Zeitenspiegel Reportagen

Der Mensch beginnt beim Lehrstuhlinhaber

Erschienen in "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 05.12.12

Von Autor Jan Rübel

Es war einmal eine Hochschulreform: Im Jahr 2002 führte die rot-grüne Bundesregierung Befristungsregeln für die Wissenschaft ein. Ursprünglich gut gemeint, erweist sich dieser tiefe Einschnitt nun als deutsches Desaster

Ein Modewort geht um in Deutschland – das des Berufsverbots. Wer immer es fordert, ist sich gespitzter Ohren bewusst, ohne sich um die Folgenlosigkeit seines Appells scheren zu müssen. Es kostet ja nichts: Wenn Bayerns Justizministerin Beate Merk ein Berufsverbot für Kinderschänder fordert, UEFA-Präsident Michel Platini Spiele manipulierende Fußballprofis lebenslang ausschließen will und sich ein Drittel der Deutschen in Umfragen ein Berufsverbot für schlampige Anlageberater wünscht – je greller der Slogan, umso unrealistischer seine Umsetzung. Berufsverbote sind eine heikle Angelegenheit in Deutschland, sie riechen nach Diktatur.

Umgekehrt verhält es sich ähnlich. Langsam und kaum merklich vollzieht sich gerade in Deutschland ein unausgesprochenes Berufsverbot, und zwar für Wissenschaftler. Nicht weil sie etwa Folianten aus der Unibibliothek mitgehen ließen oder sich als Ghostwriter für Politiker-Doktorschriften verdingten. Ihnen wird zum Verhängnis, dass sie es nicht in die Spitzenpositionen von Professoren geschafft haben, und dass die Politik ein Gesetz für sie schuf, das ihre Arbeitswirklichkeit ignoriert.

2002 beschloss die rot-grüne Koalition ein neues Hochschulrahmengesetz, das befristet angestellten Wissenschaftlern ein neues Zeitfenster zimmerte. Sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion sollte es ihnen möglich sein, befristet zu arbeiten; das reiche als Qualifizierungsphase. Danach müsse eine unbefristete Stelle her – oder eine Neuorientierung im Beruf, denn nach zwölf Jahren würde man es wohl auch später nicht mehr schaffen auf die eigenen Füße zu kommen. Ausdrücklich sah die Novelle vor, dass auch nach Ablauf dieser Zwölf-Jahres-Frist eine befristete Anstellung nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz möglich ist, eben mit einer sachlichen Begründung. Das 2007 beschlossene Wissenschaftszeitvertragsgesetz nahm diese Regelungen auf und erweiterte sie um die Möglichkeit, dass durch Drittmittel finanzierte befristete Stellen über die Zwölf-Jahres-Frist hinaus dauern. Und einen Elternbonus gibt es seitdem: Je geborenem Kind kann die Frist um zwei Jahre verlängert werden. Die Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen gelobten, verantwortlich mit diesen neuen Anstellungsinstrumenten umzugehen.

Alles also in bester Ordnung? Heute, zehn Jahre nach der Gesetzesnovelle, stehen Wissenschaftler dennoch vor einem faktischen Berufsverbot. Zum Beispiel diejenigen, die in einer Forschungseinrichtung immer ihrem Job nachgingen, der mit der Qualifizierung für eine Professur nichts zu tun hatte. Für den es keine Drittmittelfinanzierung gibt. Und der immer befristet war.

Da ist zum Beispiel Sabine K.* Ihr Vertrag als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einer Akademie der Wissenschaften läuft Ende dieses Jahres aus. Seit Januar 2002 arbeitet sie in einem altertumswissenschaftlichen Projekt, „immer wieder wurde mir die Entfristung in Aussicht gestellt“, sagt sie. Ihre wissenschaftliche Laufbahn verlief ohne Schnörkel: Dissertation nach drei Jahren auf einer Promotionsstelle mit summa cum laude Ende 2001, dann blieben ihr nach den Befristungsregeln noch neun Jahre: sechs Jahre plus drei noch nicht „verbrauchte“ Jahre aus der Zeit vor der Promotion – und darauf der „Bonus“ für ihre zwei Kinder. Nun beschied ihr die Akademie: Eine längere Anstellung sei nicht möglich, weil dann eine Entfristung drohe. Das Verhalten hat einen großen Schönheitsfehler. Sabine K. befindet sich seit ihrer Promotion nicht mehr in einer „Qualifizierungsphase“, für genau die aber sind die Befristungsregeln geschaffen worden. „Meine Tätigkeit hat eine wissenschaftliche Basis“, sagt sie, „aber zum einen hat sie nichts mit meiner Dissertation zu tun, ist eine andere Disziplin“. Und zum anderen arbeite sie mit ihren Kollegen in einem Langzeitvorhaben, das seit Jahrzehnten besteht und auch noch einige dauern wird. Die Aufgabenstellung für die Mitarbeiter ist über die Generationen immer gleich geblieben. Eine Chance auf Habilitation beinhaltete der Job nicht. „Ich entschied mich damals bewusst für diese wissenschaftliche Arbeit.“ Eine, bei der sie sich, bestätigt durch internationale Anerkennung ihrer Leistungen, auf dem richtigen beruflichen Weg wähnte.

Sabine K. steht an einem Scheideweg. Unbefristete Stellen gibt es in ihrer Branche nicht. „Und bei befristeten Stellen stoße ich an die Schallmauer der zwölf Jahre.“ Blieben noch die drittmittelfinanzierten Projekte. Doch selbst bei denjenigen Langzeitvorhaben, die durchaus Drittmittelanteile haben, überwiegen die Stellenausschreibungen mit der Zwölf-Jahres-Frist. Sabine K. befindet sich nach Jahren beruflichen Engagements plötzlich im Niemandsland.

Vehement hatten die außeruniversitären Forschungseinrichtungen zur Jahrtausendwende gefordert, auch die neuen Fristen anwenden zu dürfen. Als Begründung gibt der Gesetzentwurf von 2001 an: „Die Regelung stellt sicher, dass auch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen in gleichem Umfang Qualifizierungsstellen einrichten können wie die Hochschulen.“ Sie konnten, aber wie sieht die Praxis aus?

Eine ehrliche Antwort kommt aus der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: „Qualifizierungsstellen werden Sie bei uns kaum finden“, heißt es. Die Kollegen in Bayern erfassen nicht ihre Anzahl, andere Akademien teilen mit, die Bearbeitung solch einer Anfrage bedeute ihnen zu viel Aufwand.

Sicher indes ist, dass Qualifizierungsstellen in Langzeitvorhaben kaum vorgesehen sind. Wie auch – die Wissenschaftler dort gehen ihrer Arbeit nach, sie forschen im so genannten Mittelbau und schaffen unerlässliche Grundlagen für weitere Forschung; eine Karriere an einer Hochschule plant von ihnen kaum jemand. Erfahrung ist bei ihren Tätigkeiten ein Mehrwert. Dennoch finden die Befristungsregeln für sie Anwendung, allzu flexibel können die Verwaltungen der Einrichtungen nun personalpolitisch schalten und walten. Berufsanfänger kosten schließlich weniger. Welcher Arbeitgeber ließe sich dieses Instrument aus den Händen reißen?

Vielleicht derjenige mit Leistungsanspruch. „Je näher die Wissenschaft an Wirtschaft und Industrie gerät, desto weniger kann sie auf die Erfahrungen ihrer Mitarbeiter verzichten“, sagt Manfred Scheifele, Vorsitzender des Fraunhofer-Gesamtbetriebsrats. Auch bei Fraunhofer geht es um wissenschaftliches Arbeiten als Beruf, eine akademische Qualifizierung steht nicht im Vordergrund. Einige Institutsleiter würden auf Entfristungen setzen, sagt Scheifele, um ihre Mitarbeiter nicht an die Industrie zu verlieren. „Dort gibt es nämlich solche Regelungen nicht.“ Allerdings: Der Reiz, auch die Befristungen nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz anzuwenden, sei groß.

Der Markt für Geisteswissenschaftler indes kennt solchen Druck aus der Wirtschaft nicht. Dass Qualifizierung bei Langzeitvorhaben kaum vorgesehen ist, zeigt ebenfalls das Beispiel von Harald W*. Auch er ist an einer Akademie als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem renommierten geisteswissenschaftlichen Langzeitvorhaben beschäftigt. Seit 2003 nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz angestellt, läuft sein Vertrag – mal wieder – zum Jahresende aus. Die Akademie bot ihm zwei weitere Jahre an, und zwar nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz. „Nebenbei arbeite ich an meiner Dissertation, aber sie hat nichts mit meiner Tätigkeit zu tun“, sagt er. Die Dissertation indes muss bis Ende 2013 erfolgen – denn nur weil Harald W. Vater zweier kleiner Kinder ist, kann ihm ein Vertrag nach diesen Wissenschaftsbefristungen angeboten werden; eigentlich sind die sechs Jahre vor der – eigentlich unnötigen – Dissertation seit 2010 verstrichen. „Man sagte mir, die Akademie wolle flexibel bleiben. Soll ich meine Kinder erschlagen, damit meine Chancen auf Entfristung steigen?“ Der Fall von Harald W. zeigt: Wo früher nach allgemeiner Gesetzeslage befristet wurde, greifen Wissenschaftsbetriebe nun sachfremd zum tollen Folterkasten, den die Politik ihnen seit 2002 vor die Tür gestellt hat.

Dabei ist der Kasten nicht einmal wasserdicht. Ein Urteil des Berliner Landesarbeitsgerichts verlagert nun den Druck gar auf die Studenten. Denn in einem Urteil vom Sommer dieses Jahres verurteilte es eine Hochschule zur Entfristung eines Mitarbeiters – weil es seine knapp zwei Jahre dauernde Arbeit als studentische Hilfskraft zur Qualifizierungsphase hinzurechnete und diese sechs Jahre überstieg – ein Entfristungsgrund. Ein Urteil mit Folgen: Setzt sich diese Rechtssprechung durch, werden Studenten abwägen müssen, ob sie eine Stelle als Hilfskraft annehmen, die mehr als ein Viertel einer vollen Stelle einnimmt; was eigentlich einen Einblick in die Wissenschaft ermöglichen und den Erfahrungsschatz schon im Studium erhöhen soll, entwickelt sich zum Hemmschuh für jede Promotion, wenn die Sanduhr dadurch läuft. Zwar schreibt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz im Wortlaut vor, dass die Befristung nicht auf studentische Hilfskräfte angewandt werden soll – aber das Gericht setzte sich darüber hinweg und bestätigte damit das Chaos dieser Befristungsregeln.

An den Hochschulen dagegen, wo es echte Qualifizierungsphasen gibt, droht durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ebenfalls ein wissenschaftlicher Knieschuss. Sie müssen Dozenten, die erfolgreich lehren und forschen, ziehen lassen – obwohl viel Geld in sie investiert wurde. Uwe Z. zum Beispiel habilitiert gerade in Betriebswirtschaftslehre, ist in seinem Fachbereich eine anerkannte Kapazität. Sein Vertrag läuft noch bis Ende 2013, eine Professur strebt er an. „Ich verstehe nicht die Motivation des Gesetzgebers“, sagt der Vater zweier kleiner Kinder, „Berufungsverfahren dauern manchmal zwei bis drei Jahre.“ Was bedeutet, dass er zwischen seiner jetzigen Lehr- und Forschungsstelle und einer möglichen Professur eine Arbeitslosigkeit wird überbrücken müssen – obwohl ihn sein jetziger Arbeitgeber gern halten würde. „Das Geld ist da, aber meine zwölf Jahre sind um.“ Bis zur Professur gilt man als Auszubildender, hat aber volle Lehrverantwortung. „Es ist so, als würde einem Lehrling in der Firma gesagt: ‚Wenn du es in zwölf Jahren nicht zum Geschäftsführer geschafft hast, bist du raus.’ Welches Unternehmen macht so etwas?“

Erklärtes Ziel der neuen Befristungen seit 2002 war, den Mittelbau abzuschaffen. Er galt als muffig, überkommen. Leistungsmüde. Durch ein System des verstärkten Austauschs sollte Frischluft in die Wissenschaftseinrichtungen. Das Ergebnis nach zehn Jahren gleicht indes einem Dauerfön. „Ein Heer aus befristeten, leicht auswechselbaren Forschern bedeutet lediglich eine effizientere Produktion, aber nicht mehr Qualität“, sagt Victor Spoormaker, Mitglied des Jungen Kollegs der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, über die Lage an Deutschlands Universitäten. „Nur eine Massen-Produktion ist entstanden.“ So gebe es zwar mehr wissenschaftliche Publikationen, aber der Anteil international hochzitierter Publikationen sei nicht gewachsen. „Länder wie Niederlande, Österreich, Dänemark oder die Schweiz investieren mehr pro Forscher und denken langfristiger: Sie schaffen mehr unbefristete Stellen vor der Professur.“ Und wiesen relativ mehr hochzitierte Publikationen auf. Tatsächlich kennen viele Länder, voran die USA, den Typus des selbständigen Hochschullehrers; in Deutschland fehlt diese Dozentenebene mittlerweile völlig. Uwe Z. beneidet seine amerikanischen ehemaligen Studienfreunde: „Hochschulen geben jemanden ungern ab, wenn dieser die Qualitätskriterien einhält. Sie haben ja bereits in ihn investiert.“ An den deutschen Universitäten dagegen behindern die Bemühungen, eine Folgefinanzierung oder die nächste befristete Stelle zu ergattern, die Forscher an ihrer ursprünglichen Arbeit: der Forschung.

Bleibt die Frage nach dem Sinn. Ein Anruf bei Edelgard Bulmahn, sie hatte als Bundesbildungsministerin die Befristungsregeln initiiert. „Der Schutz der Beschäftigten vor einer Kettenbefristung war mir ein großes Anliegen“, sagt die Sozialdemokratin. War das Gesetz eine Erfolgsgeschichte? Die heutige Abgeordnete holt weit aus. „Grundsätzlich gilt das allgemeine Arbeitsrecht, und dies geht davon aus, dass es unbefristete Anstellungen gibt.“ Sonderregelungen sollten sich nur auf eine bestimmte Phase beziehen, nämlich die der Qualifizierung.

Aber gerade das passiert häufig nicht.

„Nach dem Hochschulrahmengesetz von 2002 war eine befristete Anstellung im Mittelbau ohne Qualifizierungsziel nicht vorgesehen und wäre nicht rechtlich zulässig gewesen.“

Und es geschah doch, auch damals, massenhaft.

Die Frage, ob sie von den Forschungseinrichtungen enttäuscht sei, die damals einen verantwortungsvollen Umgang gelobten, beantwortet Bulmahn nicht. „Dass heute Wissenschaftler nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz befristet werden, obwohl sie keine Qualifizierungsphase durchlaufen, hängt mit der mangelhaften Grundfinanzierung zusammen, hier muss sich dringend etwas ändern.“

Ein Gesetz, hinreichend unscharf formuliert, aber glasklar in seinen Konsequenzen. Die Betroffenen schweigen – oder äußern sich anonymisiert. Manche weigerten sich, in diesem Artikel gar vollkommen unkenntlich ihren Fall zu schildern. Eine Omertà geht um in Deutschland, eine Art des Schweigens wie bei der Mafia. Die Angst vor dem Jobverlust, ein Renegat zu werden. „Wer taub, blind und stumm ist“, sagt ein sizilianisches Sprichwort, „lebt hundert Jahre in Frieden.“ Für Deutschlands Wissenschaftler sind es oft nur zwölf.