Zeitenspiegel Reportagen

Briefe einer Fremden

Erschienen als Serie in der "FAS", November/Dezember 2013. Fotos: Kathrin Harms

Von Autor Markus Wanzeck

Ein paar Zeilen, und eine junge Frau aus dem Münsterland weiß, dass ihre Vergangenheit ein Märchen war. Sie ist kein Waisenkind. Ihre Mutter in Nepal lebt noch. Die Geschichte einer Erschütterung.

Nicht einmal der Klang ihres Namens ist Dayita geblieben. Sie weiß nicht mehr, wann sie geboren wurde und wer sie ist. Es ist ein lauer, dämmriger Spätsommerabend, an dem alles um sie zu wanken beginnt. Dayita steht vor einem Kiosk aus blauem, verbeultem Blech. Der Kiosk wackelt, der lehmige Boden wankt, die ganze Stadt schaukelt. Menschen schreien. Dann wird es dunkel.

Früher waren es die anderen, denen Dayitas Lebensgeschichte fragwürdig schien. Freunde der Familie. Klassenkameraden. Manchmal auch Passanten. Schließlich sieht sie anders aus als ihre Eltern, anders als die meisten Menschen im Münsterland. Sprachen Neugierige Dayita auf ihre dunkle Hautfarbe an, erzählte sie, was ihre Eltern ihr erzählt hatten, meist die Kurzversion: „Ich bin Waise, wurde als kleines Kind aus Nepal adoptiert. Meine deutsche Mutter hatte dort in einem Lepra-Hospital mitgeholfen und so meine leibliche Mutter getroffen. Diese bat sie, weil sie bald sterben würde, mich nach Deutschland mitzunehmen.“

Ihr Herkunftsland war Dayita nie Heimat gewesen. Nepal war fern, bunt, abenteuerlich. Schneebedeckte Berge, atemberaubend hoch, „Dach der Welt“ – ab und an zeigten ihr die Eltern Bildbände.

Dayita verbrachte ihre Kindheit im Flachland. In einem doppelstöckigen Backsteinhaus mit großem Garten, einer Garage für den Audi A8 und einer zweiten für den Geländewagen. In die Berge fuhr die Familie nur zum Skifahren. Der Vater fotografierte die Tochter bei den ersten Fahrversuchen fürs Familienalbum. Dort zeigen noch viele anderen Bilder ein glückliches Mädchen: Dayita am Klavier. Dayita samt Eltern auf Kutschfahrt. Dayita, wie sie strahlend eine Schultüte hält, „Mein erster Schultag“. Eintritt in den örtlichen Tennisclub. Strandurlaube in Thailand.

Dayita wuchs wohlhabend und wohlbehütet auf, wie eine Prinzessin, die zum Schutz vor der bösen Welt in ein Schloss gesperrt wird. Wollte Dayita Freunde treffen, hatte sie einen Tag vorher die Erlaubnis der Eltern einzuholen.

In der zehnten Klasse kam sie auf das Internat Schloss Salem. Es sieht sich als weltlichen Orden, diktiert einen eng getakteten Tagesablauf mit Putzdienst und Bettzeit. 2500 Euro Schulgebühr pro Monat. Für Dayita war Salem eine Befreiung. Eine Ahnung von Eigenständigkeit.

Sie teilte sich ein Zimmer mit einer Mitschülerin. Zwei Betten, zwei Schränke, zwei Tische, zwei Stühle. Alle zwei Jahre frisches Weiß für die Wände, ein großes Fenster mit Seeblick. Es war Herbst, das Abitur stand bevor, als Dayitas Leben, wie sie es kannte, endete.

Sie kehrte aus den Ferien ins Internat zurück. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Brief. Das Schreiben war aufgegeben in München, vom Suchdienst des Roten Kreuzes, Aktenzeichen I/11/NP-PAR.NP, 15.10.: „Durch das Nepalesische Rote Kreuz ist eine Suchanfrage von Ihrer leiblichen Mutter, Rajkumari Pariyar, bei uns eingegangen.“ Ob Dayita mit einer Kontaktaufnahme einverstanden sei.

Mit freundlichen Grüßen.

Dayitas Gedanken flogen durcheinander.

Meine Mutter ist doch lange tot! Sie lebt! Meine Adoptiveltern werden ihre Gründe haben, dachte sie. Sie müssen! Und zwar verdammt gute!

Sie meinen es bestimmt gut mit mir.

Seit wann sind Lügen etwas Gutes?

Sie dachte: Ich liebe meine Eltern.

Sie steckte den Brief weg. Den Eltern erzählte sie nichts. Aber sie bat das Rote Kreuz, den Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter herzustellen.

Hatte sie sich je so allein gefühlt? Dayita konnte ihren Eltern nichts von den Briefen erzählen, die in den nächsten Wochen und Monaten aus Nepal eintrafen. Geheimnis stand nun gegen Geheimnis. Es war ein schmerzendes Gleichgewicht, in das sich ihr Leben eingependelt hatte. Aber ein Gleichgewicht, immerhin. Der zweite Brief aus Nepal kam im November. Ihm war ein Foto beigelegt: Fünf Fremde vor einem Tempel. Dayitas Familie. „Du hast zwei kleine Schwestern und einen kleinen Bruder. Der Gesundheitszustand deines Vaters ist instabil.“ Womöglich bleibe nicht mehr viel Zeit.

Rajkumari liebe sie, stand in einem der Briefe. Liebe ich sie auch?, fragte sich Dayita. Ich kenne sie doch nicht. Und: Wenn ihre Mutter sie so liebte, warum hatte sie sie dann weggegeben?

Einmal schickte Dayita ein Foto von sich mit, ein Bewerbungsbild, freundliches Lächeln, weiß-blau gestreifte Bluse, die Haare gescheitelt und hinter die Ohren gekämmt. Rajkumari ließ das Foto in Katmandu vergrößern. Lebensgroß. Sie hängte es in ihr Zuhause, eine Baracke aus Bambusrohren, Wellblech und Backsteinen nahe des Pashupatinath-Tempels, heiligster Ort Nepals, wo die Hindus ihre Toten verbrennen und dem Fluss Bagmati überantworten.

Ein Jahr später bekam Dayita einen Brief aus Katmandu, der mit Freundlichkeitsfloskeln begann, wie stets, und mit den Worten endete: „Dein Vater hatte verschiedene Krankheiten. Er starb am 6. September.“

Mein Vater ist tot, dachte Dayita. Wieder. Der Entschluss war gefallen. Sie würde nach Nepal reisen. Sollte sie mit ihren Eltern darüber sprechen? Sollte sie weiter schweigen und heimlich fahren?

Es vergingen Monate, dann schrieb Dayita einen Brief, neun Seiten lang. Bei einer gemeinsamen Autofahrt mit den Eltern ließ sie ihn auf dem Rücksitz liegen.

Es war Ende April, der erste T-Shirt-Tag des Jahres, als ihre Eltern nach Ulm kamen, wo Dayita studierte, Wirtschaftswissenschaften. Der Ort der Aussprache: ein Holztisch vor einem griechischen Imbiss, unter noch laublosen Bäumen.

Die Mutter setzte sich und nahm ihre Sonnenbrille ab. Der Vater sah Dayita an. „Wir haben dich nicht, wie du geschrieben hast, angelogen. Du hast uns nie nach Nepal gefragt. Und wir haben nichts gesagt.“

„Mit der Wahrheit ist das ja immer so eine Sache“, sagte die Mutter. „Man muss nur zwei Geschiedene nehmen. Wenn man mit denen spricht, hat man hinterher zwei Wahrheiten.“

Die toten Eltern in Nepal – keine Lüge?

„Dein leiblicher Vater war bei der Adoption bereits verstorben, wurde uns gesagt.“

Und Mutter, Rajkumari?

„Ein Besucher aus Nepal, da warst du vielleicht sechs oder sieben, hat uns gesagt, dass auch sie gestorben sei.“ Wer dieser Besucher war, daran könne er sich nicht mehr erinnern, sagte der Vater, und die Mutter fuhr fort: „Wir haben vor dem Messingbuddha im Garten zusammen Blumen niedergelegt. Erinnerst du dich, Dayita?“ Es gibt Gerichtsunterlagen, aus dem August 1997, da war Dayita vielleicht sechs oder sieben. Sie besiegelten ihre Adoption, nach Jahren: Die nepalesischen Eltern seien „inzwischen mit den Konsequenzen ihrer Zustimmung … wieder einverstanden“. Dayita hatte die Unterlagen in einem Leitz-Ordner, der ihren Namen trug, entdeckt, im Arbeitszimmer ihrer Eltern.

Dayita erwähnte ihre heimliche Entdeckung mit keinem Wort. „Nein“, sagte sie, „an die Blumen erinnere ich mich nicht. Nur an den Buddha.“

„Wir wollten dir alles sagen, wenn du eine gestandene Frau bist“, sagte der Vater. „Vielleicht wären wir auch alle gemeinsam nach Nepal gegangen.“ Dayita antwortete: „Das hätte ich dann aber mit achtzehn erwartet. Spätestens! Jetzt bin ich zwanzig!“ Die Mutter seufzte. „Wenn du da als junges Mädchen hingehst, können die dir da drüben ja alles erzählen.“

Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Nepal-Reise? Wahrscheinlich, in dieser Hinsicht hatten Dayitas Eltern wohl recht, gab es ihn nicht. Er sollte nicht mit ihren Uni-Prüfungen kollidieren, das war Dayita wichtig. Die Disziplin, auf die ihre Eltern immer so viel Wert legten: Sie klammerte sich daran. Ein Jahr lang. Dann war der Zeitpunkt gekommen.

II.

Am 15. September setzte sich Dayita in Ulm in den Zug. Abfahrt 16.51 Uhr, Ankunft Frankfurt-Flughafen 19.06 Uhr. Sie spürte ein Pochen im Magen. Als säße sie in einer Achterbahn, die jeden Moment den Scheitelpunkt erreichen und in die Tiefe stürzen würde. Dayita würde nach Nepal fliegen, um ihre andere Familie kennenzulernen. Wie sollte man sich auf so etwas vorbereiten?

Im Flughafenbistro griff sie noch einmal zum Handy. „Hallöchen!“, flötete Dayita. „Komm wieder, ne?“, sagte ihr Vater. „Wir haben dich nämlich lieb.“ Die Mutter: „Komm wieder, wie du bist.“

Im Flieger nach Katmandu roch es nach Kartoffeln, Karotten und Kerosin. Beim Sinkf lug durchbrach das Flugzeug eine dichte Wolkendecke. Saftig grüne Reisterrassen tauchten auf, graubraune Flachdächer, die Landepiste. Um 16.21 Uhr, am 30. Tag des Monats Badhra, im Jahr 2068 nepalesischer Zeit, setzte der Flieger auf.

Am Einreiseschalter des Flughafens Katmandu fertigt ein Beamter die Reisenden ab. Er fixiert Dayita.

„Tapai Nepalbhata aunubhayo?“, fragt er.

„Sorry, I don’t speak Nepali“, antwortet Dayita.

„Not Nepali?!“ Der Grenzbeamte beugt sich wieder über das Einreiseformular. „Where do you come from?”, fragt er.

„Nepal“, sagt sie. „But you don’t speak Nepali?“ „No.“ „Oh“, entfährt es ihm. „Oh.“ Der Beamte blättert in Dayitas deutschem Reisepass. Geburtsort: Pashupati. Ein Vorort von Katmandu. Er schüttelt den Kopf. Dann winkt er Dayita durch.

Sie hat sich mit Geschenken gewappnet. Ein selbstgebasteltes Fotoalbum. Ein paar Kleinigkeiten für ihre Geschwister, nichts Teures. Sie wollte nicht die reiche Schwester aus Deutschland sein. Dayita nimmt ein Taxi in die Stadt. Staub und Rauchschwaden wehen durch das Seitenfenster. Dayita hustet, dann greift sie nach ihrem Haar und hält es vor den Mund wie einen Filter. So vermummt, sieht sie Müllberge vorbeiziehen; einen Mann, an dem sich ein Barbier zu schaffen macht; Kinder, die in einem Ofen Steine backen; Menschen, Menschen, Menschen. Hatte sie je so viele Menschen gesehen?

Niemals, denkt sie, könnte ich hier leben! All der Dreck, der Lärm. Dieses Chaos.

Am Abend steht Dayita auf der Dachterrasse eines Restaurants, nicht weit vom Bagmati-Fluss. Sie sieht hinauf zu der steilen Goldpyramide des Stupas, von dessen Spitze Ketten mit blauen, weißen, roten, grünen, gelben Gebetsfahnen in alle Himmelsrichtungen streben. Unten drehen buddhistische Pilger ihre Runden um den Stupa.

Gedränge im Uhrzeigersinn. Gesänge, monotone Melodien, Räucherstäbchenschwaden. Noch immer kommt das Land ihr fern vor.

„Tapailai ke khanuhunccha?“, fragt eine Stimme hinter ihr: „Was darf’s sein?“ Der Kellner. Dayita fühlt sich nicht angesprochen. „Tapai Nepali bholnuhunccha?“, fragt der Kellner. Dayita lächelt ihn schweigend an. Mit all dem Englisch, über das er verfügt, erfragt der Kellner ihre Geschichte. Dayita erzählt, und als sie sagt, heute sei der Tag ihrer Rückkehr, entfährt dem Kellner ein Gicksen. Wie sie denn heiße? Dayita, sagt sie. Er stutzt. Sie wiederholt den Namen. „Dajiita“, wie ihre Adoptiveltern es stets sagten: Drei Silben, langes i, kurzes a. Nein, nein, entgegnet der Kellner lachend: „Daitaa.“ Zwei Silben nur, und mit langem a. Wenn ihr Name so ausgesprochen wird, sagt sie, dann werde sie sich einen neuen suchen. Ob er vielleicht einen schönen kenne? Der Kellner lächelt unsicher. „Kennst du deinen nepalesischen Nachnamen?“, fragt er. „Ja, Pariyar.“ Wieder stutzt er: Es ist der Name einer Kaste. Sie stehe außerhalb der Gesellschaft. Es wird schnell dunkel in Katmandu, und fast genauso schnell wird es still.

Dayita hätte heute zu ihrer Familie gehen können. Aber sie konnte nicht. Sie hatte es sich fest vorgenommen. Jetzt aber hat sie Angst.

Am nächsten Morgen stürzt sie sich in die Touristenläden, lässt sich treiben. Wieder und wieder stößt Dayitas Sprachlosigkeit Gespräche an. Fast immer führen sie zu der Frage nach ihrem Familiennamen. „Sorry, weiß ich nicht“, sagt sie dann.

Es wird Nachmittag. Dayita sagt sich, ihre Familie hätte sicher gern noch einen Tag länger, um sich auf das Treffen vorzubereiten.

Blödsinn, ich kann sie doch nicht noch länger warten lassen! Als die Sonne untergeht, sitzt Dayita in einem klapprigen Taxi. Durch Schlaglöcher hoppelt es den Hügel hinunter zum Pashupatinath-Tempel.

Die letzten Meter geht sie zu Fuß. Dann steht sie vor einer fensterlosen Baracke aus Bambusrohren, Wellblech, Backsteinen.

III.

Als Dayita das Haus ihrer Familie sieht, will sie weinen. Bitte lass das nicht wahr sein, denkt sie. Nicht dieses Loch! Ein Schatten mit wogendem Haar tritt aus dem Schwarz in die Dämmerung. Es ist Leeza, Dayitas Schwester. Dayita ist sprachlos. Sie möchte Leeza umarmen. Aber es geschieht nicht. Nachbarskinder kommen angerannt, Frauen in bunten Saris, Männer in Badeschlappen. Dayita sieht sich um. Sie fragt, wo ihre Mutter und die Geschwister sind. „Away“, sagt Leeza. „They will come, they will come!“

Augenblicke später kommt ein drahtiger Junge angerannt, die Augen weit aufgerissen. Niraj, ihr kleiner Bruder. Strahlend geht er auf Dayita zu. Dann lässt er den Blick sinken, faltet flach die Hände und verneigt sich. „Namaste!“, sagt er leise: „Gegrüßt sei der Gott in dir!“ Nisha tritt hinzu, Dayitas zweite Schwester. Sie bleibt stehen, schweigt. Eine peinliche Stille. Die Geschwister sitzen auf einer Stufe vor der Hütte, umringt von neugierigen Nachbarn.

Dayita wippt mit den Füßen. „In welche Klasse gehst du?“, fragt sie den kleinen Bruder. „Drei.“

„Was isst du gern?“, fragt sie Leeza, ihre neunzehnjährige Schwester. „Chapati und Reis.“

„Wo ist unsere Mutter?“, fragt sie Nisha. „Sie muss jeden Augenblick von ihrer Arbeit in der Näherei zurück sein. Gestern hat sie auf dich gewartet, den ganzen Tag.“

Im letzten Licht des Tages biegt Rajkumari in die Gasse vor ihrer Hütte. Aber als sie die vielen Leute sieht, macht sie sofort kehrt, reißt die Holztür zur Gemeinschaftskloake der Nachbarschaft auf und verbarrikadiert sich. Minuten vergehen, ehe sie die Tür wieder öffnet. Das Gesicht zuckend, stumm, mit offenen Armen stürmt Rajkumari auf Dayita zu.

Mutter und Tochter halten sich fest. Sie wiegen sich ineinander. Einige der umstehenden Frauen wischen sich die Augen trocken.

Rajkumari schüttelt sich, sie schreit. Dayita weiß nicht, was sie fühlen soll. Weiß nicht, was tun. Sie lächelt. Aus den Fenstern eines Hauses schauen fragend die Nachbarn. „Meine Tochter ist aus Deutschland zurückgekehrt!“, ruft Rajkumari nach oben, „Daitaa!“

Rajkumari weist hinüber zu ihrer Hütte. Über den Eingang hat sie mit Kuhdung bunte Bilder hinduistischer Gottheiten gepappt. Die Tür ist so niedrig, dass Erwachsene nur gebückt reingehen können. Die fensterlose Baracke war einmal die Küche des Lepra-Heims. Nun ist sie Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, mit einem Boden aus unebenem Beton. Wenn es Strom gibt, wird der Raum von einer schummrigen 60-Watt-Birne erleuchtet. Bei Stromausfall, wie jetzt, flackert auf dem Herd eine Kerze. Sie lässt an den Wänden die Schatten tanzen.

Die Rückwand ist mit alten Zeitungen tapeziert. Auf dem Boden darunter liegen Holzplanken: das Bett. An der Wand entdeckt Dayita ihr Bewerbungsfoto wieder, das auf Lebensgröße gewachsen ist. Daneben ein Bild des toten Vaters. Dayita starrt es an: Ist er – war er – tatsächlich mein Vater?

Wieder kommen ihr die Gerichtsunterlagen in den Sinn. In einem Dokument hatte gestanden, eine „erhebliche Wahrscheinlichkeit“ spreche dafür, dass Rajkumaris Ehemann Dayitas leiblicher Vater sei; Gewissheit aber gebe es nicht. Sie sieht ihre Geschwister an, Leeza, die fünfzehnjährige Nisha, den kleinen Niraj: Ist ihre Haut nicht viel dunkler als meine? Warum? „Als du in meinem Bauch warst, habe ich ganz viel Milch und Joghurt gegessen“, sagt Rajkumari. Milch und Joghurt? „Darum ist deine Haut so hell“, sagt die Mutter. Und lächelt, als sei nun alles gesagt.

Eine Träne rollt über Dayitas Wange. Leeza legt ihre Hand auf Dayitas Knie. Der kleine Bruder beginnt, an den Bambusrohren des Daches wie ein Äffchen zu turnen, lässt sich an einem Arm baumeln, macht Klimmzüge. Als alles nichts ändert, schiebt er Dayita seine Schulaufgaben auf den Schoß und sieht sie mit großen Augen an: „Guck! Guck!“ Das endlich hilft. Dayita muss lachen: Alles ist in Nepali geschrieben. „Ich kann kein Wort davon lesen“, sagt sie. Er wedelt mit den Handflächen vor seinem Gesicht, als wären sie Scheibenwischer. Reib dir mal das verschmierte Kajal von den Wangen!, soll das heißen. Sie fährt ihm durch das Haar, es kommt ihr ganz borstig vor. Welche Musik er mag, fragt sie ihn. Shakira, sagt er. Er beginnt zu singen, „Hips don’t lie.“ Leeza und Dayita stimmen ein.

Rajkumari geht an den Herd. Es gibt Reis, dazu feurig scharfe Kartoffelschnitze mit grünem Pfeffer. Sie verteilt Blechteller an alle, und Dayita bekommt auch eine Gabel. In Deutschland, weiß Rajkumari, essen sie nicht mit den Händen. Der Boden ist zugleich Tisch. Ist ein Mahl vorüber, fegt Rajkumari ihn mit einem Reisigbündel. Nach dem Essen steht Nisha auf und bimmelt mit einer Glocke. Dayita sieht sie fragend an. „Ein Gebet“, sagt Nisha. „Zu welchem Gott betest du?“ – „Zu Shiva. Und zu Parvati. Und zu Ganesh.“

Hinter der Hütte kreischen Hühner – es klingt, als fände das Gezeter direkt unter dem Bett statt. „You want to sleep here?“, fragt Niraj. Dayita lacht, als habe ihr Bruder einen Scherz gemacht.

IV.

Bei Licht ist es noch schlimmer, denkt Dayita, als sie am nächsten Tag zur Wellblechhütte zurückkommt. Sie tritt in das Zimmer. Schwüle Luft schlägt ihr entgegen. Schnell stehen ihr Schweißperlen auf der Stirn. „Meru nam Dayita“, lernt sie von ihrem Bruder: „Ich heiße Dayita.“ Und: „Ich bin 21 Jahre alt.“ Doch ist sie das? Ihre Schwester Nisha hat Zweifel. Nachdem sie verschiedene Dokumente abgeglichen haben, stehen drei Geburtstage zur Auswahl. Februar 1990. April 1990. April 1991.

Schließlich stellt Dayita die Frage. „Wie war das eigentlich mit meiner Adoption?“ Rajkumari erzählt: Eine deutsche Frau trat an sie heran. Die Frau wollte ein Kind adoptieren. Ob sie sich vorstellen könne, Dayita wegzugeben. Eine Kindheit im fremden, reichen Deutschland? Oder in einem Lepra-Heim, als Unberührbare? Das Versprechen, Dayita würde regelmäßig zu Besuch kommen, brachte schließlich die Entscheidung. In der Abschiedsnacht ging Rajkumari mit Dayita und der neuen Mutter zum Pashupatinath-Tempel. „Wir beteten gemeinsam. Du warst im Halbschlaf. Wir legten dir eine Blumenkette um. Ich dachte: Es ist besser, wenn du gehst. Aber als du weg warst… Immer, wenn in der Nachbarschaft Kinder riefen, habe ich deine Stimme gehört.“

Dayita kam nicht zu Besuch. Stattdessen kamen Briefe aus Deutschland, Bilder von Dayitas Bilderbuchkindheit. Dann kamen auch keine Briefe mehr.

Monsunregen trommelt auf das Wellblechdach. „Wenn der Regen nachlässt, gehen wir rüber zum Leprahospital, ja? Meine Freundinnen und Freunde warten schon alle auf uns.“ Dayita fragt: „Möchten sie mich kennenlernen?“ Rajkumari schüttelt den Kopf: „Nein, wiedersehen.“ Sie trägt Dayita Lippenstift auf. Pudert der Tochter Gesicht, Hals und Schultern.

Auf dem Weg zur Lepraklinik trägt Rajkumari einen festlichen, fliederfarbenen Sari. Die Schwestern haken ihre Arme bei Dayita ein. In der Klinik steht Dayita vor einem Lepra-Entstellten im Rollstuhl. Er reckt seinen handlosen Arm hoch, an ihre Schulter. „Daitaa!“, sagt er mit tränenerstickter Stimme. Er sei der beste Freund ihres Vaters gewesen, sagt er. Ihr Babysitter.

Fragen kreisen in Dayitas Kopf, bis ihr schwindelig wird. Wie würde ihr ungelebtes Leben aussehen? Wie sich anfühlen?

Auf dem Rückweg zur Hütte scheint es für einen Moment so, als könne die ganze Welt dieses Wanken spüren. Dayita steht vor einem Kiosk aus blauem Blech, da beginnt die Stadt zu schaukeln. Als wäre sie in schwere See geraten. Tiere torkeln. Menschen stürzen schreiend auf die Straße. Dann wird es dunkel. Stromausfall. Das schwerste Erdbeben seit fast achtzig Jahren erschüttert Nepal.

In der Nacht liegt Dayita lange wach. „Daitaa, Daitaa“, spricht sie laut. Versucht, sich den Klang zu eigen zu machen.

Die Nächte verbringt sie im Gästehaus eines buddhistischen Klosters, die Tage mit ihrer Familie. Sie geht spazieren mit ihren Schwestern, immer öfter händchenhaltend. Sie holt ihren kleinen Bruder vom Unterricht ab und macht ihn zum stolzesten Jungen der Schule. Sie lässt sich durch Läden treiben, diesmal mit ihrer Mutter und mit Leeza, und ist überwältigt von dem Farbenfeuerwerk in den Regalen der Stoffhändler. Als Dayita einen Sari anprobiert, kann Rajkumari ihre Freude kaum fassen – ihre Tochter sieht nun tatsächlich aus wie ihre Tochter! Dayita lernt, dass Familie in Nepal nicht heißt: Vater, Mutter, Kinder. Es gibt Onkel, Tanten, Onkel von Tanten, Tag für Tag neue Menschen, die sie kennen, die sie nicht kennt. Abend für Abend fragt ihr Bruder, ob sie nun endlich „zu Hause“ übernachte.

Dayita fühlt Heimweh. Nach einer großen, richtigen Familie.

Nach Geschwistern, die beieinander und miteinander leben. Dieses Heimweh fühlt sie doch. Oder? Hängt sie einer kitschigen Idee nach? Einer Hoffnung, deren Flüchtigkeit sie noch gar nicht absehen kann? Das „Nie könnte ich hier leben!“, das ihr das nepalische Chaos am ersten Tag in den Kopf geschleudert hatte, ist verschwunden. Eine Woche ist vergangen, seit sie in Ulm in den ICE stieg. Es kommt ihr vor wie ein früheres Leben.

Dayita und ihre Geschwister sind inzwischen so vertraut miteinander, dass sie ohne Peinlichkeit über Persönlichstes sprechen, Beziehungen, Lebensträume, Geld. Auch die Baracke kommt ihr jetzt nicht mehr schrecklich vor. „Schwarzes Loch“, das kam ihr seit Tagen nicht mehr in den Sinn. Als Niraj wieder einmal sein Sprüchlein sagt, antwortet Dayita: „Okay, ich bleibe heute bei euch.“

Um kurz nach zehn schließt Rajkumari die Tür und legt den Riegel um. Nisha ist noch in die Hausaufgaben vertieft. Dayita kämmt ihr die Haare. „Kämmen am Abend bringt Unglück – du wirst einen alten Mann heiraten!“, foppt Rajkumari sie. „Ich glaube nicht an dieses Zeug!“, ruft Nisha. Rajkumari spannt ein Moskitonetz auf: Aus dem Wohnwird ein Schlafzimmer. Dayita legt sich zu Mutter und Bruder auf die Holzpritsche.

Es ist stockdunkler Morgen, da hebt vom Tempel her Gesang an. „Om, shanti, om!“ Eine heiserne Männerstimme. Das Singen steigert sich zu einem Gebetsgebrüll. Der Priester presst die Wörter in Töne, die Töne in Melodien. In den Rausch hinein setzt ein Trommeln ein. Erst leise, langsam. Dann lauter, schneller. Wie wild prasselt es auf das Wellblechdach, Monsunregen, die Stimme verstummt, Hunde jaulen, aus den Nachbarhütten klingen Gebetsglöckchen, Dayita schreckt auf.

Träumt sie?

Wo ist sie?

Zu Hause? Regen fällt nicht mehr, als Dayita am nächsten Tag aus der Hütte tritt, doch Wolken hängen tief und schwer. Sie geht zum Zähneputzen in den Garten. „Fürs Waschen ist es zu spät. Das geht nur, solange der Pumpbrunnen noch im Schutz der Dunkelheit liegt“, sagt Rajkumari. Dayita muss lachen. Nur kurz. Dann kehren die Fragen wieder. Nach dem gelebten, nach dem ungelebten Leben. Als sie in die Hütte zurückgeht, schlägt sie sich den Kopf so heftig am Türrahmen dass ihr die Tränen kommen.