Zeitenspiegel Reportagen

Checkpoint Charlie der Antike

Erschienen in "Landluft", Dezember 2021

Von Fotograf Christoph Püschner und Autor Jan Rübel

Jeder kennt den Limes, aber wie sieht es an ihm aus? Eine Wanderung entlang der römischen Grenzmarkierung von Lorch bis Murrhardt.

Am Morgen wanderten wir dem römischen Wachturm davon. Die Frühherbstsonne tauchte das Kloster Lorch rechter Hand in grelles Gelb und trieb uns vor sich her: weg vom Remstal und eine leichte Erdwelle entlang, von der wir gelesen hatten, dass sich neben uns das größte Bodendenkmal Mitteleuropas sanft aus dem Boden pellte. Der Limes hatte vor 1700 Jahren die Region in Tarzan und Jane geteilt. Das Remstal hatte, natürlich, zum Römischen Reich bis Afrika und Persien gehört, links der Grenzmarkierung hatte man in Steinhäusern gesessen und vor dem Besuch der Therme Oliven und Datteln zum Wein gegessen, während rechts des Limes mehr Bier in Holzhütten angesagt war, und ein Bad – naja.

Wir fühlten uns überaus qualifiziert für eine Spurensuche. Ein Ostfriese und ein Westfale aus ehemaligem Barbarenland – wir taten uns zusammen und meinten darauf stoßen können, was der Limes einst prägte.

Der rekonstruierte Wachturm am Kloster hatte noch trotz seiner vom Wetter gegerbten Holzlatten im Licht geglänzt, einen Blick zurück gen Süden auf die Wachtürme der Moderne freigegeben: Windkraftanlagenflügel drehten stoisch ihre Runden. Zum Norden der Limeshuckel aus sanftem Grün, als hätte ein Lindwurm in der Tiefe kurz geniest. „Ich vermiss Dich weil DU Heimat und Zuhause bist“, stand mit Edding auf einer Parkbank am Turm. Ostfriesland und Westfalen fehlte uns in jenem Moment nicht, der Limes aber schon. Denn der tauchte nach wenigen hundert Metern im Wald ab.

Mit ihm machte sich auch die Sonne rar, schickte nur noch einen Kontrast aus einzelnen Strahlen durchs Dickicht aus Eichenkronen oben und Hagebutte, Brombeere und Giersch am Grund. Doch wir waren nicht allein. Mit uns im Tross wanderten Familien samt Sprösslingen, von Rentnern auf ihren E-Bikes überholt, nur bogen sie alle bald rechts ab. „Wir wollen zur Schelmenklinge“, sagte ein Herr, nachdem ihn ein waghalsiges Lenkmanöver wegen eines Kindersprungs zum Halt gezwungen hatte. „Dort sind Wasserspiele.“ Dass er sich auf dem offiziellen Limes-Wanderweg befand, wusste er nicht. „Einen schönen Rastplatz hat es auch“, sagte seine Partnerin. Die blechernen Plaketten an den Bäumen, mit einem schwarzen Turm auf weißem Grund, welche den Weg am Limes wiesen, hatten sie kaum bemerkt. Wir ahnten: Den Limes würden wir meist für uns allein behalten. Das einzige Wasserspiel in der Nähe, das er uns bot, war der Götzenbach; ein schmales Fließ, welches er zur Römerzeit überbrückte und das älter war als er selbst.

Nur mit einer alten, aber genauen Karte aus dickem Papier hatten wir uns auf den Weg gemacht. Kein GPS oder Google Maps sollte uns leiten. Wenn die Römer es geschafft hatten, eine Linie schnurstracks gerade durch die Lande zu ziehen, dachten wir, sollten wir an ihr doch entlanglaufen können. Doch die Wanderwegsplaketten schienen nach dem Götzenbach ausgegangen zu sein, jedenfalls erkannten wir an einer Kreuzung, von der allein fünf sorgsam geordnete Schotterwege abgingen, den unseren nicht. „Ich drehe hier nur meine Runden“, zuckte ein Mittsechziger am Wanderstock mit den Achseln. Ja, er wohne hier. Und vom Limes habe er auch mal gehört. „Ach, der verläuft hier in der Nähe?“ Eine Bayerin mit zwei Wanderstöcken dagegen verhalf uns wieder auf den richtigen Pfad. Ihre vierköpfige Rentnerinnengruppe, „mein Mann ist nicht mehr gut zu Fuß“, strebte zwar woanders hin. Aber die ersten hundert Meter ging sie mit uns mit, ahnte wohl, dass es mit der Orientierung bei Manchem so eine Sache ist. Tatsächlich begnügte sich der Limes-Wanderweg statt des mondänen Splitts mit einer sandigen, kaum einen Meter breiten Furche durch den Wald.

Still wurde es. Flechten und Moos verzauberten den Pfad in das Setting eines Schneewittchenfilms, nur grüßten statt eines Zwergenheims mächtige Steinpilze am Wegesrand. In den Tagen zuvor hatte es leicht geregnet, nun wagten sich ihre Köpfe hoch hinaus. Und echter Stein, von Menschenhand bearbeitet, lugte auch aus dem Boden; wir stellten uns vor, dass er von den Römern stammte. Da erreichten wir den Bemberlesstein. Ein Massiv aus Schilfsandstein. Wie der Limes sich an ihm vorbeimogelte, erschloss sich uns nicht. Jedenfalls sahen wir die steinernen Fundamente eines jener mindestens 900 Wachtürme, welche die Römer den obergermanisch-rätischen Limes entlang aufgestellt hatten – entlang seiner 550 Kilometer zwischen Rheinbrohl und Kastell Eining an der Donau. Keine unüberwindbare Festung wie die Mauer in der Fernsehserie „Game of Thrones“ sollte der Limes sein, sondern mehr eine Grenzmarkierung. Daher suchte er auch die höchsten Erhebungen zur besseren Fernsicht; von Turm zu Turm benachrichtigten sich die Wachposten per Rauch- oder Feuerzeichen, wie die Leuchtfeuer von Gondor bei „Herr der Ringe“. Tiefe Schneisen in den Wald werden sie damals geschlagen haben, mit 60 Kastellen im Hinterland, die ebenfalls keine Wehrburgen waren, sondern Kasernen. Den Barbaren sollte ein Zeichen gesetzt werden: Bis hierhin und nicht weiter. Wenn eine Grenze, dann war der Limes eine des Wohlstands. All zu viele von den unreinlichen Biertrinkern wollte man wohl nicht im Reich haben, versuchte das, was man heute eine „gezielte Migration“ nennt. Der Limes und die Soldaten in den Kastellen erzielten damals eine Tiefenwirkung. Machte mal wieder eine Germanenbande rüber, benachrichtigten die Wachsoldaten auf den Türmen die Lager – von wo Reitersoldaten ausschwärmten, die Eindringlinge frontexartig einkreisten und einsammelten. Nur 150 Jahre lang funktionierte das. Innenpolitische Zerwürfnisse in Rom ließen Limessoldaten abziehen, auch gab es Stress in Persien. In der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts nach unserer Zeitrechnung schließlich wurde diese Grenzmarkierung auf- und jenem Vergessen anheimgegeben, aus dem sie erst viele Jahrhunderte später erweckt wurde.

Nun standen wir also vor dem Bemberlesstein. Daneben die antiken Turmreste, aus ihnen wuchsen junge Buchen. Eine uralte Sage hatte über jenen Ort erzählt, „wenn der Bembemberles-Stein ’s Zwölfa-Läuta hört, dann dreht er sich um sich selbst“. Es war genau zwölf. Aber Glocken hörte man nicht, der Stein wohl ebenfalls kaum, denn alles blieb an seinem Platz. Wir staunten noch über die Geleisspuren im Fels. Sie hatten einst Wagen die Passage an dieser unwirtlichen Stelle erleichtert, doch wegen ihrer Spurbreite von 1,10 Metern vermuteten Archäologen keinen römischen, sondern mittelalterlichen Ursprung. Heute waren es nur noch Mountainbikes, welche die Strecke nahmen. Die ihnen zugewiesenen Splittwege schienen ihren Fahrern zu wenig Kurzweil zu bieten, so drückten sich ihre breiten Reifenspuren in den Schlamm. Wir folgten ihnen durchs Dickicht, während der Limes die Rad- und Wanderwege nur kurz überquerte.

Unterhalb von Alfdorf begegneten wir endlich dem ersten Wanderer auf dem Limesweg. „Den laufe ich jeden Tag, vom Ort runter zum Trimm-Dich-Pfad und wieder rauf“, sagte er, „sind ja nur sieben Kilometer. Aber nur, wenn ich nicht Tennis spiele“. Er sei ja erst 80. „Ich verstehe auch nicht, warum man hier einsam geht, ich sehe immer nur Radfahrer.“ In Alfdorf aufgewachsen sei er, römische Geschichte und der Limes in der Schule kaum Thema gewesen. „Und wenn wir wandern gingen, dann nach Bopfingen, zum Ipf“. Rom, so dünkte uns, schien nicht mehr recht präsent zu sein.

Der Limes machte sich auch rar. Erst auf der einzigen Wiese des südlichen Ortsteils Pfahlbronn zeigte er sich als schwache Geländekante im Gras und verschwand wieder unterm Asphalt. Das Dorf kam uns ziemlich bewehrt vor. Wo keine Hecken wie Mauern die Häuser verbargen, standen Zäune aus blitzendem Metall. Einen Wachturm hatte es auch, nur gehörte er zu einer Kinderschaukel und schien aus einem Katalog. Ein Mann, der sich als „Stromfortbewegungskünstler“ im Ruhestand vorstellte, erzählte uns dann von den Römern. „Ich hab eine Bekannte aus der Grenze zu Bayern, die sieht, was andere nicht sehen. Und als die mal hier übernachtet hat, sagte sie zu mir am nächsten Morgen: ‚Ich hab mit den Römern gesprochen, die waren alle friedlich.‘ Dabei wusste sie gar nicht, dass hier der Limes verläuft.“

Wie auch. Die Wanderwegsplaketten schienen am Ortsende wieder ausverkauft. In unserer Verzweiflung klingelten wir an den Häusern, beim vierten öffnete ein Herr und zeigte zur Landstraße, „dort taucht der Limes von links wieder auf.“ Und tatsächlich: Da war wieder die elegante, einsame Welle. Sie kreuzte den Asphalt und kroch auf eine Wiese. Nun wollten wir sie nicht mehr verlieren und stapften querfeldein. Doch ein Elektrozaun zwang uns zu einem Umweg über die Straße durch Haghof. Dort konnte eine Anwohnerin keine Auskunft geben, „aber ein Bauer sagte mir mal, er habe den Limes schon zigmal umgepflügt“. Und, ob wir schauen wollten, was sie im Garten beim Umgraben gefunden habe? Sie führte uns ins Haus. Dort stand ein alter Stein, eine Art Sockel mit Rosetten und einer Zahleninschrift. Römisch kam uns das nicht vor, waren die Ziffern doch arabische – was uns daran erinnerte, dass vor wenigen Jahren ein Nazipolitiker im saarländischen Völklingen arabischen Hausnummern den Kampf angesagt hatte: Klar, der Ort lag ursprünglich im ehemaligen Imperium Romanum; vielleicht wusste der Herr aber auch nicht, dass unsere heutigen Zahlen die arabischen sind.

Auf dem anschließenden Golfplatz wussten die rüstigen Rentner in ihren Poloshirts von blassblau bis blassgrün genau den Limes anzugeben: Schlugen sie doch ihre Bälle über ihn. „Manchmal spielen wir ‚Spaß-Golf‘“, sagte einer von ihnen, „wir spannen eine Leine ihn entlang und Sieger ist, wer den Ball am nächsten schlägt.“ Eine Art Golfboccia, scherzten sie.

Langsam dunkelte es, und mit ihm auch der Wald. Südlich von Welzheim rasteten wir nur kurz am Göckelersturm, da die Sage lediglich demjenigen Glück versprach, der an diesen römischen Mauerresten in der Neujahrsnacht den Ruf eines Hahnes vernimmt. Davon waren wir noch weit entfernt. Wir hörten nur einen Autoalarm, der nicht stoppte. Also machten wir uns müde auf zur letzten Etappe des Tages, erreichten die Stadt, passierten den Römerweg, das Limes-Gymnasium und die Kastell-Realschule, bis uns am Eingang zu unserem Hotel ein lebensgroßer Legionär aus Hartplastik begrüßte, vernunftgemäß mit Atemschutzmaske vorm Mund und einem Blatt auf dem Schild, welches über die Corona-Schutzbestimmungen des Hauses aufklärte. Zufrieden glitten wir in den Schlaf. Von Römern aber träumten wir nicht.

Am nächsten Morgen wurden wir Zeugen einer Belagerung des Ostkastells. Hunde aus allen Richtungen strebten ihm zu, bellten respektheischend und nahmen es rasch ein, Gassi siegte über Gladius. Wir flohen gen Nord, ließen Welzheim hinter uns und gelangten zu endlos langen Feldern aus Mais, die bald die Fundamente des Kleinkastells Rötelsee preisgaben. Friedlich lag es auf einer leichten Anhöhe, erlaubte einen weit reichenden Blick die damaligen Holzpalisaden entlang. Für zehn bis 20 Mann wird es Platz gehabt haben, vielleicht ein Durchgang des Limes, ein Checkpoint Charlie der Antike. Bis zur Räumung des Limes hatte der Posten Bestand. Nur Luftpistolenlöcher am Hinweisschild und der einsam im Gras liegende Schaumstoffpfeil einer Kinder-Nerf Gun erzählten davon, dass sich dort auch unernste militärische Manöver ereignet hatten.

Am Aichstruter Rückhaltebecken versuchten zwei Camper uns einzureden, der Limes verlaufe ganz woanders, aber in unserer richtigen Überzeugung, nicht falsch zu sein, übersahen wir auf der Karte, dass wir den See links entlanggehen sollten. Rechts hingen dann keine Plaketten, wir schimpften, kannten das schon, und folgten fünf Bussarden in einen Nadelwald hinein. Oder folgten sie uns? Endlich lotsten uns Spolien im Boden zum Limes zurück, umgeben von Kleegrün und Fichten, die hinab zu einem schwarzen Tümpel stiegen. Überhaupt waren die Hochflächen von engen Tälern durchschnitten, hatte der Wald ihre Hänge gesucht. Weich wiegte der Schritt. Der Boden gab leicht nach. Bis zum Oberschenkel reichende Reifenspuren zeugten von etwas Mächtigem, einem John Deere 810 D und einem Timberjack 1070 D, die uns den Weg versperrten. Als wir die einsamen Maschinen der Holzfäller umstiegen, gab die eine metallene Schnauze auf der Erde von allein bedrohlich nach, als lachte sie uns aus. Wir hatten uns verirrt.

Alle Wege führen zum Limes, das lernten wir. Am Ebnisee angekommen, hieß uns ein Motorradfahrer den Weg die Waldberge hinaufzunehmen, schließlich suchte der Limes stehts die Höhen. Plötzlich winkte die kleine Wanderwegplakette an einem Baum, wir verließen die Landstraße, schlüpften durch den Spalt im Grünen und setzten unsere Schnitzeljagd fort. Langsam merkten wir die Kilometer in unseren Beinen. Die Mauerreste des Kleinkastells Ebnisee sollten unweit im Wald schlummern, doch im Dickicht brachen wir die Suche ab und folgten dem Limeswanderweg. Uns gefiel das Orientieren anhand einer Karte. Wer den Linien auf ihr folgt, erwirbt für einen kurzen Moment das Territorium. Und mit den schwerer werdenden Füßen, den strapazierten Muskeln, machte sich eine geistige Entspannung breit, endlich. Jener Punkt war erreicht, an dem noch kilometerweit gelaufen werden kann, weil der Mensch fürs Laufen gemacht ist. Es beruhigte. In Schlosshof hielten wir kurz inne, eine Anwohnerin räkelte sich in der Liege vor ihrem Gut. „Ich genieße meinen freien Tag“ sagte sie. Sei sie die Inhaberin? „Ja, und die Bank auch.“ Sei sie glücklich? „Ja, und die Bank auch.“ Der Limes, sagte sie, verlaufe exakt auf der kleinen Straße, auf der wir hielten. „Hinten im Wald ist noch ein Schild.“

Der Welzheimer und der Murrhardter Wald gelten seit Jahrhunderten nicht als Hotspots menschlicher Besiedlung. Dennoch kamen uns zwei Pilzsammlerinnen entgegen, den Korb voller Maronen und Rotfußröhrlinge. „Mit Zwiebeln werden wir sie scharf anbraten“, sagte die ältere. Und ihre Tochter fragte nach unserem Ziel. „Ich kenn den Wald in- und auswendig“, sagte sie, „aber Römisches habe ich hier noch nie gesehen“. Es war uns recht. Wir wollten nur noch wandeln, hatten den Kopf voll und leer zugleich. Am frühen Abend holten wir dann doch unsere Smartphones hervor. Über Google Maps wollten wir erfahren, wie weit der Murrhardter Bahnhof noch sei. 21 Minuten Fußweg wurde uns prophezeit, und wir freuten uns. Schließlich mussten wir noch unsere letzten Züge zurück ins Barbarenland kriegen. Gemächlich schlenderten wir weiter. Doch wir hatten die Rechnung ohne den Köchersberg gemacht, und Google Maps auch. Denn mit dem steilen Abstieg zur Stadt hinab, über malerische Bäche und riesige Farne, korrigierte sich die Wegstrecke in Minuten alle hundert Meter nach oben. Am Ende trabten wir. Erreichten Murrhardt. Sahen, dass wir zeitgleich mit dem Zug am Bahnhof sein würden, streckten den Daumen zum Autostopp; aber diese Zeiten sind vorbei. Uns blieb nur der Trab. Wir sahen dann noch unsere Regionalbahn. Sie fuhr gerade ab. Das Reich der Römer hatte uns noch einen unfreiwilligen Aufschub gewährt. Wir schnallten unsere Rucksäcke ab, warfen uns auf die metallene Bank am Bahnsteig und atmeten durch. Schön war der Limes gewesen, auch wenn er sich oft verbarg. Er war uns Heimat und Zuhause geworden, ein DU. Und hätten sich nicht unsere Mägen in die Kniekehlen gehängt, wir wären die gleiche Strecke zurückgelaufen. Ganz bestimmt. Der Limes ist zwar kaum mehr, was er einmal war. Eher ein Strich in der Landschaft. Aber in seiner Sanftheit machtvoll, erhaben und eingebettet zugleich. Kaum jemand fragt nach ihm. Dennoch ist er da. Wird nie weichen. Und damit macht dieser Strich einen dicken Punkt.