Zeitenspiegel Reportagen

Aurich, aber wahr

Erschienen in "Brandeins", 04/2012

Von Autor Jan Rübel

Ein Unternehmen, das ungern Wind um sich macht. Und eine Stadt, die ihre Fahne in den Wind hängt. Die Geschichte einer sonderbaren Allianz.

Nein, seufzt der Pressesprecher am anderen Ende der Leitung, das könne er nicht beantworten. Ein Unwohlsein kriecht aus dem Telefonhörer. Man hatte ihn gefragt, ob sein Unternehmen Mitglied im Arbeitgeberverband sei. Und der Umsatz, die Fertigungstiefe oder die Zahl der Mitarbeiter am Firmensitz von Enercon? “Kein Kommentar”, lautet die Antwort. Die Werksbesichtigung müsse er übrigens absagen, ebenso wie das bereits vereinbarte Interview mit der Geschäftsführung, “tut mir leid”. Warum? “Kein Kommentar.”

Enercon entwickelt keine Atomsprengköpfe. Es stellt Windenergieanlagen her, und der Firmensitz liegt nicht in Pjöngjang, sondern im ostfriesischen Aurich. Das Unternehmen preist in Pressemitteilungen gern seine Nachhaltigkeit und den Einsatz für saubere Energien. Direkten Kontakt aber scheut es. Viel lieber, so scheint es, würde sich der Riese Enercon zu einem Zwerg machen, den man übersieht, oder gleich ganz unsichtbar werden. In Aurich ist das unmöglich. Selbst wenn man sich der Stadt von Süden her nähert, schiebt sich plötzlich ein Betonturm mächtig ins Blickfeld, der am anderen Ende der Stadt steht: Knapp 200 Meter hoch ist diese Windkraftanlage E-126. Sie ist derzeit die stärkste der Welt und das inoffzielle Wahrzeichen der Kleinstadt im äußersten Nordwesten Deutschlands mit ihren Pflasterstraßen und weiten Wiesen, die von jahrhundertealten Wallhecken in kleine Parzellen aufgeteilt sind.

Wie groß mutet dagegen der Tieflader auf der Gegenfahrbahn an! Der Verkehr ist seinetwegen zum Erliegen gekommen. Eine Polizei-Eskorte hat alle Autos auf den Grünstreifen geleitet, auf dem ein Mann wartend an seinen Wagen gelehnt steht und eine Zigarette raucht. “Willkommen in Enercon-City”, sagt er und schnippt seine Kippe ins Gras. Wie eine Riesenraupe schiebt sich der Konvoi mit Rotorflügeln auf der Ladefläche voran, überall prangt das Logo Enercon. “Die kommen jeden Tag hier um diese Zeit vorbei”, sagt der Mann und seufzt. “Ich habe heute wieder schlechtes Timing.”

Mehr als 8000 Ausnahmegenehmigungen für Schwertransporte erteilte die Stadt im vergangenen Jahr. 2001 waren es noch 809 gewesen. Bis heute haben die Auricher mehr als 19000 Windkraftanlagen installiert. Gut 13000 Angestellte beschäftigt das Unternehmen weltweit, davon geschätzt weit mehr als 3000 in der 40000-Einwohnerstadt Aurich, wo es kaum einen Arbeitsplatz gibt, der nicht irgendwie von den Windmachern abhängt. “Die Firma” nennen die Auricher das Unternehmen und den Unternehmensgründer Aloys Wobben nur “den Alten”. Viel wissen sie ja auch nicht über den größten privaten Arbeitgeber. “Die sind verschlossen wie eine Auster”, kommentiert Ralf Klöker, Chefredakteur der Lokalzeitung “Ostfriesische Nachrichten”, den Stil Enercons. “Der Konzern agiert vollkommen irrational.” Zur Internationalen Leitmesse Wind schickt Klöker jährlich neben einem Redakteur auch einen Praktikanten nach Hannover, damit der dort die Powerpoint-Präsentation Enercons mit einigen mageren Daten abfotografiert; das Unternehmen stellt sie nicht zur Verfügung. “Schickt sich das für eine Firma, die mit der großzügigen Subvention von Windstrom durch den Steuerzahler groß geworden ist?”, fragt er. “Das Unternehmen wächst explosionsartig. Vielleicht wird denen selbst ganz schwindlig dabei.”

Ein Klima des Misstrauens umgibt Enercon. Gibt es einmal eine der seltenen Werksbesichtigungen für Besuchergruppen, wird denen eingeschärft, den Arbeitern bloß keine Fragen zu stellen.

Aurichs verwinkelte Backsteinidylle zwängt sich zwischen zwei Industriegebiete. Sie werden stolz hergezeigt. Woanders verstecken sich Gewerbeflächen hinter neu gepflanzten Bäumen und Hecken; Aurich schert sich darum nicht. Enercon ist überall. In den Gewerbegebieten die Produktion, in der Stadt Verwaltung, Forschung und Planung - selbst Einfamilienhäuser mietet die Firma an, um ihre Ingenieure unterzubringen. Immerhin heuern jeden Monat geschätzt rund zwei Dutzend Leute neu bei Enercon an. Wie ein Spinnennetz legen sich die Firmenimmobilien über die Stadt. Neben der Hauptverwaltung, einem Klinkerneubau in Himbeerrot, stehen Wohncontainer als provisorische Arbeitsplätze. In der Fußgängerzone dominieren Blaumänner. Aurich, wegen seiner Landesbehörden und vielen Beamten der “Schreibtisch Ostfrieslands” genannt, erlebt Gründerjahre. Der einzige Motor ist Enercon.

Eigentlich sind die fetten Jahre der Windkraftbranche vorbei. Zwar traut ihr die Nationale Akademie der Wissenschaften in den USA zu, das 40-Fache des weltweiten Stromverbrauchs und das Fünffache des globalen Energieverbrauchs zu produzieren. Aber bis dahin ist es ein weiter Weg, und inzwischen drängeln sich immer mehr Anbieter um den Kuchen: Der Preisdruck nimmt zu. Große Anlagenbauer wie Nordex mussten jüngst gar Stellen abbauen, der Geschäftsbereich erneuerbare Energien von Siemens meldet Verluste. Zahlen verschweigt Enercon konsequent, aber steigende Marktanteile in Deutschland und mehr Exporte weisen darauf hin, dass das Unternehmen kräftig Kasse macht. Einen Hinweis auf die Firmenstruktur liefert der Informationsanbieter Databyte: Enercon wird von der UEE Holding GmbH gehalten, mit “Forbes”-Milliardär Aloys Wobben als Geschäftsführendem Gesellschafter. Die Holding thront über sechs GmbHs, die sich in rund fünf Dutzend weitere Gesellschaften aufteilen. Transparenz sieht anders aus. Immerhin weiß man: Enercons Windräder gehören zu den teuersten. Ihr Erfolgsrezept: Technologieführerschaft, umfassender Service und Dezentralität. Aloys Wobben, ein Bauernsohn und Elektroingenieur aus dem etwas südlicher gelegenen Emsland, hatte es nach Aurich nur deshalb verschlagen, weil seine Frau eine Lehrerstelle in der Kreisstadt annahm. Er ist ein Wertkonservativer, den die Ölkrise der Siebzigerjahre ebenso schockte wie das Waldsterben. Schon als Student verbiss er sich in die Erforschung erneuerbarer Energien. “Wir brauchen weder Atomkraft noch Kohle noch Erdgas”, soll er einmal gesagt haben. Wobben glaubte damals nicht nur an Wind als beste Energiequelle, er trieb die Entwicklung mit genialen Tüfteleien auch selbst an.

1984 gründete er Enercon, zusammen mit zwei Mitarbeitern arbeitete er in einer kleinen Garage an Windrädern. Einer von ihnen, Klaus Peters, ist heute Gesamtproduktionsleiter. Eine Tellerwäscherkarriere begann: Immer auf der Suche nach technisch überlegenen Lösungen, entwickelte Wobben 1984 den Wechselrichter. Der wandelte den Gleichstrom der Windräder in den für die Stromnetze notwendigen Wechselstrom um. Wenig später kam er auf die Idee eines getriebelosen Windrades, dann ließ er sich verstellbare Rotorblätter patentieren. Seine revolutionären Erfindungen machten Enercon in dieser Pionierphase zum Rolls-Royce unter den Windkraftfirmen; ihm und seinem kleinen Team gelang, womit noch heute Entwicklungsabteilungen großer Konzerne kämpfen. China? Offshore? Interessiert Wobben nicht

“Sie machen, was sie gut können”, sagt Po Wen Cheng, Inhaber der ersten Professur Deutschlands für Windenergieanlagen an der Universität Stuttgart. “Eine kontinuierliche Verbesserung ihrer Maschinen hat die Zuverlässigkeit stets erhöht.” In Aurich hat Wobben mittlerweile eine “Denkfabrik” hochgezogen, in der Ingenieure auch Projekte wie Entsalzungsanlagen, elektrisch betriebene Schiffe und Autos entwickeln. Selbst an einem Minihubschrauber versuchte sich Wobben einmal, entwarf einen Rußpartikelfilter für die eigene Lkw-Flotte und ließ ihn auch gleich einbauen.

All das kostet viel Geld. Wobben kann es sich leisten, denn er ist der Chef, und Shareholder Value ist sein schlimmster Albtraum. “Während des Aktienbooms um das Jahr 2000 herum blieb Enercon standhaft und sein eigener Herr”, sagt Hermann Albers, Präsident des Bundesverbands Windenergie e.V. “Heute sieht man, dass eine Kursabhängigkeit, wie sie andere börsennotierte Hersteller haben, kaum vorteilhaft ist.” Gewinne steckt Aloys Wobben lieber in die Forschung. Und in die Unabhängigkeit von Zulieferern: Mittlerweile stellt Enercon fast alle Bauteile seiner Anlagen selbst her, die Fertigungstiefe wurde schon vor vier Jahren auf mehr als 80 Prozent geschätzt.

Für die Zukunft sehen Experten das Unternehmen gut aufgestellt. “Kunden mit dem Wunsch nach Gewissheit in den Betriebskosten entscheiden sich für Enercon”, sagt Po Wen Cheng. Und Hermann Albers sekundiert: “Enercon entwickelte sich zu einer Qualitätsmarke. Viele Banken haben allein deswegen die Firma Investoren empfohlen.” Hinzu kommt, dass die Auricher als Erste an den Stromeinnahmen ihrer Kunden mitverdienten: Sie garantieren ihren Kunden 15 Betriebsjahre lang Wartung, Instandhaltung und Reparatur - und sichern sich im Gegenzug einen Anteil an den Renditen durch die Einspeisung. “Teilweise konnten nur so Anlagen gekauft werden”, sagt Thorsten Herdan, Energie-Experte des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagebau e.V. (VDMA). Zudem scheut Wobben riskante Märkte wie die USA und China sowie kostenintensive Offshore-Anlagen. “Niemand hat heute wirklich Freude an Offshore”, sagt Hermann Albers. Po Wen Cheng stimmt zu: “Selbst kleine Fehler schlagen dort in den Kosten viel stärker zu Buche als Onshore.” Und der chinesische Markt, so Thorsten Herdan, sei “schwierig”. Dort boomen vor allem inländische Anbieter. “Damit verzichtet Enercon auf die Hälfte des Weltmarktes, aber auch auf erhebliche Probleme.”

Aurichs Bürgermeister Heinz-Werner Windhorst umgarnt das Großunternehmen nach Kräften. “Wir haben den Übergang von einer reinen Administration zum Dienstleister geschafft”, sagt er stolz und betrachtet durch das Fenster im bienenwabenartigen Rathaus aus den Siebzigern mit Feldherrenblick einen fernen Punkt. “Hier gibt es keinen Muff alter Behörden. Wir haben das Tempo dem Bedarf der Wirtschaft angepasst.” Er unterschreibt eine Urkunde zur diamantenen Hochzeit, auf dem Kugelschreiber steht: Aurich - Stadt der regenerativen Energie. Windhorst erntet die Früchte seiner Vorgänger, die Aurich frühzeitig an die Firma banden. 1989, als noch kaum jemand vom Wind-Boom träumte, wagte der Enercon-Firmengründer Wobben bereits die Expansion: Raus aus der Garage, eine Produktionshalle musste her; damals setzte man die Windräder noch draußen unter einer Plane zusammen. Doch für den Bau fehlte das Geld. Die Ratsleute Aurichs vertrauten Wobben und gaben eine Ausbietungsgarantie, eine Art Bürgschaft in Millionenhöhe. Zumindest einige von ihnen: CDU und FDP waren damals dagegen und Teile der SPD auch. Die Mehrheit kam zustande, weil die Stadtverwaltung unwillige Sozialdemokraten davon überzeugte, der entscheidenden Sitzung des Verwaltungsausschusses fernzubleiben. “Wir haben einen Transmissionsriemen zur Politik geschaffen”, sagt der Erste Stadtrat Hardwig Kuiper, der Mann hinter Aurichs Wirtschaftspolitik. “Wir gingen zu Enercon und fragten die: ‘Was braucht ihr?’”

Kuiper, ein Mann mit Augenringen und freundlichem Blick, schaut in seinem Büro auf einen Bauplan und sagt: “2007 haben sich da noch Hase und Fuchs gute Nacht gesagt.” Heute erstrecken sich im Norden der Stadt rund hundert Hektar neues Industriegebiet, Enercon-Land. “Wir haben binnen zwei Jahren das Land von 80 Grundstückseigentümern aufgekauft”, sagt Hardwig Kuiper stolz. “Jetzt brauchen wir nur noch den Autobahnanschluss. Den brauchen wir unbedingt für Enercon.”

Auch über einen Personenbahnhof oder Regionalflughafen verfügt Aurich nicht. Es gäbe infrastrukturell besser ausgestattete Standorte für einen Industriekonzern. Dafür hat die Kleinstadt in der nordwestlichen Peripherie Politiker, die dem Unternehmer sämtliche Wünsche von den Lippen ablesen - und noch mehr. Ein Anruf bei Thilo Hoppe, dem grünen Bundestagsabgeordneten für Aurich in Berlin, der in der vergangenen Legislaturperiode dem Entwicklungsausschuss des Bundestags vorsaß. Er sagt: “Enercon wird bei der Diskussion um einen Autobahnanschluss instrumentalisiert.” Er habe mit der Geschäftsführung gesprochen. “Die setzen ganz auf die Bahn. Klar sagte man mir, dass die sich für die Autobahn nicht interessieren.”

Tatsächlich fährt seit 2008 wieder ein Güterzug mit Bauteilen durch Aurich zum 30 Kilometer entfernten Emder Hafen. Enercon hat zwei Millionen Euro in die seit 1967 stillgelegten Gleise investiert. Möglich, dass auch die Lokalpolitiker den Konzern benutzen, um ihre eigenen Interessen in Berlin durchzusetzen. Vorstellbar ist aber auch, dass Enercon Druck ausübt.

“Bei Enercon muss man Ausnahmen machen, das verstehe ich ja”, sagt Ulrich Kötting. “Aber es war immer ein enormer Zeitdruck. Zu Beginn bekamen wir manche Verwaltungsentscheidungen nur zur Kenntnis. Später konnten wir einige Vorlagen auch nur abnicken.” Er ist Amtsrichter und grüner Ratsherr. Auf einem Schreibtisch in seinem Büro liegen drei kniehohe Aktenstapel von der Staatsanwaltschaft. Er blickt aus dem mehr als 300 Jahre alten weißen Bau am Schlosspark. “Mehrfach mussten wir beim Industriegebiet beide Augen zudrücken.” Schließlich habe Enercon auf einen raschen Zeitplan gedrängt - und die Stadtverwaltung habe gewarnt, die Firma könne auch woanders hingehen. “Aber: Letztendlich ist der Aufstieg dieser Firma ein Segen.”

Noch in den Achtzigerjahren war Aurich eine Kommune in Not. Sie hatte sich im Nachkriegsdeutschland als verlängerte Werkbank in der Elektroindustrie versucht. Ein Job nach dem ande ren fiel mit dem großen Exodus nach Fernost weg, die Arbeitslosigkeit lag bei rund 20 Prozent. Heute sind es 8,4 Prozent. Mit dem Aufstieg Enercons kamen nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Steuern. Nahm die Stadt im Jahr 1980 gerade 4,77 Millionen Euro an Gewerbesteuern ein, waren es 2010 rund 107 Millionen Euro. 1995 saß die Kommune noch auf knapp 54 Millionen Euro Schulden. 2010 waren es 16,97 Millionen Euro, Tendenz stark fallend. Umso mutiger war die Entscheidung des klammen Auricher Rats von 1989, in Aloys Wobben zu investieren.

Heute profitiert die ganze Gegend davon. In Aurich entsteht ein großes Freizeitbad, die Feuerwehr erhielt einen modernen Fuhrpark, und die Stadt garantiert als eine der wenigen Kommunen Niedersachsens kostenlose Kindergartenplätze. Derweil bindet sich Aurich immer stärker an die Firma. Im vergangenen Jahr beschloss der Rat, die Gas- und Stromnetze des lokalen Energieversorgers EWE zu kaufen. EWE fordert aktuell 66 Millionen Euro für das Netz. Aurich setzt auf regenerative Energie; schon längst decken allein die Windräder im Stadtgebiet den Gesamtstrombedarf. Doch hinter den Kulissen laufen bereits die Verhandlungen, ein Paket von 49 Prozent der neuen Auricher Stadtwerke an Enercon weiterzureichen. Die EWE ist ein rein kommunales Unternehmen. Statt der Stadtwerke würde die Energieversorgung mit diesem Schritt privatisiert, zu einer “geschlossenen Gesellschaft”, wie die “Ostfriesische Nachrichten” schreibt. Im Industriegebiet Nord klammern sich drei Hochkräne an einen Rohbau, 500 Meter lang und 30 Meter hoch: für die Rotorblattfertigung, weiträumig abgesperrt. Ein kurzer Halt beim davor liegenden Lagerplatz von 50 Rotorflügeln für den Anlagetyp E-82, und schon springen Wachschutzmitarbeiter herbei: “Fotografieren verboten!”, bellt einer. Die Geheimniskrämerei hat einen ernsten Hintergrund. Das US-Unternehmen Kenetech ließ in den Neunzigerjahren Enercon wegen angeblicher Patentverletzung gerichtlich verbieten, seine Anlagen in den USA zu errichten. Recherchen ergaben damals, dass wohl der US-Nachrichtendienst NSA über sein Abhörsystem Echelon Datenleitungen von Enercon anzapfte, Konferenzen abhörte und die Informationen Kenetech übergab. Spione von Kenetech forschten daraufhin in Deutschland heimlich eine Anlage aus. Enercon schweigt heute zur Affäre. Genauso wie zu den Gerüchten, dass als Reaktion auf den Datenklau in Aurich unterirdisch kilometerweise Kabel zum Schutz der Enercon-internen Kommunikation gelegt worden seien. Seit 2010 dürfte Enercon auf den US-Markt. Will aber nicht. Stattdessen expandieren die Ostfriesen in Kanada mit einem eigenen Fertigteilbetonturmwerk.

Um die Innenstadt Aurichs herum herrscht Bauboom. Die alten Siedlungsstrukturen zerfasern. Noch einmal Thilo Hoppe am Telefon, der Grüne in Berlin: “Aurich wirbt mit dem Slogan ‘Dort wohnen, wo andere Urlaub machen’ - dann darf aber nicht alles zugebaut werden.” Die Stadt sei expansionssüchtig. “Der Kampf der Kommunen um die Gewerbesteuer führt zu lokalen Egoismen, das verhindert ein gemeinsames Denken”, bilanziert er. Klar solle Enercon wachsen. “Aber warum denkt man da nicht regional?” Die Gemeinde Ihlow im Landkreis Aurich zum Beispiel verfügt über Platz und Autobahnanschluss, bot den Aurichern ein interkommunales Gewerbegebiet samt Aufteilung der Gewerbesteuern an. Das Projekt versandete. Und im nahen Emden stehen Bahnhof und Hafen vor der Haustür.

Die Symbiose von Aurich und Enercon scheint total. Es gibt ja auch viele Gemeinsamkeiten: Wobben setzte mit seinen Windrädern von Beginn an auf dezentrale Erzeugung von Strom, dort, wo man ihn verbraucht. Und Aurich agiert ähnlich dezentral, in der Behördenstadt gibt es zahlreiche Landesbehörden; das verkürzt die Laufwege und beschleunigt Entscheidungen.

In einer Kneipe kommt es doch noch zu einem Gespräch mit Enercon-Mitarbeitern. “Ich kenne vor allem Kollegen, die trifft man überall hier”, sagt Wolfgang Seyfried*. Er ist aus einem anderen Bundesland nach Aurich gezogen. “Kontakt mit Einheimischen habe ich kaum”, aber die Stadt wachse halt sehr schnell. “Enercon ist sehr patriarchalisch und familiär zugleich strukturiert”, sagt Stefan Henke*, der mittlerweile woanders arbeitet. Er dreht sich eine Zigarette. Seyfried gibt sich kritisch: “Dabei müssen bei dem Wachstum neue Strukturen geschaffen werden.” Früher habe es flache Hierarchien und spontan schnelle Beschlüsse gegeben. “Der Alte entscheidet eh alles.” Doch heute sei die Befehlskette zu lang, “ich habe Schwierigkeiten zu erkennen, wer mein Ansprechpartner ist”.

Hinzu komme eine Abschottungspolitik. “Der Alte hasst Gewerkschaften und Betriebsräte”, sagt Henke. “Als 1999 in einer GmbH der 301. Mitarbeiter anheuerte, wurde eine neue GmbH gegründet - um einen freigestellten Betriebsrat zu verhindern.” Als einmal Gewerkschafter ihren Besuch angekündigt hätten, habe Wobben persönlich das Werkstor verschlossen und sich davorgestellt. “Er muss alles kontrollieren, er fürchtet Einfluss von außen”, mutmaßt Seyfried.

“Ein Volkswagen-Arbeiter am Band in Emden verdient mehr als ein Enercon-Ingenieur”, sagt Henke. Zahlen gibt es nicht. Ursula Wentingmann von der IG Metall Leer-Papenburg aber schätzt aus Einzelfällen, dass Facharbeiter fünf Euro unter dem Tarifstundenlohn bei Metall/Elektro verdienen, Leiharbeiter noch weniger. “Bei den Enercon-Produktionskräften in Aurich schätzen wir den Anteil von Leiharbeitern auf ein Drittel”, sagt sie. Wolfgang Seyfried fügt hinzu: “Ich kenne Leiharbeiter, die werden seit vier Jahren mit der Aussicht auf eine Festanstellung vertröstet.”

Enercon hat sich trotz Nachfrage zu seiner Haltung hinsichtlich Gewerkschaften und Leiharbeitern gegenüber brandeins nicht geäußert. Auch in der Auricher Verwaltung mag keiner offene Fragen beantworten. Es ist wie in einer guten Partnerschaft alten Stils: Die Probleme bleiben unterm Deckel und werden untereinander gelöst. -

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