Zeitenspiegel Reportagen

7 Dutzend auf einen Streich

Erschienen in „LANDLUFT – das Remstal-Magazin“, 1/2012

Von Autorin Sigrid Krügel

Er war kein tapferes Schneiderlein, sondern als Konditor der natürliche Feind aller sechsbeinigen Zuckerschlecker. Im Jahr 1909 erfand Theodor Kaiser in Waiblingen den Fliegenfänger neu.

200 Kilometer nordwestlich von Waiblingen – in Frankfurt am Main – wird am 10. Juli 1909 die erste Internationale Luftschifffahrt-Ausstellung eröffnet. Die Sensation ist der „Aeroplan“ der Gebrüder Wright aus Ohio, USA. Kein Zeppelin und kein Ballon, sondern ein echtes Flugzeug. Rund 1,5 Millionen Männer, Frauen, Kinder werden sich in den folgenden Monaten die Ausstellung und den Aeroplan anschauen.

„Aeroplan“, so nennt auch der Waiblinger Theodor Kaiser seine neue Erfindung, einen Fliegenfänger. Es ist nicht der erste auf dem Markt, aber der beste. Eigentlich ist Theodor Kaiser Konditor und Bonbonproduzent. Seine „Husten-Heilcaramellen“ bei Brust- und Lungenkatarrh sowie die „Pfeffermünz-Caramellen für Magenleidende“ sind der Verkaufsschlager, und Kaisers Drei-Tannen-Hustenbonbons sind bis heute begehrt. Theodor Kaiser ist 47 Jahre alt, ein typischer schwäbischer Erfinder und Tüftler, als er sich an die Lösung eines täglichen Ärgernisses macht: die Fliegenscharen in seiner Backstube. Auf jeder Torte, auf jeder Zuckerschnecke hocken sie und lassen sich’s schmecken.

7 Dutzend auf einen Streich 16601_ur_d_9351.jpgWeltweit legte der Fliegenfänger von Aeroxon eine steile Karriere hin

7 Dutzend auf einen Streich 16601_ur_d_9259.jpgDer Biologe der Firma überprüft das Fliegen-Labor.

Wenn diese Sechsbeiner Süßes mögen, mag er gedacht haben, dann sollen sie es kriegen. Anfangs habe er mit Melasse experimentiert, den Zuckersirup auf Papierstreifen gestrichen, erzählt Kaisers Urenkelin Alice Pfau, Herrin über das 400 Ordner umfassende Firmenarchiv. Doch Melasse wird zu schnell hart, um sinnvoll gegen die Fliegenplage eingesetzt werden zu können.

Also bespricht sich Kaiser mit einem befreundeten Chemiker – und macht sich auf zur Fliegenjagd. Genauer: er lässt jagen. Beauftragt die Nachbarskinder, die Insekten für ihn und seine Versuche zu fangen. Und zwar vorsichtig, er braucht sie lebend. An der Riviera dann, wo die Familie im Herbst Urlaub macht, verteilt er Streichholzschachteln an das Hotelpersonal. „Monsieur L’Attrape-Mouche“ nennen sie ihn dort. „Herr Fliegenfänger!“ Je mehr Fliegen er mit nach Waiblingen nehmen kann, desto glücklicher ist er. Damit die Insekten die Reise gut überstehen, hat er die Schachteln zuvor liebevoll präpariert und mit Luftlöchern versehen. (100 Jahre später wird es in Waiblingen 126 Quadratmeter Fliegenzucht und Versuchsräume für Entwicklung und Qualitätskontrolle geben.)

Schließlich gelingt Theodor Kaiser der Durchbruch. Aus Harzen, Gummi und Ölen entsteht ein Leim, der den Fliegenfänger made in Waiblingen von der Konkurrenz unterscheidet. Er tropft nicht. Er wird nicht hart. Er trotzt der Wärme, der Sonne und der Zugluft. Und er klebt wirklich gut – zwei bis drei Monate, eine Fliegensaison lang. So fest, dass sich die Fliegen nicht befreien können. Die genaue Zusammensetzung ist bis heute fast unverändert und gut gehütetes Geschäftsgeheimnis.

7 Dutzend auf einen Streich 16601_ur_d_9292.jpgIn dieser Halle stellen Arbeiter den Fliegenleim her.

7 Dutzend auf einen Streich 16601_ur_d_9322.jpgAlice Pfau aus der Familie Kaiser mit den Portraits von Theodor Kaiser (l.) und seinem Vater Gottlob Kaiser.

1909 fertigen Heimarbeiterinnen die ersten Fliegenfänger. Ein Jahr später beschäftigt Kaiser bereits 105 Mitarbeiter im Produktionsgebäude in der Waiblinger Bahnhofstraße. Doch das genügt dem Tüftler und Geschäftsmann nicht. Um Marktführer zu werden, hirnt er weiter, wie er sein Produkt verbessern kann. Die Form ist bereits perfekt: Aufgerollt in seiner Hülse lässt sich der Fliegenfänger gut lagern und transportieren. Die Spirale, die sich beim Ausziehen bildet, ist dazu ein idealer Landeplatz für die Insekten, die von den dreidimensionalen Ecken und Kanten fast magisch angezogen werden.

Doch nicht immer hat die Hausfrau einen Reißbrettstift zur Hand, um den klebrigen Kringel aufzuhängen. Also versorgt Kaiser sie mit dem notwendigen Zubehör. Das hat bis jetzt noch keiner: Der Kaiser’sche Fliegenfänger wird mit einem Bändchen und einem Reißnagel ausgestattet. Als „Honigfliegenfänger mit dem Stift“ ist die Erfindung nun nicht mehr zu toppen und nicht mehr zu stoppen.

1922 werden in Waiblingen 19,8 Millionen Fliegenfänger produziert. Das Stammwerk wird zu klein, Kaiser baut in Würzburg ein weiteres Werk. 1926 liefert er bereits 36 Millionen Honigrollen ins Ausland. Bis Ende der 20er Jahre wird er elf Auslandsfirmen gründen, um näher am Markt zu sein.

Warum er 1909 ausgerechnet „Aeroplan“ als Namen für seine Erfindung wählt, weiß nicht einmal Urenkelin Alice Pfau. „Das bleibt wohl sein Geheimnis“, sagt die 52-Jährige, die nicht nur für das Archiv, sondern auch das Markenrecht und rund 50 Ordner mit Patentanmeldungen verantwortlich ist. Der Name sei ohnehin von kurzer Dauer gewesen. Fluggerätebauer und Spielwarenindustrie legen Einspruch ein. Theodor Kaiser muss seine Erfindung umbenennen. 1911 meldet er „Aeroxon“ als Marke beim Patentamt an.

Als Theodor Kaiser 1930 stirbt, hat die Produktionen einen Höhepunkt erreicht: Im gleichen Jahr, in dem in Dresden das Hygiene-Museum eröffnet wird, produziert die Firma Aeroxon 124 Millionen Fliegenfänger weltweit. Der Slogan „Töte die Fliege, sonst tötet sie dich“ wird in verschiedene Sprachen übersetzt und trägt den Namen Aeroxon rund um den Erdball.

Denn die Krankheitserreger von Ruhr, Typhus, Diphtherie und Cholera, alle von Stubenfliegen übertragen, sind 1930 noch immer lebensbedrohlich. Gerade erst hat der schottische Bakteriologe Alexander Fleming das Penicillin entdeckt. Doch bis seine Bedeutung erkannt wird und es in größeren Mengen hergestellt werden kann, vergehen weitere 15 Jahre. Als im Zweiten Weltkrieg die verwundeten Soldaten „wie die Fliegen“ an den Wundinfektionen sterben, wird die Forschung intensiviert. Die Amerikaner sind die ersten, die genügend Penicillin herstellen, um Soldaten und Zivilpersonen behandeln zu können. Deutschland hinkt hinterher. US-Autor Graham Greene setzt dem Penicillinmangel ein literarisches und filmisches Denkmal: in „Der dritte Mann“ mit Orson Welles, Kaleidoskop eines Nachkriegs-Wiens, in dem der Schwarzhandel mit dem neuen Antibiotikum blüht.

In den 40er Jahren wird aber nicht nur Penicillin entwickelt, sondern auch DDT. Mit den Amerikanern kommt das Insektizid nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa. „In fast jedem Haushalt wurden diese hochgiftigen Produkte eingesetzt“, erzählt Alice Pfau. Die Fliegenfängerproduktion sinkt. Erst in den 60er Jahren wird bekannt werden, wie gesundheitsschädlich das Nervengift wirklich ist.

Der Zweite Weltkriegs bedeutet eine Zäsur. Friedrich Kaiser, der Sohn und Nachfolger von Theodor, verliert alle osteuropäischen Auslandsniederlassungen. Es wird nur noch in Waiblingen und Bregenz produziert. DDT-haltige Produkte und andere Pestizide sind eine massive Konkurrenz. Trotzdem lehnt Friedrich Kaiser das Angebot der chemischen Industrie ab, für sie zu arbeiten. Er will der Firmen-Philosophie treu bleiben: Kein Gift! Doch mit Fliegenfängern alleine kann der Betrieb nicht überleben. Ein einziger Artikel reicht nicht aus, um die Marke Aeroxon am Leben zu erhalten. Und so bittet Friedrich Kaiser seinen amerikanischen Schwiegersohn John G. Updike, Ehemann der ältesten Tochter Ellen, nach Deutschland zu kommen und in die Firma einzusteigen. Gemeinsam entwickelt man nun weitere Artikel: den Stallfliegenfänger und Köderboxen für Ameisen, Silberfischchen und Motten. Auch eine Fliegenklatsche aus Kunststoff ist dabei. „Die eher sportliche Variante für die Fliegenjagd“, wie Thomas Updike, Urenkel von Theodor Kaiser und seit 2002 Geschäftsführer der Firma Aeroxon, witzelt. Von Öko-Test gibt es sieben Mal das Prädikat „sehr gut“ für Aeroxon-Produkte.

2003 wird in Tschechien ein zweites Werk errichtet, die Fertigung des Fliegenfängers aus Platzgründen nach Klatovy verlagert. Hier werden die einzelnen Bestandteile der effizienten Kleberolle hergestellt: die Hülse, das rote Bastbändchen, der Deckel. Nur der Leim, der wird noch immer in der Leimküche in der Waiblinger Bahnhofstraße angerührt.

Rund 180 Beschäftigte hat Aeroxon derzeit, seit 20 Jahren ist der Umsatz stabil. Auch der Absatz von Fliegenfängern, mit dem alles begann, ist konstant. „Die Verwendung im ländlichen Bereich ist so stark, dass es den Rückgang in der Stadt kompensiert“, sagt Alice Pfau. 40 Millionen Fliegenfänger werden Jahr für Jahr verkauft. Aeroxon exportiert in rund 40 Länder.

Nachwort:
Theodor Kaiser hat den Fliegenfänger neu erfunden und viele, viele Millionen davon produziert. Doch für die Waiblinger ist er immer noch der Bonboles-Kaiser. Als er 1916 – in einer Zuckerkrise – mehr Zucker benötigt als das ihm zugewiesene Kontingent, bittet er die „verehrten Kunden“, die Wirksamkeit seiner Brustkaramellen schriftlich zu bestätigen. 15.000 Schreiben gehen ein, die alle notariell beglaubigt werden. Ein Schatz, genauso wie die Rechnungsbücher, Werbeplakate und Wetteraufzeichnungen, die Urenkelin Alice Pfau in ihrem 150 Quadratmeter großen Archiv unter dem Dach sorgsam hütet. Und falls sich jemals ein Nagetier Zugang zu diesem Reich verschaffen würde: Alice Pfaus Vater hat vorgesorgt. Seit rund 20 Jahren hat Aeroxon auch eine Mausefalle im Programm. Natürlich altbewährt mit Federbügel und giftfrei. So wie es sich der alte Theodor gewünscht hätte …