Zeitenspiegel Reportagen

Der schönste Schutzengel des Universums

Erschienen in "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 13. November 2014

Von Autor Jan Rübel

Blaue Fische, gruselige Burgen, rollende Köpfe und ein Italien fast nur für Italiener: Wer seinen Familienurlaub in den wilden Marken verbringt, muss sich auf allerhand Abenteuer gefasst machen.

Hätte ich Friedrich Rückert zur Hand gehabt, wäre mir manches erspart geblieben. „Denn nur aufs Ziel sehen verdirbt die Lust am Reisen“ heißt es in seiner „Weisheit des Brahmanen“, aber ich dachte im Zug nur an die Ankunft in unserem frisch erworbenen Häuschen in Italien. Dahin sollte es in den Ferien gehen, mit Musetta, Luca und Lara, zehn, acht und fünf Jahre alt. Mit Ersterer ging es noch am leichtesten, ich steckte sie einfach in einen Korb, nachdem ich von der Ärztin Wohlfühlpillen auf pflanzlicher Basis für sie aufgetrieben hatte. Unsere Katze streckte sich nieder und miaute kein Wort. Schwieriger war es mit den Kindern. Die redeten drauflos und fanden rasch ein Thema, von dem sie nicht ließen: „Warum fliegen wir nicht?“, „Wann sind wir da?“, „Ich kann nicht mehr.“ Kurz, die Weisheit aus dem Japanischen „Schicke das Kind, das du liebst, auf Reisen“ verschweigt, dass solches Tun zeitlichen Bedingungen unterliegt. Ab einer gewissen Länge ist der Spaß vorbei. Für uns geschah das ungefähr auf der Höhe von Jena, zwei Stunden nach unserem Aufbruch.

Der Plan: mit der Eisenbahn von Berlin nach München, meine Frau einsammeln, die dort arbeitet, und am nächsten Tag weiter mit dem Zug bis nach Fano in den Marken, insgesamt 1300 Kilometer zu unserem Haus. Das hatten wir vor einem halben Jahr gekauft, mehr als zweihundert Jahre altes Gemäuer inmitten des Viertels Piatt’lett mit seinen engen Gassen und gedrungenen, buntbemalten Häusern. Über die Zugfahrt gibt es kaum Erhellendes zu berichten. Die Kinder beschlossen an deren Ende, nie wieder mit der Eisenbahn nach Italien zu reisen.

Am Bahnhof empfing uns schließlich die Familie meiner Frau, ihre Eltern, ihre beiden Schwestern und Schwager bildeten einen Konvoi bis zum keinen Kilometer entfernten Centro Storico. Und als wir in die Via Monaldi eintauchten, jene Gasse, die kaum je ein Auto sieht, bestrich die Abendsonne die Mauern mit einem satten Rotgold. Dabei sind die Marken ein Flecken in der italienischen Landschaft, der sein Licht eher unter den Scheffel stellt. Am Meer stehen Städte mit Bauten wie in Florenz, unmittelbar dahinter erstreckt sich eine Hügellandschaft wie in der Toskana. Zum gegrillten Fisch aus der Adria gesellt sich die rustikale Hinterlandküche mit ihrem geschmorten Fleisch, den Hülsenfrüchten und frischem Gemüse. Und dennoch ist zum Beispiel Wein aus den Marken in Deutschland weithin unbekannt, bleiben Touristen in der Toskana stecken oder reisen gleich weiter in den Süden. Die Marken bleiben den Italienern vorbehalten; vor allem Mailänder urlauben dort gern.

Ich hatte mich nie nach eigenem Grund und Boden gesehnt. Ich scheute den Aufwand und möglichen Stress. Aber irgendwann hatten wir es satt, für unseren Familienurlaub in Fano happige Ferienhausmieten zu zahlen. Und dann stolperten wir über ein Häuschen, das der Friseur der Familie verkaufen wollte: ein stiller Innenhof zwischen zwei Gassen, eine Treppe zu Schlafzimmer und Balkon, dicke Holzbalken an den Decken, nur das Surren der Schwalben darüber. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein paar Monate zäher Suche nach einem Kreditgeber, dann wechselten die Schlüssel ihren Besitzer. Einen Namen für das Schmuckstück hatten wir schon vorher gefunden: „Casa Vecchia Fano“ - wegen der Steine aus vergangenen Zeiten und der Ruhe und der Vorstellung, dass in jedem Moment William von Baskerville aus „Der Name der Rose“ um die Ecke reiten könnte. Was wir sonst noch brauchten, besorgten wir uns bei Ikea in Rimini. Schließlich wollten wir das Häuschen auch vermieten, an Touristen und an Zeitarbeiter.

Ganz wichtig war natürlich der Weinvorrat. Mein Schwiegervater ist passionierter Radrennfahrer, er kauft seinen weißen Verdicchio und den roten Rosso Piceno, ein unbehandelter Traum aus Sangiovese und Montepulciano, auf abgelegenen Bauernhöfen in den Hügeln für 1,20 Euro den Liter. Ich werde wohl bis zu meiner Rente darüber grübeln, wie dieser Tropfen unbeschadet nach Deutschland importiert werden könnte. Wer ihn trinkt, braucht jedenfalls keinen anderen.

Also fuhr ich mit dem Schwiegervater und den Kindern am nächsten Tag zu einer Kellerei. Die Kleinen sollten sehen, woher dieser komische Saft der Erwachsenen stammt. Leider verträgt Luca Autofahrten noch schlechter als den ICE, da half auch nicht der kleine Schluck Verdicchio, den ihm Maria, eine stämmige Bäuerin, mit lautem Lachen gönnte. Er erbrach zwischen den Reben. Lara hatte während der einstündigen Tour geschlafen und wollte, einmal angekommen, nicht recht aufwachen. Auch der Regen legte sich auf ihre Laune, kurz, eine Weinprobe bleibt eine Freude nur für Erwachsene. Lara und Luca rächten sich, indem sie uns am Abend zum Besuch beim „Pesce Azzurro“ verpflichteten.

Den „Blauen Fisch“ lieben die Kinder, ein Selbstbedienungsrestaurant am Hafen, betrieben von der Fischerkooperative. Für Erwachsene bedeutet der Ort Genuss frischster Meerestiere in fünf Gängen für dreizehn Euro. Für Kinder offenbart sich in dem zeltartigen Gewusel langer Bänke ein Dorado zum Versteckspielen. Außerdem können sie nach Belieben Wasser aus den Automaten zapfen oder Wein für die Eltern. Kein Wunder, dass sich täglich vorm „Pesce Azzurro“ Warteschlangen bilden.

Wir fanden indes, ein bisschen Kulturluft könne den Kindern nicht schaden. Immerhin gibt es in Fano nicht nur jene Bar, keine hundert Meter von unserer Wohnung entfernt, in der Onkel Aldo immer auf einen Kaffee bereitsteht. Da ist auch der Kleidermarkt auf dem Domplatz aus dem Mittelalter, der Fischmarkt gleich nebenan und das römische Stadttor Arco d’Augusto, die Augusteischen Mauern neben der Burg der Malatesta aus dem 15. Jahrhundert, dazwischen Geschäfte, Cafés und Restaurants. Und inmitten dieser Melange das Stadtmuseum mit seiner Einladung zu einem Husarenritt durch die vielen Epochen Fanos.

Dorthin wollten wir. Die Säle hatten wir für uns allein. Das war gut so, denn mit ehrfurchtsvoller Stille hatten es Lara und Luca nicht, als sie die Faustkeile aus der Steinzeit sahen. Gestenreich kommentierten sie auch ein Bodenmosaik aus römischer Zeit, in dem Neptun ein Gespann aus vier wilden Seepferden steuerte. Die Fahrt wollten sie sogleich lautstark nachspielen, wir intervenierten schockiert, da kam uns ein Gemälde Domenichinos zu Hilfe. Luca hielt an, stand stocksteif da, schaute hoch zu einem Buben mit einem überlangen Schwert. Er hat es ja mit Waffen, kein Rittermarktbesuch ohne den Obolus einiger Taler für ein Holzschwert, aber diesmal zog Luca in den Bann, was der Knabe in seiner linken Hand hielt: einen abgeschlagenen Riesenkopf, und das mit einem beherrscht irren Blick, als stiege Norman Bates aus dem Gemälde herab. Nach einem langen Moment schüttelte sich Luca aus der Starre. „Seid ihr verrückt? Das ist Quälerei! Ich will nie wieder in ein Museum?“

Luca würde auf dem Computer liebend gern Zombies töten, wenn wir ihn ließen. Zart besaitet ist er eigentlich nicht - aber David mit dem Kopf Goliaths war zu viel. Luca strebte gen Ausgang, wir hinterher; Lara schaute immer wieder interessiert zurück auf den Domenichino aus dem beginnenden 17. Jahrhundert. Da fiel unser Augenmerk auf einen Besucher, den einzigen anderen außer uns: Still stand er vor einem Gemälde, faltete die Hände und schluchzte. Die Kinder zupften an meinem Ärmel. „Was tut der da?“, fragten sie. Ich wusste es auch nicht. Das Bild zeigte einen Schutzengel, auf Öl gemalt von Guercino. Sanft hielt er ein Kind fest, es stand auf einem Sarkophag, beide schauten in den Himmel. „Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe“, erklärte uns der Besucher seine Ergriffenheit. Mit dem Bild habe es nämlich eine Bewandtnis: Aus Waco in Texas komme er, lehre Ingenieurswissenschaften an der Baylor University. „Dort gibt es den Fano-Club, und dem darf ich nun beitreten“, strahlte der Mann, ein Hüne mit blonden Haaren über den Ohren.

Er klärte uns auf: 1848 habe der Literaturforscher und Dichter Robert Browning Fano besucht, Guercinos Schutzengel gesehen und ein Gedicht geschrieben. „Darin wünschte er sich, der Engel möge heraustreten und ihn die Welt sehen lassen, wie Gott sie erschuf.“ Er strahlte, als er das sagte. Ein Browning-Forscher wiederum, William Lyon Phelps, habe 1912 mit einer kleinen Reisegruppe Fano und das Museum besucht, Ziel ihrer Mission: der Schutzengel. „Sie gründeten den Club und schickten Postkarten los, um ihren Besuch zu dokumentieren.“ Leider seien die Karten mit der Titanic allesamt untergegangen. Doch noch heute wird nur im Fano Club Mitglied, wer seinen Besuch des Gemäldes im Stadtmuseum mit einer Postkarte aus Fano dokumentiert. Dafür gibt es dann an Brownings Geburtstag kostenlosen Zugang zum jährlichen Dinner in der Armstrong Browning Library. Die Kinder waren beeindruckt, sie wollten auch gleich eine Postkarte nach Texas schicken. Leider verloren wir den Notizzettel, auf den der Ingenieur uns die Adresse geschrieben hatte. Dennoch denken Lara und Luca seitdem, wenn sie das Lied „Cowboy Jim aus Texas“ hören, an Fano.

Ein weiteres Stück ihrer Kinderwelt fanden sie wenige Tage später in der Zelle des Alessandro Graf von Cagliostro auf der Festung San Leo. Dort war der Alchimist, Abenteurer und Hochstapler gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingekerkert worden und auch gestorben. San Leo ist eineinhalb Autostunden von Fano entfernt, und als Luca Cagliostros Geschichte lauschte, während wir im Gängelabyrinth der mittelalterlichen Festung seine Zelle suchten, machte es in ihm Klick. „Den kenne ich doch“, rief er, „von dem hat doch Onkel Dagobert seine Handschuhe.“ Lesen bildet, zweifellos: Im „Lustigen Taschenbuch Nr. 38“ erfuhren wir später, wie Herr Duck von einer Goldsensibilitis kurzfristig mittels der legendären Schutzhandschuhe Cagliostros geheilt wurde. Die Zelle fanden die Kinder übrigens geräumig und gemütlich. Uns Erwachsenen schauderte.

Die Ferien neigten sich dem Ende zu. Traurig verließen wir unser Heim. Die Rückreise kam uns viel kürzer vor. Über diese Erkenntnis hat Friedrich Rückert meines Wissens nicht geschrieben. Und auch kein Weiser Asiens.