Zeitenspiegel Reportagen

Bis kein Tod euch scheidet

Erschienen in "sonntag aktuell", 25. November 2007

Von Autor Jan Rübel

Immer mehr Muslime wollen in Stuttgart auf dem Hauptfriedhof begraben werden. Die Folge: fremde Begräbnisrituale und Zeremonien. Ein portugiesischer Totengräber und sein Alltag.

Die ewige Ruhe auf dem Hauptfriedhof in Stuttgart dauert 15 Jahre. Jäh stößt eine Schaufel in die verbrauchte Erde. Mit der rechten Hand am Hebel steuert José Ernesto Dexeira Paco seinen Mini-Bagger, lässt ihn tief in den Lehmboden graben, bis der metallene Greifarm an etwas schabt. Der Sarg. “Das morchelt gleich ein bisschen”, sagt Paco, 49. Er springt von der Maschine, hinein in das Grab und reicht morsches Holz nach oben. Bittersüßer Fäulnisduft steigt auf.

Eine Graböffnung kurz nach sieben in der Früh. Dann noch eine und nach der Brotzeit eine weitere – das ist der Arbeitsvormittag eines Totengräbers. Ewig unberührt darf hier keiner unter der Erde bleiben. Gestorben wird schließlich immer; der Platz ist knapp, und der feuchte Stuttgarter Lehmboden konserviert seine Toten eher, als dass er sie schluckt. So hebt Paco behutsam die Leiche, an der noch Haar hängt und Haut, aus dem Grab heraus ans Tageslicht. Dann gräbt er einen halben Meter tiefer und bettet den Leichnam wieder ins Grabesdunkel, schafft Platz für einen neuen Gestorbenen. Morgen soll dieser darüber seine Heimstatt finden.

40 Fußballfelder ist der Hauptfriedhof von Stuttgart groß. 15.000 Tote liegen hier, im Schnitt kommen jeden Tag zwei hinzu. Neben den Christen liegen die Juden auf einem eigenen Gräberfeld, auch Armenier und die Diakonissen haben ihre eigene Anlage – und die Muslime. Deren Gräberfeld wächst am schnellsten von allen. “Wir planen längst die Ausweitung der muslimischen Grabanlagen”, heißt es bei der Stadtverwaltung. “Wir gehen davon aus, dass sich künftig immer mehr Muslime in Stuttgart begraben lassen.”

Ewiges Grab

Muslime, das sind vor allem jene türkischen Einwanderer, die man einmal “Gastarbeiter” nannte. In den 1960ern zu Tausenden nach Deutschland geholt, zunächst für ein paar Jahre, aber dann fanden doch viele von ihnen hier ihre Heimat. Begraben werden wollen die meisten Türken in Deutschland aber nach wie vor nicht; über 90 Prozent ihrer Toten finden die letzte Ruhe in der Türkei. Dort währen, wie im Islam vorgeschrieben, die Gräber ewig und kosten samt Überführung in einem Flugzeug auch weniger als eine Bestattung in Deutschland. Und da ist noch dieses unbestimmte Gefühl in der ersten Einwanderergeneration, nach dem Tod in die Erde ihres Geburtslandes zurückzuwollen. 35.000 Muslime leben in Stuttgart. Bei einer üblichen Todesrate von einem Prozent verlassen rund 330 Leichname jedes Jahr die Landeshauptstadt gen Bosporus. Doch die Bindung zur Türkei nimmt ab, von Generation zu Generation. Im Schnitt werden heute schon jährlich 20 Muslime auf dem Hauptfriedhof bestattet. Türkische Gemeinden und die Stuttgarter Behörden nehmen wahr, dass sich viele der jungen Deutschtürken ihr eigenes Grab in Deutschland vorstellen. Es ist vielleicht der stärkste Ausdruck ihrer fortschreitenden Integration. Paco, einer der Dienstältesten auf dem Friedhof, hat die muslimischen Bestattungen, die es seit 1986 in Stuttgart gibt, von Anfang an mit begleitet.

“Die Begräbnisse von Muslimen gefallen mir”, sagt er. Dem Totengräber würden die Trauergäste einige Arbeit abnehmen: Den Sarg tragen sie selbst, das Grab schaufeln sie ganz mit Erde zu, und überhaupt herrsche bei solchen Zeremonien eine Stimmung, die viel entspannter und ernster zugleich sei als sonst. “Bei den deutschen Grablegungen ist es so”, sagt Paco und wischt sich mit dem Ärmel seiner grünen Arbeitsjacke Schweiß von der Stirn, “der Einzige, der schwätzt, ist der Pfarrer.” Im Islam ist der Tod dem Leben gleichgestellt, er gilt nur als Ortswechsel von einer vergänglichen Welt in eine beständige. Pomp und überschwängliche Trauer sind daher unter Muslimen verpönt. Die Besinnung auf Gott steht im Vordergrund. Und überhaupt reden Türken wohl mehr als Deutsche, auch bei Grabfeiern. Paco sagt, das sei gut. “Den Leuten fällt der Abschied leichter.” Die Trauernden reden sogar mit dem Toten. Sie prägen ihm noch einmal das islamische Glaubensbekenntnis ein, damit er sich an seine Worte erinnert; zwei Engel nämlich werden ihn bald im Jenseits befragen, so lehrt es der Volksislam: Wer ist dein Gott? Wer ist dein Prophet? Nur wer in rechter Weise antwortet, gelangt über eine Brücke, die ist schärfer als ein Schwert und dünner als ein Haar.

Grab in Richtung Südost

Paco kam 1983 nach Deutschland; er wollte einen Job. Wenige Monate später fand sich der Portugiese auf dem Friedhof wieder. Der 1,70-Meter-Mann nahm eine Arbeit an, die Deutsche ungern verrichteten, er wohnte im einstöckigen Holzhaus auf dem Gelände, zusammen mit Türken und Italienern. Den Friedhof verließ er damals selten. 1993 bezog er mit Ehefrau und zwei Töchtern eine Wohnung jenseits des Haupteingangs. Brotzeit und Mittagspause teilt er aber weiterhin mit seinen Kollegen. Irgendwie hält der Friedhof nicht nur die Toten zusammen.

Es ist neun, im Pausenhaus drängen sich die Friedhofsangestellten. Paco sitzt an einem langen Holztisch, vor ihm Chorizowurst und Oliven, Brot und ein alkoholfreies Bier. Man prostet sich zu, erzählt Witze und lacht. Draußen erscheinen erste Friedhofsbesucher; nach dem Haupteingang eilen sie zielstrebig in verschiedene Richtungen, verlangsamen ihren Gang allmählich und stehen dann, an einem Grab angekommen, ganz still. “Wir nennen uns Totengräber”, sagt Paco, “weil wir stolz auf unseren Beruf sind. Wir begraben die Toten. Das ist ein besonderer Dienst.” Er spricht von seinem Beruf würdevoll, nahezu zärtlich.

Paco hilft den Toten: zum Beispiel einem Muslim zur richtigen Stellung, nämlich auf der rechten Seite liegend, den Kopf nach Südost. Die exakte Himmelsrichtung ist wichtig. Wenn am Tag der Auferstehung, den die Christen das Jüngste Gericht nennen, alle Lebenden ihre Gebete gen Mekka richten sollen, dann müssen auch die Toten in diese Richtung beten. Gerne erinnert sich Paco an den Hodscha, mit dem er am offenen Grab vor versammelter Gemeinde über die Lage des Sarges stritt. Der islamische Prediger meinte, der Sarg müsse umgedreht werden, um tatsächlich in Richtung Mekka zu weisen. Paco widersprach – und wusste es besser. Am Ende beugte sich der Hodscha. Oder als einmal ein anderer Geistlicher von den Sargträgern mitten im Winter verlangte, sie sollten die Schuhe ausziehen. Keiner der muslimischen Trauergäste hatte von dieser Sitte gehört. Eine lebhafte Debatte brandete auf. Die Schuhe zog schließlich keiner aus. “Man weiß vorher nie, wie eine Bestattung verläuft”, sagt Paco. “Unsere Aufgabe ist es, den Trauernden so weit wie möglich entgegenzukommen.”

Islamische Tradition und deutsche Friedhofsgesetzgebung prallen zuweilen aufeinander. Aber die Stadtverwaltung hat gelernt, mit den Muslimen Kompromisse zu suchen. So sind die Stätten auf dem Gräberfeld für Muslime gleich in der notwendigen Nordwest-Südost-Position angelegt. Während der Islam eine zügige Beerdigung anmahnt, am besten noch am Todestag, verlangen deutsche Behörden eine Frist von mindestens 48 Stunden – um sicherzugehen, dass der Tote auch wirklich tot ist. Muslime können nun eine Sondergenehmigung für frühere Beerdigungen beantragen. Noch verbietet das Land Baden-Württemberg Bestattungen nur im Leintuch, wie im Islam üblich und mittlerweile in neun von 16 Bundesländern auch möglich. Doch ist bereits geplant, den Sargzwang aufzugeben. Und da schließlich die Grabesruhe für Muslime ewig gelten soll, legen die Stuttgarter Totengräber muslimische Gräber gleich tiefer als gewohnt an, um die Leichname ohne wirkliche Graböffnung zu stapeln; die dafür vorgesehene Sondergebühr entfällt. Natürlich können Muslime das Nutzungsrecht für ein Grab auch “für ewig” erwerben, wenn sie immer wieder dafür bezahlen. Geschehen ist das in Stuttgart aber bisher nicht. Dafür ist die Geschichte der Muslime hier noch zu jung.

Gestorben wird schließlich immer

Als Riad Ghalaini 1957 nach Deutschland kam, war er der zweite Muslim überhaupt, der damals in Stuttgart wohnte. “Man sah in mir einen Exoten”, erinnert er sich, “ich war eine wandelnde Attraktion.” Unter seinem Schritt knirschen Kies und grüne Nadeln. Die Luft riecht nach Harz. Jenseits der Kiefernallee wachsen marmorne Steine aus dem Boden, davor Steckvasen mit welken Blumen, Kerzen, Stiefmütterchen und Geranien, umzäunt von handbreit hohen Hecken aus Efeu. Das Gräberfeld der Muslime.

Ghalainis Blick schweift über die Anlage. Gerne komme er hierher, sagt er, zum Ausspannen. Und da sei diese Ruhe. “Das hier sieht aber eher unislamisch aus”, sagt er und lächelt über die Verspieltheit seiner Glaubensgeschwister: Ein Ägypter hat sich eine Pyramide als Grabstein hauen lassen, andere Marmorplatten zieren Fotos oder Putten. An der Stätte eines zu früh Verstorbenen liegen vom Wetter gegerbte Boxhandschuhe. “Diese Gräber sind viel gepflegter als in islamischen Ländern üblich”, sagt Ghalaini. Eigentlich sollten Gräber bleiben, wie sie seien, ohne Schmuck und Zierde. Diese hier wirken – deutsch.

“Ich bin mittlerweile mehr Deutscher als Libanese”, sagt Ghalaini. Als Student für Bauwesen, geboren und aufgewachsen in Tripolis, fand er Ende der 1950er-Jahre in Stuttgart keine Gemeinde, also auch keine Moschee. Er blieb allein mit seinem Glauben. Dann kamen die “Gastarbeiter”, Ghalaini gründete mit ihnen Gotteshäuser, machte sich selbständig mit einer Baufirma. Er wurde schließlich Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Baden-Württemberg. Auch das islamische Gräberfeld des Hauptfriedhofs hatte er mit initiiert. Mancher Weggefährte liege hier unter der Erde, sagt er. Und irgendwann werde auch er selbst hier liegen. Ghalaini ist klein, auch seine Augen sind klein; sie strahlen schwarz auf der hellen Haut. Oft stampft er mit dem Fuß auf. Sein jüngstes Projekt: der “Würde-Verein für Hospiz und Bestattung” in Stuttgart. Das Verfahren für den Eintrag ins Vereinsregister läuft noch. Der Zusammenschluss will alleinstehende Muslime beim Sterben begleiten und in den Gemeinden für Bestattungen in Stuttgart werben. “Wer hätte vor zehn Jahren daran gedacht?” Es ist ein Bekenntnis zu Stuttgart. Seiner Stadt. Aber noch immer schwanken die Gefühle.

Da sei zum einen die schwäbische Gemütlichkeit, sagt er, das gefalle ihm. Auch der singende Dialekt der Leute, der ihn so an seine eigene libanesische Tonart erinnere. Und nicht zuletzt die Offenheit gegenüber Einwanderern, die größer sei als in anderen deutschen Städten.

Zum anderen aber fühle er eine wachsende Kälte, nicht gegenüber Ausländern, nein, sondern gegen Symbole seiner Religion. “Vielleicht brauchen die Deutschen ein Feindbild”, sagt Ghalaini. Seit der Kommunismus dazu nicht mehr tauge und Einwanderer längst das Alltagsbild in Deutschland prägen, kristallisiere sich die Religion als Trennungsmerkmal heraus. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA und die Ermordung des holländischen Filmemachers Theo van Gogh im November 2004 hätten eine fragwürdige Gedankenkette in Gang gesetzt: “Türken oder Araber werden zu Muslimen. Muslime werden zu Islamisten. Islamisten werden zu Terroristen.”

Die Folgen solcher Gleichmacherei spürt Ghalaini im Alltag. Seit einiger Zeit wird seine Ehefrau auf der Straße wegen ihres Kopftuchs angepöbelt. Jede Woche liegt mindestens ein Drohbrief gegen Muslime im Familienbriefkasten. Und Ghalaini, der Islam-Funktionär, ist es müde, sich ständig von Fanatismus und Terrorismus distanzieren zu müssen.

Es ist kurz vor zwölf. Die vorher fahle Sonne taucht den Hauptfriedhof nun in warmes Gold. Während Ghalaini zum Ausgang schlendert, öffnet Paco die oberen Knöpfe seines blauen Hemds und stützt sich auf einen Spaten. Drei Gräber bis zur Mittagspause – das Soll ist erfüllt. Gestorben wird schließlich immer, und besonders häufig jetzt. Im Frühsommer raffen die Alten unter den Einwanderern noch einmal ihre Kräfte zusammen, hoffen auf den jährlichen Sonnenurlaub dort, wo sie einst geboren wurden. Aber dann, nach der Rückkehr nach Deutschland im Herbst, inmitten seiner satten Farben und des Verblassens eines Ziels, da klopft der Tod.