrau der CDU in Mainz belächelt. Hier König Kurt, ein ganzer Kerl, der “mit de Leit’ zu schwätze” weiß - dort Königin Julia, die junge Verbraucherpolitikerin im fernen Berlin. Julia Klöckner lehnt sich in ihrem Abgeordnetenbüro im Paul-Löbe-Haus zurück. “Manche Herren in der SPD scheinen die Frauen in der CDU gerne zu unterschätzen”, sagt sie. Doch als die SPD sah, dass auch Klöckner Festzelte füllt, bei ihren Streifzügen durchs Land Menschentrauben nach sich zieht, da kündigte Beck an, die Spitzenkandidatin der CDU bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im Frühjahr 2011 wie einen Mann zu behandeln. “Ich habe jedenfalls nicht vor, ihn wie eine Frau zu behandeln”, sagt sie. Und legt los: “In Mainz hat sich eine Arroganz der Macht entwickelt. Demnächst wird wohl noch der Hofknicks in der Staatskanzlei eingeführt.”

Doch das Image der Hübschen wird sie nicht los. “Das schöne neue Gesicht der CDU”, titelte “Bild”, und sei es von links (Frankfurter Rundschau: “Sie sieht gut aus”) oder rechts (Cicero: “Bei ihr ist die weibliche Erscheinung gepaart mit der Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte verständlich zu vermitteln”) - dieses Image reduziert, führt weg vom Politischen. Über welchen Mann wird so geschrieben? “Das ist journalistische Freiheit”, sagt sie diplomatisch, “ich kenne keinen Politiker, der glaubt, mit Aussehen ein Land regieren zu können.”

Die politische Karriere der Julia Klöckner erstaunt, weil sie mit-tendrin begann. Nicht mit einer Ochsentour durch den Parteiapparat, sondern weil sie auffiel. Erst 1997 war sie in die Junge Union eingetreten, hatte Politik und Religion studiert und als Lehrerin gearbeitet, sich schließlich für den Journalismus entschieden und nach einem Volontariat als Chefredakteurin des Weinmagazins “Sommelier” die Welt der Reben bereist. Doch dann kam dieser Anruf. “Kannst Du Dir vorstellen, für den Bundestag zu kandidieren”, fragte man sie 2001, “überleg’s Dir bis heute Nachmittag.” Klöckner sagte ab. Ein Freiticket war es, per Landesliste garantierter Wechsel ins Parlamentarierleben. Als man sie drei Wochen später noch mal fragte, sagte sie zu. Den Wahlkreis Bad Kreuznach, den sie 2002 bei ihrer ersten Kandidatur nicht gewann, eroberte sie dann 2005 und hielt ihn 2009.

In den Berliner Jahren war sie verbraucherschutzpolitisch aktiv, beackerte dieses damals als Nischenthema verlachte Gebiet - und machte auf sich aufmerksam. Avancierte zur Volkstribunin auf einer Bühne, die immer mehr Beachtung fand. 2009 dann die Ernennung zur parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz; wohl auch ein Winkelzug Angela Merkels, Klöckners Ausgangslage beim Sturm auf Mainz zu verbessern.

Der chronisch zerstrittenen CDU in Rheinland-Pfalz erschien Klöckner wie eine Heilsbringerin. Lebensgeist und Eintracht hauchte sie ihr ein, im Moment. Dabei ist der Wahlkampf längst ausgebrochen. Es ist vor allem ein Wettstreit mit Beck über die größere Bodenständigkeit. Klöckner setzt dabei auf eine Mischung aus Pragmatismus und Konservatismus. “Ich orientiere meine Politik an den Bedürfnissen der Leute und mit Augenmaß fürs Mögliche”, sagt sie. Knallhart Position bezieht die Theologen bei Moralfragen: “Embryonale Stammzellen sind menschliches Leben. Entsprechend ist der Schutz dieses Lebens für mich von höchstem Interesse”, sagt sie. Beim Abfassen von Patienten-verfügungen empfiehlt sie dringend ärztliche Beratung. Entscheidend für die Wähler in Rheinland-Pfalz wird sein, welcher Kandidat die größeren Führungsqualitäten zeigt. Die Schonzeit für den Shooting-Star Klöckner, das neue Gesicht der CDU, ist - so scheint es - längst vorbei.

Das Parlament, 10. Mai 2010
Hamburger Deern: Aydan Özoguz

Was für ein gutes Gefühl es ist, endlich am eigenen Schreibtisch im eigenem Büro arbeiten zu können, erlebte Aydan Özoguz erst richtig, als sie zweieinhalb Monate nach ihrer Wahl in den Bundestag endlich ihren Büroschlüssel in der Hand hielt. Vorher wuselte ihre Mitarbeiterin zwischen Kisten und Kartons herum, ein anderer Mitarbeiter arbeitete daheim. Die Bundestagsverwaltung hatte die Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete um Geduld bei der Zuweisung eines Büros gebeten, Fraktionskollege Olaf Scholz überließ ihr daraufhin ein Zimmer. Macht nichts, dachte Özoguz, da lerne ich Reichstagsgebäude und die umliegenden Bundestagsbauten wenigstens besser kennen: Schließlich ist man immer in Bewegung, so ganz ohne Schreibtisch.

Irgendwie ist es, als habe niemand so richtig mit ihrem Einzug ins Parlament gerechnet, am wenigsten vielleicht sie selbst. “Das hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben”, sagt die 43-Jährige und nippt im Restaurant des Jakob-Kaiser-Hauses an einer Apfelschorle, “dass Kandidaten der SPD bei einer Wahl über die Landesliste zum Zuge kamen.”

Früher gewannen die Sozialdemokraten in Hamburg einfach alle sechs Wahlkreise. Doch der Verlust von gleich drei Wahlkreisen bei der Bundestagswahl im September 2009 machte das vorher Undenkbare möglich.

Auch außerhalb des Parlamentsbetriebs fand Özoguz in Berlin lange keine Wohnung. Sie pendelte zwischen der Hanse- und der Hauptstadt, übernachtete in der Landesvertretung Hamburgs in Berlin; erst Anfang Mai kam der Umzug in eine Wohnung in Kreuzberg.

Für den Pressetermin hat Özoguz nur eine halbe Stunde Zeit; als Mitglied der Enquete-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft hält sie eine Rede im Bundestag. Richtig in Fahrt kommt Özoguz, die im März zur integrationspolitischen Sprecherin der SPD-Fraktion ernannt worden ist, als das Gespräch ihr Steckenpferd berührt: die Migrationspolitik. “Integrationspolitik ist eine Sackgasse, politisch kann man mit diesem Thema kaum weiterkommen”, sagt sie und resümiert: “Der Diskurs darüber ist schwieriger geworden, verhärteter. Die nötigen Auseinandersetzungen zum Beispiel mit Muslimen geraten immer mehr zum steten Anprangern.” Als Bundestagsabgeordnete wolle sie noch mehr das Gespräch besonders mit den religiösen Verbänden suchen: “Kritisch natürlich, aber wir brauchen mehr Austausch”, sagt die in der Hamburger Finkenau geborene Tochter türkischer Kaufleute.

Seit Jahren ist sie in der Migrationspolitik aktiv: zuerst als Vorsitzende der Türkischen Studentenvereinigung Hamburg, dann als Mitarbeiterin der Körber-Stiftung. 2001 zog sie in die Hamburgische Bürgerschaft ein; Olaf Scholz hatte sie gefragt. Dort lernte sie ihren Ehemann kennen, Michael Neumann, heute SPD-Fraktionschef in der Bürgerschaft. Über seine Standpunkte kann sie sich schon mal ärgern: In einem Doppelinterview mit der “tageszeitung” etikettierte sie seinen Befund, “Multikulti” sei gescheitert, als platt. “Dieses Ihr-Wir-Denken ist in Deutschland extremer als in anderen Ländern wie England oder Frankreich”, klagt Özoguz. “Zur Freiheit gehört auch, ein Kopftuch zu tragen”, argumentiert sie: “Wir sollten eher überzeugen als uns in Verbote zu flüchten. Aber wenn ich das sage, klatscht niemand.”

Resigniert sie zuweilen? Will sie sich weiter den Tort antun, der deutschen Mehrheitsgesellschaft den Unterschied zwischen tradiertem Verhalten und Religion zu erklären? Özoguz lächelt. “Zwar ist der Diskurs zäh, aber er ist notwendig - und es tut sich auch was. Viele Selbstverständlichkeiten gibt es mittlerweile im Umgang mit ethnischen Minderheiten”, bilanziert sie.

Die SPD hatte sie mit offenen Armen empfangen. Platz zwei auf der Landesliste erkämpfte sich Özoguz, die keine Ochsentour über Orts- und Kreisverband hinter sich hatte, gegen eine Parteiveteranin: Die Delegierten spürten frischen Wind. “Ich bin eine Hamburger Deern”, sagt sie und springt auf. Ein Detail für ihre Rede muss noch überprüft werden. Sie macht sich auf den Weg zu ihrem Büro - mit Tisch.

Das Parlament, 03. Mai 2010
Der Irrwisch: Diether Dehm

Sein Auftritt ist wohl durchdacht. Aus der dicken Rauchwolke seiner kurzen Monte Christo sticht eine Krawatte hervor, pink-schwarz gestreift wie die Socken. “Die habe ich gerade aus Kuba mitgebracht”, sagt er zur Zigarre, da klingelt sein Handy, nein, es singt: “Was soll’n wir trinken, sieben Tage lang”, trällert eine Hymne der Linken, einst von ihm gedichtet. Sein Sohn ist dran, er studiert gerade in Havanna. Der italienische Eurokommunist Enrico Berlinguer lächelt von einem Plakat. Warm und feierlich wirkt das Büro von Diether Dehm in einem erdgeschössigen Nebenflügel des Jakob-Kaiser-Hauses: der Couchtisch mit Büchern drapiert, eine wuchtige Musikanlage hinterm Schreibsessel; alles offensiv, dynamisch und laut. Wie der europapolitische Sprecher der Linksfraktion selbst.

Ein Besuch bei Diether Dehm gleicht einer Zeitreise. Da grüßen Reliquien der Vergangenheit, aus Partisanenkämpfen und Kaltem Krieg wie zur Vergewisserung - und da plant Dehms Stimme die Gegenwart. “Mindestens jeden zweiten Sonntag brennt hier das Bürolicht bis spät in die Nacht und das nebenan von unserem EU-Referenten Kurt Neumann auch”, sagt er und lächelt. “Dann priorisieren wir.” Dann beugen sich die beiden über Akten und überprüfen die Vorschriften und Anträge aus der EU-Kommission auf ihre Folgen. “Wir wollen besser informiert werden, und zwar auf Deutsch”, sagt Dehm über die Folgen des Verfassungsgerichtsurteils zum Lissaboner Vertrag, “das sehen die Unionsabgeordneten im Europa-Ausschuss auch so”. Überhaupt der Ausschuss: Gut geführt sei der vom Vorsitzenden Gunther Krichbaum, es herrsche Kooperation, auch der Linksfraktion gegenüber. Nur aus Brüssel regne so viel auf die Parlamentarier herab: “Die personellen Kapazitäten müssen immer noch aufgestockt werden. Sonst bleibt es schwierig mit dem Kontrollauftrag.”

Schon wieder klingelt das Telefon. Peter Gauweiler von der CSU sagt zu, denn Dehm wird 60 und will das feiern: mit einer Podiumsdebatte. Er ist ein etwas anderer Politiker. Schrieb Songs für und mit Joe Cocker, Ute Lemper, Heinz Rudolf Kunze und Udo Lindenberg. Er managte Katharina Witt, BAP und Klaus Lage. Noch heute ist er Mitgesellschafter eines Radios, leitet einen Musikverlag und verwaltet seine Immobilien. Nebenbei schreibt er Romane.

Fragt man Bekannte über Dehm, erntet man alles - außer Gleich-gültigkeit. Der Mann polarisiert. Die einen bezeichnen ihn als Westspion der Stasi, die anderen als letzten Romantiker der Linken. Er selbst nennt Kontrahenten gern schnell “Feinde”, Journalisten “Lohnschreiber von Konzernmedien” und bezeichnet die Deutsche Bank als “Krebsgeschwür für die Gesellschaft”. Ist das nicht Nazi-Sprache? “Ich lasse mir von diesen braunen Verbrechern kein einziges Wort wegnehmen.” Mobilisiert das nicht niedere Instinkte? “Nein, höhere Gedanken! Nur wer provoziert, stiftet Nachdenken und schließlich Kompromisse.” Über Zweifel scheint er leicht erhaben. Vielleicht ist das so, wenn man wie Dehm drei Leben hinter sich hat.

Sein erstes ließ er bei der SPD, in die er mit 15 eintrat, ihre Parteihymne komponierte und nach der Debatte um seine vermutete DDR-Spitzeltätigkeit verließ. Dann stieß er zur PDS, wurde so-fort Parteivize - und zog sich nach langem Zwist gen Niedersachsen zurück, formte in seinem dritten Leben aus einem zerstrittenen Haufen dort eine Truppe und führte sie bei der Wahl 2007 mit 7,1 Prozent in den Landtag; 2009 dann der Einzug in den Bundestag.

Jetzt, mit 60 Jahren, will Dehm versöhnen. “Ich habe früher oft zu schnell Gegner gesehen”, sagt er. “Einen Graben aufzureißen, dauert fünf Minuten. Ihn zuzuschütten oft mehr als ein Menschenleben.” Seine Friedenspfeife: Er ist auch mittelstandspolitischer Sprecher seiner Fraktion. “Das ergibt gerade für die Kauf-kraftstärkung Schnittmengen mit den anderen Parteien.” Überhaupt sei christliche Nächstenliebe wie die Solidarität der Linken ein Gegenentwurf zum Neoliberalismus. Träumt er etwa von Schwarz-Tiefrot? “Für Wertkonservative habe ich Ohren groß wie Rhabarberblätter.” Das Handy singt ein drittes Mal. Dehm stockt, lächelt, zieht tief an der Zigarre und nimmt ab.

Das Parlament, 12. April 2010
Der Dauerläufer: Dirk Fischer

Diese Absage schmerzt. Dirk Fischer legt den Hörer auf die Gabel. “Pflicht geht vor, keine Frage”, sagt er und schaut von seinem Bürofenster im Abgeordnetenhaus Unter den Linden in den grauen Himmel. Matt weht gegenüber die Fahne Ungarns vom Dach der Botschaft. Eigentlich spielt heute am Frühabend die Fußballmannschaft der Bundestagsabgeordneten gegen die Fahrbereitschaft; heute aber ohne ihren Außenbahnspieler, gerade hat er dem Kapitän abgesagt. Die Abstimmung über den Einzelplan 12, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, verzögert sich. Und Dirk Fischer wird um sein 359. Spiel gebracht. Das wurmt, keine Frage.

Im Leben des Hamburger Abgeordneten Dirk Fischer wetteifern Fußball und Politik ständig miteinander, und nicht selten unterwirft die Politik den Sport. “Ich bin Disziplinmensch”, sagt der 67-Jährige. Vielleicht hat er deshalb den Sport zum Teil in die Politik-Welt hineingezogen, agiert als Präsident des Hamburger Fußball-Verbands und DFB-Vorstands.

Jedenfalls waren es Köpfe wie Konrad Adenauer und Herbert Wehner, die den jungen Dirk Fischer früh in den Bann der Politik zogen. “Diese Herren hatten Gemeinsinn, ein Verantwortungsgefühl”, sagt er. “Die waren uneitel, geradezu asketisch.” Heutzutage werde die Politik ja gern beschrieben, als störe sie einen optimalen Ablauf.

Mit Fischer ging es jedenfalls voran, mit 27 schon hatte er zahlreiche Ämter inne: er war Vorsitzender des CDU-Studierendenverbands RCDS, der Jungen Union Hamburg, Chef eines CDU-Ortsverbands und Abgeordneter der Bürgerschaft. Mit den 68ern zofften sich die jungen Christdemokraten täglich: “Wenn wir mit den Flugblättern kamen, wurden uns schon mal Taschen über den Kopf gezogen”, erinnert er sich, “bei Sitzstreiks an der Dammtorstraße trugen wir die Demonstranten meterweise weg, beim Springer-Verlag mühten wir uns um die freie Ausfahrt der Lastwagen mit den fertig gedruckten Zeitungen.” Dabei galt die Hamburger JU unter Fischer als links; die Ostpolitik Willy Brandts unterstützte sie, setzte auf eine Modernisierung der Union.

Im Jahr 1980 schließlich der Einzug in den Bundestag: Eigentlich wollte Fischer in den Innenausschuss. Aber dem jungen Justitiar eines Großhandelsunternehmens fehlte die dafür notwendige Tuchfüh-lung mit dem Beamtentum und so handelte ihm sein Landesgruppenchef einen Platz im Verkehrsausschuss aus. “Das gefiel mir auf Anhieb: Verkehrspolitik verbindet lebenspraktische Sachverhalte mit juristischen Herausforderungen”, sagt Fischer. Den Heimatort Hamburg als globale Verkehrsdrehscheibe schlechthin und einen Großvater als Reeder im nordrussischen Archangelsk im Rücken, legte Fischer los. “Es gibt kein Sachgebiet, das Deutschland bis in den letzten Winkel besser kennt als die Verkehrspolitik”, resümiert er. Im Jahr 1989, zwei Tage vor dem Mauerfall, wählte ihn die Unionsfraktion zum verkehrspolitischen Sprecher. Fischer weihte Umgehungsstraßen in Orten ein, deren Namen anders ausgesprochen werden als sie sich schreiben, wie der Hanseat erfuhr. Er kam herum.

Daheim erklomm Fischer den CDU-Vorsitz in Hamburg, sortierte die Partei nach den langen Jahren der Herrschaft seines Vorgän-gers Jürgen Echternach neu, verordnete ihr Transparenz und löste sich von undemokratischen internen Machtzirkeln, denen er selbst lange angehört hatte; als einen Spitzenmann der Exekutive sah er sich weniger. “Das ist nicht meine Lebensplanung. Ich verstehe mich allenfalls als Auffanglösung”, zitierte ihn 1992 die Wochenzeitung “Die Zeit” auf die Frage, ob er gegen Bürgermeister Henning Voscherau antreten würde. Er trat an. Aber erst der Christdemokrat Ole von Beust zog neun Jahre später in das Rathaus der einstigen SPD-Hochburg Hamburg ein.

Die Zeit drängt. Gleich beginnt die abschließende Beratung des Verkehrshaushalts, Fischer muss rüber in den Plenarsaal. In Berlin gehe im Verkehrswesen nur wenig ohne den Hamburger, sagen Informierte über ihn. Kontinuierlich hat der Parlamentarier die Verkehrspolitik des Bundes über Jahrzehnte hinweg geprägt. “Noch”, sagt er, “habe ich einige Spiele vor mir.”

Das Parlament, 15. März 2010
Der Grenzgänger: Peter Altmaier

Vielleicht ist er doch kein Politiker. Politiker setzen Pausen, um ihrem Gesagten eine Bedeutung hinterher schwappen zu lassen. Wenn Peter Altmaier aber zwischen zwei Sätzen schweigt, dann schließt er die Augen und denkt nach, scheint sich aus seiner Umgebung hinweg zu beamen. “Ich konnte mich viele Jahre lang nicht zwischen meinem Beruf und der Politik entscheiden”, sagt er schließlich und lehnt sich entspannt zurück. “Eindimensionalitäten schrecken mich ab.”

Das klingt selbstbewusst und unbescheiden, das trifft den Hunger Peter Altmaiers auf Abwechslung und Herausforderung. Zumindest davon findet er in seinem neuesten Job genug, auch wenn der vor allem darin besteht, auf die Bremse zu treten: “Ich gestalte meinen Umgang mit den Medien so, dass ich einen Beitrag zur Beruhigung des Koalitionsklimas leiste”, sagt er über die eher leisen Töne, die man von ihm seit Wochen vernimmt.

Altmaier ist im vergangenen Oktober Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion geworden. Schwarz-Gelb hat einen Fehlstart hingelegt, schreiben die meisten Kommentatoren. Es knarzt in der Koalition. Das ärgert Altmaier. Man sieht es ihm an, als die Mundwinkel für einen Moment nach unten rutschen, während er sich zum Gezerre zwischen CSU und FDP, mittendrin die CDU, äußern soll. “Angela Merkel hat die Koalitionspartner von Beginn an anständiger behandelt”, sagt er mit Blick auf die rot-grüne Koalition von 1998 bis 2005. “Es ist nicht ihre Sache, in verletzendem Ton die Hackordnung zu verdeutlichen.” Damals hatte Kanzler Gerhard Schröder (SPD) seinem grünen Vize-Kanzler Joschka Fischer per Interview ausrichten lassen, wen er als Koch und wen als Kellner im Bündnis sehe.

Altmaier, 52, sieht sich selbst als dreifacher Keilriemen zwischen den Regierungsfraktionen (“um am Gleichschritt zu feilen”), zwischen Parlament und Regierung (“um zu sehen, was geht”) und zwischen Koalition und Opposition (“sonst gibt es ewiges Gestreite”). Koordinierung ist sein Geschäft. Es liegt ihm wohl. “Mich reizt, aus Gegensätzen Synthesen herzustellen”, sagt er, und vielleicht landete der Bergmannssohn deshalb bei der CDU.

1974 trat er der Jungen Union (JU) bei, den 16-Jährigen nervte der herrschende sozial-liberale Zeitgeist, “die taten so, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gegessen, und das schärfte mein kritisches Bewusstsein”. Bis heute sieht sich der Saarländer als Modernisierer; damals setzte die CDU ihre erste Zäsur und suchte unter Köpfen wie Heiner Geißler, Kurt Biedenkopf und Helmut Kohl den Weg in die Moderne. Die CDU, sagt Altmaier, sei die einzige Partei gewesen, die Markt und Verantwortung zusammenführen konnte. Das zog ihn an.

Die übliche Ochsentour begann: Orts-, Gemeinde-, Kreis- und Landesvorsitzender der JU Saar; Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Saarlouis, seit 1991 Mitglied des Landesvorstandes. Aber das war nur der halbe Altmaier.

Der zweite Altmaier konzentrierte sich auf das Jura-Studium, stürzte sich auf das Europarecht. Dann der Concours. Den Wettbewerb zur Besetzung von Stellen in Institutionen der Europäischen Union schloss er von 15.000 Bewerbern als einer der 15 besten ab und wechselte zur Kommission nach Brüssel. Dann lockte 1994 die Saar-CDU mit einem Bundestagsmandat.

Altmaier testet seitdem Grenzen aus. Als “Junger Wilder” in der “Pizza-Connection”, einem Treff von Unions- und Grünenabgeordneten, focht er in den 1990ern für ein liberales Staatsbürgerrecht, stieg ab 2000 in den Diskussionszirkel junger Parlamentarier rund um Merkel auf - und wappnete sich für höhere Ämter.

Darin angekommen, redet er zuweilen Krummes gerade. Gefragt nach dem wirtschaftlichen Reformeifer der Oppositionsführerin Merkel vor 2005, den die Kanzlerin Merkel danach begrub, beugt er sich vor und sagt: “Die großen Brocken sind durch die Unternehmensteuer-, die Renten- und die Gesundheitsreform weggeräumt. Jetzt geht es um die Haushaltssanierung und das Fein- tuning.”

Altmaier ist nicht nur Vordenker und intellektueller Feingeist. Er ist auch Politiker.

Das Parlament, 01. März 2010
Der verbindliche Plauderer: Enak Ferlemann

So blickt also, wer Politik atmet. Die großen Augen halb geschlossen, ruht er im Sessel und spricht leise, die Stimme ist heiser. Eher eine Abwesenheit von Macht, möchte man meinen. Doch die Augen fixieren seinen Gesprächspartner und der Körper dehnt sich im Sessel wie sprungbereit.

Er breitet die Arme aus. “Ich nehme es hin, wie es kommt”, sagt er über seine politische Laufbahn - das klingt unter dem angedeuteten Kreuzkuppelgewölbe im Verkehrsministerium in Berlin wie ein Klosterspruch, drückt aber tatsächlich die innere Gelassenheit aus, die Enak Ferlemann mit 46 Jahren zum Parlamentarischen Staatssekretär machte. Im Herbst, während der Koaliti-onsverhandlungen, kam ein Anruf. Einen schönen Gruß von der Kanzlerin, bestellte ihm Unions-Fraktionschef Volker Kauder. Und unterrichtete Ferlemann vom Karrieresprung, der beim Lesen seiner Biographie logisch erscheint.

Am Anfang war da ein Gespür. “Ich merkte als Jugendlicher, dass ich gut kommunizieren kann”, erinnert sich Ferlemann. In einer konservativen Arztfamilie aufgewachsen, entdeckte er frühzeitig sein Interesse für Politik, trat mit 13 Jahren in die Junge Union (JU) ein. War Klassensprecher und Mannschaftskapitän beim Fußball. Es folgten die üblichen Stafetten dessen, der dabei bleibt: Kreisverbandsvorsitz der JU, dann mit 23 Jahren Ratsherr für die CDU in Cuxhaven. “Logisch ist da nichts, solch eine politische Entwicklung ist voller Zufälle”, sagt Ferlemann und zählt auf: Die Kandidatur für den Stadtrat hätte ebenso folgenlos bleiben können, er war halt gefragt worden. Zufall Nummer Zwei: Der Vorsitzende des CDU-Kreisverbands starb einige Jahre später mit 45 Jahren bei einem Autounfall - sein Posten musste plötzlich gefüllt werden. Und schließlich wollte der nicht wieder gewählte CDU-Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises nach 17 Jahren Parlamentszugehörigkeit nicht mehr kandidieren. Er empfahl Ferlemann. Der zog mit 39 Jahren 2002 in den Bundestag ein, Banklehre und ein Studium von Jura, Politik und Philosophie sowie einen Job als Wirtschaftsberater hinter sich.

“Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht”, sagt er, “Politik ist für mich Leidenschaft und Herzblut”. Damit einher geht ein Alltag im Stakkato. Gleich muss er los, nach Hannover, ein Treffen zur Reorganisation der CDU-Geschäftsstellenstruktur. Ferlemann organisiert gern, ordnet. “Politik vermittelt staatliches Handeln an die Bürger, das liegt mir”, sagt er, “aber dem gleichgewichtig ist der Gestaltungsauftrag”. In der Niedersachsen-CDU ist er groß geworden, kam unter die Fittiche des Unionsgranden Wilfried Hasselmann. Vom langjährigen Landesparteichef lernte er, wie man Bierzelte zum Kochen bringt, mit den Leuten ins Gespräch kommt. Hasselmann hatte übrigens einen zweiten, etwas jüngeren Schüler: Gemeinsam mit David McAllister, auch aus Cuxhaven, hat Ferlemann im Gleichschritt die politischen Treppenstufen genommen.

McAllister ist heute Fraktions- und CDU-Landesvorsitzender in Niedersachsen. “Damals bei der JU hatte ich schon einen Polo, und er ein Mofa”, lacht Ferlemann. Heute fahren sie andere Fahrzeuge. Jeden Tag telefonieren die beiden, im Schnitt zweimal. In Berlin übernahm Ferlemann den Vorsitz der CDU-Landesgruppe. “In dieser Funktion muss man moderieren und sich gleichzeitig positionieren”, sagt er. In einem Unterausschuss zur Eisenbahninfrastruktur bewährte er sich als Vorsitzender und kam unter die engere Beobachtung der Parteiführung - bis zum Anruf Kauders. Ferlemann beherrscht den Plauderton und wirkt dennoch verbindlich.

Seine Wurzeln in der Kommunalpolitik will er nicht verlieren. Seit 23 Jahren, sein halbes Leben, sitzt er im Cuxhavener Stadtrat. Dieses und auch sein Kreistagsmandat wird Ferlemann als Staatssekretär nicht abgeben. Notfalls ist er noch öfter unterwegs: zwischen Cuxhaven, Hannover, Berlin und wichtigen Ministeriumsteilen in Bonn - am liebsten in der Bahn. “Das mussten die im Haus hier erst lernen, dass ich oft den Zug nehme.” Wie ein Kloster sieht sein Büro jetzt wahrlich nicht aus. Eher wie ein geräumiger Durchgangsbahnhof.

Das Parlament, 1. Februar 2010
Der Beharrliche: Garrelt Duin

Der 23. Mai 2009 ist wieder so ein Tag, an dem Garrelt Duin schneller ist als die anderen. Im Plenum “zwitschert” es freiherzig. “613 für Köhler”, schickt Duin mit seinem Handy in die Welt hinaus, noch bevor das Ergebnis der Wahl zum Bundespräsidenten offiziell verkündet wird. Es ist seine elfte Twitter-Meldung während der Wahlsitzung. Und das gibt Ärger.

“Was soll denn der Sch…”, brummt denn auch Duins Boss wenig später. SPD-Fraktionschef Peter Struck rüffelt seinen Abgeordneten für die digitale Abkürzung vom parlamentarisch vorgesehenen Prozedere. Schneller sein, und dafür auch mal einstecken - das sind zwei immer wiederkehrende Wegmarken in der politischen Laufbahn Garrelt Duins aus Hinte. “Es war ein Missgeschick”, erklärt der Ostfriese acht Monate später in seinem Büro im Berliner Paul-Löbe-Haus. “Meine Frau saß damals auf der Fraktionsebene zwischen Journalisten. Sie hörte, wie diese Köhlers Wahlergebnis kolportierten, simste es mir - und dann nahm alles seinen Lauf.” Seitdem ist Duin seltener auf dem Internet-Tagebuch zu lesen. Er hat genug mit dem Auf und Ab in der Gegenwart zu tun: Bei den Wahlen zum SPD-Präsidium fiel er im vergangenen November als einziger Kandidat durch, dafür ist er seit dieser Legislatur wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion und auch des konservativen “Seeheimer Kreises” in der SPD-Fraktion. “Ich habe eben Meinungen”, erklärt er seine nicht gerade triumphalen Wahlergebnisse. “Ich wiederhole nicht, was andere richtig finden.” Bei den Wahlen zum SPD-Landesparteichef in Niedersachsen kam er 2005 auf 77,5 Prozent, drei Jahre später nur noch auf 75,9 Prozent.

Die Politik lernte er schon von Kindesbeinen an in seinem Dorf kennen. Sein Vater war Gemeindedirektor bei den 7.000 Hinteranern. Der kleine Garrelt sah die Lokalgrößen ständig auf dem elterlichen Hof. Auf den ersten Blick eine schnörkellose Karriere: Eine sozialdemokratische Familie, mit 17 zu den Jusos. Duin gründete in Hinte die Ortsgruppe - und saß zum ersten Mal zwischen allen Stühlen.

Da waren zum Beispiel die Junggenossen in der nahen Stadt Emden. “Die waren mir zu theorielastig”. Duin kümmerte sich um Recyclingpapier für die Gemeinde, und er legte sich mit den Alphatieren des Ortes an, weil er für das kommunale Wahlrecht von Ausländern stritt. Dann ging alles sehr schnell. Der Großgewachsene fiel auf. Weil er klar, überzeugt und überzeugend redete und Ruhe ausstrahlte. Mit 22 reiste er als jüngster Delegierter überhaupt zum SPD-Bundesparteitag nach Berlin. Dann folgte die Ochsentour im Bezirksverband und als Ratsherr. 1999 wurde er zum Ersatzkandidaten für die Europawahlen ernannt - und zog ein Jahr später im Alter von 32 Jahren für den verstorbenen Abgeordneten Günter Lüttge ins Europäische Parlament. “Sonst wäre ich Kirchenjurist geworden”, sagt Duin, und offenbart damit zumindest eine Leidenschaft neben der Politik: Neben Jura studierte Duin auch Theologie. Kirchenrecht interessierte ihn besonders, denn sein Vater ist Präses der Evangelisch-reformierten Kirche.

Als dann im Januar 2005 der SPD-Wahlkreisabgeordnete Jann- Peter Janssen wegen nicht deklarierter Zuwendungen von VW auf sein Bundestagsmandat verzichtete, sprang Duin wiederum ein - und läutete einen neuen Politikstil ein: Auf seiner Homepage gibt er die genaue Höhe seiner Nebeneinkünfte an.

Duin wurde in den Bezirksverbänden Niedersachsens groß. Sein Ziel als SPD-Landeschef war es in den vergangenen fünf Jahren immer, dem schwächsten Landesverband der Sozialdemokraten in Deutschland mehr Schlagkraft zu verleihen.

Am 29. Januar zog sich der 41-Jährige Niedersache jedoch vom Landesvorsitz zurück. Er werde auf dem Landesparteitag im Mai nicht mehr erneut kandidieren, teilte er seinen Parteifreunden in einer Erklärung mit. Er wolle den Weg für einen Neustart an der Spitze der Niedersachsen-SPD frei machen und “das Negative der Vergangenheit hinter sich lassen”. Duin blickt schon wieder nach vorne: Er will sich nun auf seine Aufgaben als Bundestagsabgeordneter konzentrieren.