Zeitenspiegel Reportagen

Bei den Pionieren der sozialen Milchwirtschaft

Erschienen in "Berliner Zeitung Magazin", 13./14. September 2014

Von Autor Jan Rübel

Das Etikett „Lobetaler Bio“ kennt jeder, der im Supermarkt einkauft. Weniger bekannt ist, dass die Produkte von Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam hergestellt werden. Eine Erfolgsgeschichte aus Brandenburg.

Ein Mann steht vor einem Wagen, mit verengten Augen mustert er die 8500 Liter Rohmilch darin. Er zückt einen Glaskolben, füllt eine fingergroße Probe ab. „Malsehen, ob der Fettgehalt stimmt“, murmelt er. Eine uralte Methode wendet man in der Lobetaler Bio-Molkerei an, hier in Biesenthal, 40 Kilometer nordöstlich von Berlin: In seinem Labor, vor dem der Milchtankwagen parkt, schüttet der Mann Schwefelsäure und Alkohol zum Weiß ins Glas. Knapp zehn Minuten lang röhrt eine Zentrifuge, dann liegen Fett und Wasser fein getrennt im Kolben übereinander. „Alles klar“, sagt Molkereimeister Dirk Metzer, 40, die Werte sind in Ordnung, er eilt zurück zum Wagen. Ein Handdruck, und durch einen armdicken Schlauch fließt die Milch in einen Tank.

Im Labor trennt dieser zwei Handlängen große Butyrometer-Kolben die Stoffe genau. Das Team der Molkerei aber lässt sich weniger gut auseinander dividieren. 21 Beschäftigte mit Behinderungen arbeiten hier mit sieben ohne Beeinträchtigungen. Wer zu welcher Gruppe „gehört“, erschließt sich nicht. Jeder packt an nach seinen individuellen Fähigkeiten, wie bei einem Uhrwerk greift man zu. Heraus kommen Jogurts, Sahne, Dickmilch, Ayran und Käse – Qualitätsprodukte, die ihren Absatz auf den Biomärkten der Hauptstadt finden. Die Mitarbeiter hier nennen ihren Job: „soziale Milchwirtschaft“.

Zur Spätschicht tritt gerade Daniel Fritz an. In der Umkleidekabine schlüpft er in eine weiße Latzhose und zieht sich eine Plastikhaube übers Haar. Dann noch geschwind zur Hygieneschleuse, wo die Schuhe mit einer Seifenlösung eingesprüht werden, die Hände am Becken waschen und desinfizieren – los geht es. Daniel Fritz, 24, steuert die Jogurtabfüllanlage an, der Dauerrenner Mango steht heute auf der Agenda. Er schiebt einen Turm leerer Plastikbecher in die Maschine, die einzeln von einem Greifarm in 16 Löcher gesetzt werden und einen Kreis ziehen. Sie nähern sich der Spritze, ein Knopfdruck von Jessica Linke, und der gelbe Jogurt fließt in einen Becher, dann in den nächsten. „Persönlich esse ich ja lieber Schokopudding“, lacht sie. „Unseren Jogurt müssen wir ja auch ständig testen, da hat man dann daheim genug davon.“

In dieser Mannschaft hat jeder seine Geschichte. Da werkelt einer mit Down-Syndrom neben einem mit schwerer Schizophrenie. Auch Beschäftigte mit Asperger schaffen hier; ein anderer hat sich das Gehirn krank gesoffen und kann sich nichts mehr merken. Im Jahr verarbeiten sie 1,6 Millionen Kilogramm Milch – Tendenz steigend. Denn mit ihren hochwertigen Produkten kommen sie am Markt an. Die Lobetaler Bio-Molkerei schreibt gerade eine Erfolgsgeschichte.

Begonnen hatte alles mit einer Krise. Die Hoffnungstaler Werkstätten bewirtschaften seit 1904 große Ländereien. Als die Milchpreiskrise vor zehn Jahren durchschlug, suchte man nach einem Ausweg aus der Misere. In einer Sauna schließlich traf ein Geschäftsführer zufällig einen Molkereimeister, man unterhielt sich – und schmiedete einen Plan. Bio sollte es sein, mit Produkten der Extraklasse, welche die hohen Ansprüche der Kunden in Berlin erfüllen. „’Highend’ sollten die Erzeugnisse auch deshalb sein, damit alle Mitarbeiter stolz auf das Erbrachte sind“, erinnert sich Beatrix Waldmann, Geschäftsführerin. Die 50-Jährige schaut gerade auf einen Jogurt vorbei. „Wir wollten ein Qualitätskriterium schaffen, kein Mitleidskriterium.“

Der Weg dorthin war nicht leicht. Nach einer Marktanalyse stellten die Bauernhöfe der Werkstätten zwischen 2008 und 2010 auf ökologische Bewirtschaftung um, man baute auch sein eigenes Futter für die Kühe an. Währenddessen errichteten die Werkstättler die Molkerei: der dreieinhalb Millionen Euro teure Bau wurde mit 500.000 Euro aus der Wirtschaftsförderung des Landes Brandenburg bezuschusst, der Rest lief über Kredit. Dann startete 2010 die Produktion von zertifizierter Biomilch. „In diesem Jahr kommen wir in die Gewinnzone“, sagt Beatrix Waldmann. 800 Menschen mit Beeinträchtigungen bilden die Hoffnungstaler Werkstätten. Alle zwei Jahre gelingt es einem von ihnen in den Arbeitsmarkt „da draußen“. Mit der Molkerei schaffen sie sich nun ihre Jobs selbst.

„Das ist ein gutes Gefühl, den Jogurt und den Käse im Supermarktregal zu sehen“, sagt Daniel Fritz. Gemeinsam mit Sören Lukaszewski, 40, macht sich der 24-Jährige an die Spritzanlage. Die Tagesproduktion, genau nach Auftragslage, ist vollbracht. Nun muss alles gründlich gereinigt werden. Mit Schlüsseln lösen sie die Schrauben, nehmen die Formatteile einzeln auseinander und legen sie in eine weiße Plastikwanne, schon kommt Jessica Linke mit einem Wasserschlauch und verteilt Bürsten. „Alles muss händisch gereinigt werden“, sagt Sören Lukaszewski und beginnt zu schrubben. Sauberkeit ist wichtigstes Kriterium in der Molkerei mit ihren hunderte Meter langen Rohren an der Decke, durch die Milch in verschiedenen Temperaturen fließt. Fünf Meter entfernt stapeln Mitarbeiter die Jogurts in Paletten und bringen sie in die gekühlte Lagerhalle; bald wird ein Lastwagen aus Berlin kommen und die frische Ware in Empfang nehmen. Bis dahin werden die Milch-Arbeiter die Etikette auf den Bechern sorgsam untersucht haben und die nächsten Bestellungen durchgegangen sein. „Wir arbeiten im Schichtbetrieb“, sagt Dirk Metzer, er ist der Vize-Leiter der Molkerei. „Die Nebenkosten bleiben immer gleich, da ist es schon unser Ziel, die Produktion hochzufahen.“ Was den Lobetalern wohl gelingen wird. Dieses Jahr will man auf eine Verarbeitung von 1,6 Millionen Kilogramm Milch kommen. „Würden hier nur Leute ohne Behinderung arbeiten, könnte man doppelt so viel produzieren, aber warum? Wir erschließen gerade den Markt – und nutzen unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten optimal aus.“ Ganz wichtig für Dirk Metzer: Dass die Beschäftigten den Stress nicht spüren, dass nicht gehetzt wird. Die Arbeit müsse durchgezogen werden, sagt er, aber bei Druck würde so mancher innerlich blockieren. „Wir müssen den so genannten ‚Flow’ im Arbeitsrhythmus erreichen – dann schaffen wir am besten.“ Und so ist es bei jeder anderen Firma auch. „Wir werden halt unterschätzt“, resümiert Daniel Fritz. „Dabei könnten andere Unternehmen mehr Behinderte einstellen. Es müsste nur mehr Hand- und weniger Maschinenarbeit geben.“

Draußen steht die Nachmittagssonne noch hoch, als die Mitarbeiter in ihren Gummistiefeln zur Umkleide streben, über gerade frisch geschrubbtem Boden. Für heute ist man fertig. Der Jogurt ist abgefüllt, die Lieferwagen mit der Ware haben das Dorf in Richtung Berlin verlassen. Nur im Büro flimmern noch die Computer, wird die Zukunft geplant; im Sommer soll ein Auszubildender in der Molkerei anfangen. Drinnen, in einem abgeschlossenen Raum, reifen in einem Regal Dutzende Laibe von Camenbert.