Zeitenspiegel Reportagen

Alptraum ohne Ausweg

Erschienen in "Zeit-Magazin Online", 04.07.2014

Von Autor Bernd Hauser

Vor 20 Jahren kostete der Völkermord in Ruanda Hunderttausende das Leben. Eine Gruppe deutscher Entwicklungshelfer erlebte das Morden im eigenen Haus. Trifft sie Schuld?

Es ist ein gutes Leben, das die Europäer im Norden von Ruanda führen, in einer Landschaft aus kegelförmigen Hügeln. Mais, Kartoffeln und Bohnen ziehen sich in wohl bestellten Feldern die Hänge hinauf. Barfüßige Männer und Frauen grüßen freundlich auf den Serpentinenpfaden. Aus den über die Hügel gesprenkelten Hütten dringen die Geräusche des Alltags, Frauenstimmen, Kindergeschrei, Ziegenmeckern.

Projektleiter Thomas Magura, 36 Jahre alt, die 31-jährige Agraringenieurin Sabine Kramer*, ein Student im Praktikum und ein belgischer Kollege sind das Team im Projekt der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) in Giciye. Sie helfen den Bauern mit verbessertem Saatgut und zeigen ihnen, wie man Felder in Terrassen anlegt, sodass der Boden nicht abgespült wird und die Erträge steigen. Zum Feierabend trinken sie mit den einheimischen Kollegen belgisches Bier und essen Brochettes, Spießchen mit Ziegenfleisch. Nach Einbruch der Dunkelheit zünden die Entwicklungshelfer in ihrem Haus den Kamin an, denn abends wird es kalt auf über 2.000 Metern Höhe.

So leben die Europäer in Giciye bis zum 6. April 1994. An diesem Tag zwingt ein Flugzeugabsturz in der ruandischen Hauptstadt Kigali sie in eine Situation ohne Ausweg, in der es nur eine Wahl gibt: zwischen Schuld und Tod.

An diesem Abend wird die Maschine des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana abgeschossen, wahrscheinlich von Tutsi-Rebellen, die in der Hauptstadt versteckt operieren. Der Abschuss löst einen Völkermord aus, dem in den darauffolgenden 100 Tagen bis zu 800.000 Menschen zum Opfer fallen werden. Die Propaganda-Radiosender der Hutu-Regierung mobilisieren über Nacht das ganze Land. “Macht eure Arbeit, erledigt die Kakerlaken”, sagen die Sprecher. Überall in den Dörfern des Bürgerkriegslandes haben sich die Hutu in paramilitärischen Gruppen organisiert. Die jungen Milizionäre der Interahamwe, zu deutsch “Die miteinander angreifen”, verstehen die Botschaft aus dem Radio: Sie sollen die Angehörigen der Tutsi-Minderheit töten.

Um 5.30 Uhr am nächsten Morgen klingelt bei den Entwicklungshelfern in Giciye das Telefon. Am Apparat ist Christophe Bazivamo, der Ruander, der das Projekt zusammen mit Thomas Magura leitet und gerade eine Schulung in Kigali besucht. Bazivamos Familie lebt im Haus neben den Europäern. Er will seine Frau Eudosie sprechen. Nach wenigen Sekunden legt sie auf und eilt in ihr Haus zurück, um zu packen. Eudosie Bazivamo, eine freundliche, zurückhaltende Lehrerin und Mutter von zwei Kleinkindern, hat Angst. Sie ist Tutsi, eine der wenigen, die noch in der Region sind.

Um 8.30 Uhr erkundet Thomas Magura die Lage und fährt zu den GTZ-Büros im Tal. Er erfährt, dass auf allen Überlandstraßen des Landes, Sperren errichtet wurden – auch der Weg aus Giciye ist damit versperrt. Denn niemand weiß, wer dort wartet: Reguläre und relativ disziplinierte Soldaten? Oder betrunkene Jugendliche der Interahamwe? Aus Kigali bekommt Magura die Anweisung, das Risiko einer Fahrt nicht einzugehen. Die Entwicklungshelfer decken sich im Laden des Ortes mit Lebensmitteln ein, kaufen Bier, Cola, einen Sack Kartoffeln. Trotzdem bittet Magura seinen Werkstattleiter Gervais Ndagijimana, die Geländewagen für die Abfahrt vorzubereiten.

Wie Christophe Bazivamo stammt auch der Werkstattleiter, der teure Ersatzteile und wertvolles Benzin verwaltet, nicht aus der Gegend. So vermeiden die Europäer Korruption und Klüngel. Im Dorf scheint Gervais Ndagijimana, auch er ist ein Tutsi, beliebt und integriert. Geduldig repariert er abends und am Wochenende die Mopeds der Dörfler. Doch die Einheimischen sehen in Ndagijimana einen Eindringling, der sie um ihre Pfründe bringt. Die gut bezahlten Jobs im Entwicklungsprojekt stehen in ihren Augen Ortsansässigen zu. Die fremden Ruander sind vor Ort verhasst. Die deutschen Helfer ahnen vom Ausmaß dieses Hasses nichts. Ruander zeigen ihre Gefühle kaum. Das gilt als unklug.

“Es gibt Grenzen, wie tief man in die lokale Gesellschaft eindringen kann”, sagt Thomas Magura. Er sitzt in seinem Büro in Den Haag, wo er heute lebt. Er war gleich zu einem Gespräch über Giciye bereit. Seine sonore Stimme füllt den Raum. Er wirkt ruhig und sicher. Manchmal schließt er die Augen, als ob ihm das dabei hilft, sich an die Details des 7. Aprils 1994 zu erinnern.

Gegen 10.30 Uhr bringt Alois Nzabanita, auch er ist ein Mitarbeiter des GTZ-Projekts, den Werkstattleiter auf seinem Motorrad ins GTZ-Haus. Gervais Ndagijimana entschuldigt sich für seine Verspätung, er hat am Morgen sein Haus verbarrikadiert, um seine Frau und seine beiden Kinder zu schützen. Magura schlägt ihm vor, die Familie ins GTZ-Haus zu holen. Eudosie Bazivamo ist bereits ins Haus der Deutschen umgezogen, zusammen mit ihren Kindern, ihrer achtjährigen Schwester Marie, einem Kindermädchen und sieben Koffern.

Der Werkstattleiter geht sofort wieder los, um seine Familie zu holen. Doch nur Minuten später ist er zurück: “Ils ont déjà commencé à couper les têtes!”, schreit er. “Sie haben begonnen, die Leute zu köpfen!” Alois Nzabanita hat die Gefälligkeit, den Werkstattleiter auf seinem Motorrad mitzunehmen, vor wenigen Augenblicken mit dem Leben bezahlt.

Jetzt begreifen die Europäer, wie ernst die Lage im Haus ist. “Es klingt vielleicht merkwürdig”, sagt Sabine Kramer, “aber in Afrika genießt man als Weißer immer noch Respekt: Zunächst glaubten wir, dass uns nichts getan wird und wir die Ruander schützen können.” Gervais Ndagijimana versucht nach dem Mord an seinem Kollegen auf Schleichwegen zu seinem Haus zu gelangen, um seine Familie zu retten.

Gegen 11.30 Uhr beobachten die Entwicklungshelfer vom Garten ihres Hauses, wie unten im Ort eine mit Lanzen, Macheten und Keulen bewaffnete Menge zum Haus des Werkstattleiters zieht. Sie hören die Männer johlen, wie im Fußballstadion, wenn ein Tor fällt. Kurz darauf kommt Gervais den Hang hinaufgerannt, er erreicht das GTZ-Haus unter Schock. Seine Frau und seine Kinder sind eben ermordet worden.

Die Menge unten im Ort formiert sich neu und wendet sich dem Hang zu, hinauf zum Haus der GTZ. Die Deutschen kennen einen der Anführer: Poulain Hakizimungu ist ein ehemaliger Projektmitarbeiter. Er war immer ausgesucht freundlich zu seinen Vorgesetzten, bis er ein halbes Jahr zuvor wegen Betrügereien entlassen wurde. Magura geht hinaus. Hakizimungu hält ihm eine Handgranate entgegen und sagt: “Sie haben eine Stunde Zeit, alle Tutsi auszuliefern. Wenn Sie darauf eingehen, geschieht den Weißen nichts. Ansonsten werfen wir Granaten in die Fenster.”

Thomas Magura hat sich entschieden, dem unvorstellbaren Schrecken dieses Tages mit größtmöglicher Distanziertheit zu begegnen. Könnte so eine Situation überall auf der Welt entstehen? “Ja, das ist Teil des menschlichen Seins.” Magura will Haltung bewahren. Er redet artikuliert, doziert wie ein Lehrer. Er berichtet die Fakten wie ein Außenstehender, über seine Gefühle spricht er nicht. Hatte er Angst? Magura weicht dieser Frage aus. “Sie müssen sich auf die Situation einstellen und das beste daraus machen”, sagt er. “Und das konnte nur heißen: Zeit gewinnen.”

Über Funk hat die deutsche Botschaft geraten, sich keinesfalls schützend vor die Ruander zu stellen. Doch die Europäer im GTZ-Haus haben eine Hoffnung: Die Gendarmerie in der eine Autostunde entfernten Provinzstadt Gisenye. Ein über Funk alarmierter GTZ-Kollege in Gisenye versucht, die Gendarmen zu einer Fahrt nach Giciye zu bewegen, in der Hoffnung, dass die Beamten noch Recht und Gesetz dienen.

Gegen 13 Uhr krachen die ersten Steine ans Wohnzimmerfenster des GTZ-Hauses. Magura geht wieder hinaus. Der Anführer des Mobs macht ein neues Angebot: Wenn Werkstattleiter Gervais herausgegeben werde, würden die Weißen, Eudosie Bazivamo und ihre Kinder verschont. Kann man einen so furchtbaren Vorschlag überhaupt begreifen? Wenn von einer Stunde zur anderen Anarchie und Irrsinn herrschen, Recht und Anstand plötzlich nicht mehr gelten und man einen Menschen in den Tod schicken soll – wie hält man so etwas aus? “Es war knüppelhart”, sagt Thomas Magura heute. “Aber mir war klar, wir haben keinen Verhandlungsspielraum. Ich war so unter Spannung, dass ich die ganze Zeit wie neben mir stand und mich selbst beobachtete: Was macht er jetzt? Man funktioniert einfach.”

Zurück im Haus, präsentiert Magura dem Werkstattleiter die Forderung. “Wenn du rausgehst, Gervais, hilfst du den anderen”, sagt Magura. Der Werkstattleiter wehrt sich nicht. Er steht unter Schock.

Wieder geht Magura hinaus und stellt den Mördern die Bedingung, dass Gervais Ndagijimana das Haus nur verlasse, wenn er ein Auto benutzen dürfe. Sie wird akzeptiert. Magura stellt ein Auto vor die Tür, lässt den Motor laufen. Im Haus zieht sich Werkstattleiter andere Kleidung an, wickelt sich ein Tuch um den Kopf, in der Hoffnung, dass ihn die Meute nicht sofort erkennt, wenn er zur Tür hinausstürmt. Die Europäer geben ihm Geld. Vielleicht kann er sein Leben freikaufen, wenn er es bis zu einer Straßensperre auf der Landstraße schafft.

Dann springt Gervais in den Geländewagen und rast an der Menge am Rande des Hofes vorbei in Richtung Tal. Steinwürfe zerschmettern die Scheiben. Kurz darauf: Schüsse. Der Gemeindepolizist trifft die Reifen des Wagens, der Werkstattleiter flüchtet zu Fuß weiter in sein Lager. Dann hören die Europäer vier, fünf Explosionen von Handgranaten. Sie sehen aus der Ferne, wie Männer die Dachverkleidung des Lagers entfernen. Später erfahren sie, dass die Mörder Gervais Leiche den Kopf abtrennen und in einen Fluss werfen.

“Es war eine menschenverachtende, groteske Situation, die niemand begreifen kann”, sagt Sabine Kramer heute in ihrem Haus in einer Universitätsstadt in Hessen. “Aber wir konnten Gervais nicht retten. Die wollten ihn haben, er stand auf ihrer Liste ganz oben.” Die Verhandlungen, die Möglichkeit zur Flucht im Auto, die neuen Kleider zur Tarnung, das Geld: “Das war das Einzige, was wir tun konnten.” Kramer nimmt einen Schluck Mineralwasser. Sie trinkt sehr viel während des Gesprächs. “Eine Diät”, sagt sie gedankenverloren.

Nach dem Tod von Gervais herrscht Ruhe im GTZ-Haus. Fast fühlen sich die Deutschen erleichtert. Der Mob hat sich ins Dorf zurückgezogen. Die Entwicklungshelfer reden wenig, diskutieren nicht, ob sie richtig gehandelt haben. Jeder sucht sich eine Beschäftigung. Nur nicht ins Nachdenken kommen. “Wir durften keine Angst oder Panik zulassen. Sie hätte uns schwach gemacht”, sagt Sabine Kramer. “Es war ein bisschen wie bei einer gefährlichen Situation im Auto: Instinktiv reagiert man richtig, das Herzklopfen kommt erst hinterher. Nur dass bei uns aus Sekunden der Gefahr Stunden wurden.”

Sabine Kramer bedient das Funkgerät. Irgendwann packt sie eine Nottasche. Sie will für eine Flucht gerüstet sein. Der Tisch steht voller Schüsseln mit Speisen. Koch Emmanuelle, ein einheimischer Hutu, brät seit dem Morgen Kartoffeln, macht Salate, kocht Gemüse. Sie essen. Niemand hat Appetit, die Entwicklungshelfer essen schweigend. Die Frau von Christophe Bazivamo hat sich in Todesangst in einem der Schlafzimmer verbarrikadiert. Noch keine Nachricht, ob die Gendarmerie zu Hilfe kommen wird.

Gegen 15 Uhr kehrt die Meute zurück. Es sind noch mehr Männer als zuvor, Verstärkung kam aus dem Nachbarort Karago. Die Europäer treten vor die Tür. Die jungen Männer sind angetrunken, fuchteln mit Messern und Lanzen. Magura spricht die Anführer an: “Es war abgemacht, dass ihr Ruhe gebt, wenn Gervais rauskommt.” Davon will niemand etwas wissen: “Jetzt ist die Familie dran!” Die jungen Männer umringen die Europäer, schreien sie an, drohen mit Handgranaten, versuchen, Sabine Kramer die Autoschlüssel abzunehmen. Thomas Magura geht dazwischen.

“Thomas, gib die Schlüssel zum Haus raus, wir können sie nicht mehr retten”, ruft Sabine Kramer. Sie ist verzweifelt. Mit dem Praktikanten und dem belgischen Kollegen setzt sie sich in einen der Geländewagen. Magura steigt nicht ein. Er fürchtet, dass das Auto attackiert werden würde, wenn er sich auch hineinsetzt.

“Die Situation wurde immer unübersichtlicher. Wir mussten die Schlüssel für das Wohnhaus herausgeben,” schreibt Magura zehn Tage später in seinem Bericht an seine Vorgesetzten. Der Bericht ist knapp gefasst, in einem nüchternen, wissenschaftlichen Stil. Heute, 20 Jahre später, spricht er noch immer so über das Unfassbare. Rationalität als Rettungsanker in einer Situation, die nur traumatisch erlebt werden kann?

Ein Teil der Meute stürmt ins Haus. Die Familie Bazivamo wird herausgezerrt und wenige Schritte vom Haus entfernt ermordet: Eudosie Bazivamo, der zwei Jahre alte Alain, der zwei Monate alte Christian, Marie, die achtjährige Schwester von Eudosie und Jacqueline, das Hausmädchen. Das was in Giciye passiert, wiederholt sich an diesem Tag und den 99 darauffolgenden Tausendfach im ganzen Land. “So eine Massenhysterie macht Kräfte frei, die man sich nicht vorstellen kann”, sagt Thomas Magura in seinem Büro in Den Haag. Zum ersten Mal verändert sich seine Stimme, er spricht jetzt schnell und laut. “Stellen Sie sich vor! Sie stellen sich den Leuten in den Weg und sagen: Gervais bleibt hier! Man könnte dieses Risiko eingehen, und das werfe ich mir vielleicht letztlich vor, ob ich wirklich alles getan habe, um auch die Familie Bazivamo zu retten. Aber den Helden zu spielen, dieses: ‘Nur über meine Leiche!’, es hätte nichts gebracht …” Der letzte Satz endet in einem Murmeln.

Etwa eine Stunde nach dem Mord an Eudosie Bazivamo braust ein Geländewagen auf den Hof, darin sechs mit automatischen Gewehren bewaffnete Gendarmen. Die jungen Mörder fliehen in die Büsche. Als keine Schüsse fallen, verlassen sie ihr Versteck und ziehen sich unter Drohgebärden zurück. Unter dem Schutz der Gendarmen können die Europäer Giciye verlassen und kommen unbeschadet durch die von betrunkenen Jugendlichen besetzten Straßensperren bis in die Provinzstadt Gisenye. Einige Tage später werden sie nach Goma im Kongo evakuiert, von dort fliegen sie zurück nach Europa.

“Wir hätten die Nacht in Giciye nicht überlebt”, sagt Thomas Magura. “Christophe Bazivamo hat unser Leben gerettet. Er kannte die Gendarmen persönlich, nur deshalb konnte er sie über Funk bewegen, uns zu Hilfe zu kommen.”

Christophe Bazivamo ist ein Mann mit breitem Rücken und mächtigem Kopf. Nach dem Völkermord hat er vier Jahre lang in Göttingen studiert. Er hat wieder geheiratet, die Schwester seiner ermordeten Frau Eudosie. “Ich habe mich lange gefragt: Warum haben die Mörder mir das angetan? Ich musste akzeptieren: Es gibt keine wirkliche Antwort”, sagt Bazivamo in seinem Büro in Kigali in rostigem Deutsch. “Nur diese: Die Täter waren fehlgeleitet. Sie waren arm, ungebildet und deshalb leicht zu manipulieren.”

Bazivamo, ein Hutu, steigt nach seiner Rückkehr aus Göttingen bald zum Innenminister der Tutsi-dominierten Regierung auf und ist dort mitverantwortlich für die nationale Versöhnungspolitik: Offiziell gibt es keine Hutu und Tutsi mehr, nur noch Ruander, so lautet die Direktive der Regierung um Paul Kagame. Als im Jahr 2005 der Mord an seiner Familie verhandelt wird, steht Bazivamo als Zeuge vor Gericht. Die Angeklagten kennt er persönlich, einen, ein Lehrer und Kollege seiner Frau Eudosie, hatte er sogar in seinem Haus bewirtet. Dreitausend Menschen kommen auf den Fußballplatz von Giciye, um zu sehen, wie der Minister mit den Mördern seiner Familie abrechnet. Viele Zuschauer erwarten seinen gerechten Zorn. Doch es geschieht nicht, was die Menge erwartet. Der Minister zerschmettert seine Feinde nicht. Als einer der Rädelsführer des Lynchmordes berichtet, wie seine Familie zu Tode kam, weint er.

Ein Minister, der öffentlich weint: In einem Land, in dem Macht seit jeher auf demonstrierter Stärke und Gewalt beruht, ist Bazivamos Gefühlsausbruch eine Revolution. Die fünf Angeklagten bitten den Minister um Verzeihung. “Ich vergebe”, sagt Bazivamo. Nur wenn das Land den Hass überwinde, sagt er, habe es eine Zukunft.

Thomas Magura hat nach 1994 vor allem in Lateinamerika und Asien gearbeitet. Afrika hat er lange gemieden, erst fünf Jahre nach dem Völkermord war er zum ersten Mal wieder dort. In Ruanda war er nur noch ein einziges Mal, nach Giciye fuhr er nicht mehr. Sabine Kramer dagegen kehrte bereits ein dreiviertel Jahr nach den Morden nach Giciye zurück. “Ich musste da hin”, sagt sie. “Um das Erlebte aufzuarbeiten.” Die Felder waren unbestellt, das GTZ-Haus geplündert, die Stromkabel aus den Wänden gerissen. Sabine Kramer kannte fast niemanden mehr. Fast alle Hutu waren in den Kongo geflohen, aus Angst vor den im Bürgerkrieg siegreichen Tutsi.

Thomas Magura schrieb in seinem Bericht: “Letztendlich steht jeder für sich allein da und es ist von ihm selbst abhängig, ob er die Katastrophe meistert oder ob er untergeht.” Es klingt wie eine Rechtfertigung. “Das Schreiben war für mich das reinigende Gewitter”, sagt Thomas Magura. Seinen erwachsenen Söhnen hat er die Begebenheit nie erzählt, “jedenfalls nicht im Detail.”

Christophe Bazivamo und Thomas Magura trafen sich drei Monate nach den Morden in Göttingen wieder, wo Bazivamo anfing zu studieren. Es war ihre letzte Begegnung. “Dieses Unausgesprochene: Du konntest den Tod meiner Familie nicht verhindern. Und es ist ja eine Tatsache: Ich konnte es nicht verhindern!”

“Thomas Magura hat das Äußerste getan, was machbar war”, sagt Sabine Kramer. Sie hat sich in Deutschland noch oft mit Bazivamo getroffen, immer wieder über Giciye gesprochen. Wenn sie beruflich in Ruanda ist, findet Bazivamo, der heute Vize-Präsident von Paul Kagames Partei RPF ist, immer einen Termin für sie. “Er hat uns nie den Hauch einer Schuld gegeben”, sagt Sabine Kramer. Sie schweigt. Nimmt einen Schluck Wasser. Dann sagt sie: “Aber möglicherweise hört er auch andere Stimmen in sich.”

*Name von der Redaktion geändert